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TlIK
OF
PROFESSOR GEORGE S. MORRIS,
Professor in the University,
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PreHeiited to tlie UiiivfrMity of Michigan.
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PHILOSOPHICAL LIBRARY
4
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GESCHICHTE UND KRITIK
DEB
GRUNDBEGRIFFE DER GEGENWART.
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GESCHICHTE UND KRITIK
DER
VON
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RUDOLF, EUCKEN, \ § n c, i V ;
PROFESSOR "in JENA.
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LEIPZIG
VERLAG VON VEIT & COMP.
1878.
'
Druck Yon Fischer A Wittig in Leipzig.
Vorwort.
f..
'^■
5^ Die Begriffe, mit denen wir denken und arbeiten, gehen
^ hervor aus einer bestimmten Stellung zu den Dingen und Auf-
gaben, sie zeigen, welche Probleme uns beschäftigen, und wie wir
diese Probleme behandeln; eine Betrachtung der Begriffe eines
Mannes, einer Richtung, einer Zeit muss uns daher aufklären
können über Strebungen und Leistungen, eine Kritik der BegriflFe
muss zu einer Kritik des Gesammtinhaltes des bewussten geistigen
Lebens werden.
Diese Aufgabe wird aber nicht wohl unternommen werden
können ohne den Versuch, die Begriflfe ihrer geschichtlichen Ge-
staltung und ihrem geschichtlichen Zusammenhange nach zu ver-
stehen, da nur dadurch eine Zurückftthrung des unmittelbar Vor-
liegenden auf seine Quellen und Grundtriebe möglich ist; und
nun führt die Verkettung der Dinge noch den Schritt weiter, dass
wir auch der Gewandung der Begriflfe, dem sprachlichen Ausdruck,
eine gewisse Beachtung zuwenden müssen, denn nur da, wo über
das Verhältniss von Inhalt und Form der Begriflfe Klarheit
VI Vorwort.
herrscht, kann eine zutreffende Würdigung derselben erhoflft
werden.
Gegen den Versuch, eine derartige Betrachtung auf das in
unserer Zeit Vorliegende zu richten, dürften sich weniger der
allgemeinen Tendenz nach Bedenken ergeben, als die Art der
Ausführung auf Schwierigkeiten stösst. Zunächst begrenzen wir
•
die Aufgabe in einer Weise, deren Angreif barkeit wir nicht ver-
kennen. Nicht die Begriffe möchten wir in*s Auge fassen, die jetzt
in der specifisch - philosophischen Arbeit oder gar in den Einzel-
wissenschaften obenan stehen, sondern diejenigen, welche von der
Philosophie und der allgemeinen, wissenschaftliehen Bewegung
ausgehend eine Macht im Gesammtleben geworden sind. Nicht
die Begriffe der Philosophie der Gegenwart, sondern die philo-
sophischen Begriffe der Gegenwart sollen den Gegenstand unserer
Erörterung bilden. Unter Gegenwart aber verstehen wir die letzten
Jahrzehnte, wie sie einmal durch die Reaction gegen die con-
structive und überhaupt systematische Philosophie, dann aber
durch den vorwiegenden Einfluss der Naturwissenschaften bestimmt
sind. Wir betrachten dabei zunächst die Gestaltung innerhalb
der deutschen Geisteswelt, glauben aber von da aus auch ein
weiterreichendes Urtheil gewiimen zu können, da die specifischen
Tendenzen der modernen Wissenschaft sich nirgends so ausge-
prägt darstellen dürften als eben bei den Deutschen.
Aber wie viele Bedenken und Fragen erheben sich, wenn
nun noch weiter die Art unserer Untersuchung rechtfertigt werden
sollte ? Was sind die massgebenden Richtungen unserer Zeit, und
Vorwort vii
nach welchen Zielen hin verbinden sich am meisten Einzelkräfte
zu einer geschichtlichen Gesammtwirkimg? Welche Begriflfe sind
dabei als die leitenden anzusehen ? Wie weit ist ihre Betrachtung
auszudehnen, wo einzuschränken? Kurz, es erheben sich so viele
Fragen, dass wir, um sie nur einigermassen zu beantworten,
zuvor eine Untersuchung über die Art unserer Untersuchung an-
stellen müssten; statt dessen wollen wir uns doch lieber mitten
in die Dinge hineinbegeben, auf die Gefahr hin, dass man hier
etwas vermisse, dort etwas überflüssig finde, tiberall aber uns
eine gewisse Willkür in Auswahl und Behandlung des Stoffes
vorwerfe.
Nur das möge für uns geltend zu machen verstattet sein, '
dass wenn die einzelnen Abschnitte auch unabhängig neben ein-
ander zu stehen scheinen, wir damit nicht auf allen Zusammen-
hang und Fortgang der Untersuchung verzichten wollten ; wo von
vielen einzelnen Punkten ausgegangen wird, braucht deswegen
im Ganzen noch keine Zersplitterung stattzufinden. Im weitem
aber möchten wir bitten, keine Ansprüche an die folgenden Er-
örterungen zu stellen, denen zu genügen sie von vorn herein
sich nicht vermessen. Ein Grenzgebiet der Wissenschaft und des
allgemeinen Lebens zum Gegenstande wählend müssen sie auch
ihrer Form nach eine gewisse Mitte einhalten, das specifisch
Technische musste so weit wie möglich zurücktreten. Dann aber
liegt es an der ganzen Art der Aufgabe, dass die hier angestellte
philosophische Untersuchung zunächst nur zu negativen Ergeb-
nissen führt. Es ist ein Grundgedanke der Arbeit selber, dass
viii Vorwort.
eine positive Behandlung der Begriffe nur im Zusammenhang
einer systematischen Philosophie förderlich stattfinden könne, und
wir haben daher ein gelegentliches Eingehen darauf auch da ver-
mieden, wo die Versuchung recht nahe lag. Man tadle unsere
Begrenzung der Aufgabe, aber man wolle nicht innerhalb ihrer
Behandlung Forderungen erfüllt sehen, die durch jene Begrenzung
ausgeschlossen sind. Wir werden uns der positiven Arbeit nicht
entziehen, erbitten aber für die vorliegenden Untersuchungen die
Gunst des platonischen Wortes: rtccvra rama nQoolfiia ^ctiv
avTOv Tov v6f.iov ov dsi fia^elv.
Inhaltsübersicht.
Seite
Subjectiv — Objectiv l
Erfahrung 28
A priori — angeboren 69
Immanent (kosmisch) 79
Monismus — Dualismus 96
Gesetz ; 115
Entwicklung 132
Causale Grundbegriffe 155
Mechanisch — Organisch 156
Teleologie 169
Cultur 185
Individualität 200
Humanität 216
Eealismus — Idealismus 224
Optimismus — Pessimismus 236
Schlusswort 256
Verzeichniss der behandelten Begriffe und Begriffswörter 266
^
^O^UufvW.f *^'v tf..^-^«-'^' 4.V
i '^ -
trr-
Subjectiv — Objectiv.
Auf die Bewegung, welche die BegriflFe „subjectiv" und
„objectiv" in der neuern Philosophie erfahren haben, deutet schon
die Geschichte der Ausdrücke hin: dieselben haben im Lauf de r
Jah rhunderte ihre Bedeutung geradezu ge wechse lt. *Bei Duns
Scotus, welcher sie zuerst in den vorliegenden Gegensatz ge- ,
Bracht hat*), „hiess subjectivum dasjenige, was sich auf das '.
Subject der Urtheile, also auf die concreten Gegenstände des »
Denkens bezieht; hingegen objectivum jenes, was im blossen j
obicere, d. h. im Vorstelligmachen, liegt und hiemit auf Rechnung \
des Vorstellenden fällt" (s. Prantl, Geschichte der Logik im
Abendlande IIL 208). In diesem Sinne hielten sich die Ausdrücke
unverändert bis zum Beginn der neuen Philosophie, in dem Streit
zwischen Descai:tes und Gassendi findet sich subjective gleich-
bedeutend mit formaliter in se ipsis, objective mit idealiter in
intellectu. Gebräuchlicher freilich war der Gegensatz objective
und formaliter, der noch in der ersten Hälfte des 18. Jahr-
hunderts unangefochten fortbestand. Gegen Ausgang der Scholastik
zeigte sich schon in einzelnen Wendungen ein gewisses Schwanken,
und dieses nimmt nun in dem Masse zu, wie die neuen Gedanken
*) Subjectivus in rein logischer Bedeutung findet sich nach Prantl,
Gesch. d. Logik, L 581 schon bei Appulejus.
Eucken, Geschichte und Kritik. \ ^
2 Subjectiv — Objectiv.
durchbrechen. Bei dem, was man objectiv nennt, lösen sich die
Dinge vom Denken ab und gewinnen für sich Selbstständigkeit,
unter Subjekt aber beginnt man statt des logischen Begriffes
den denken den G eist zu verstehen (s. z. B. Leibnitz, Erdm. Ausic.
645 b : subjectum ou^ Pam e m|mg). Die also innerlich vorbereitete
Verschiebung vollzieht sich aber erst mit dem Uebergange der
Ausdrtlcke in die deutsche Sprache. Um 1730 finde ich die
ersten Beispiele der neuen Bedeutung, z. B. wird in der Ein-
leitung in die philosophische Wissenschaft von A. F. MtlUer (1733)
II. 63 objeetivum mit „an sich und ausser dem Verstände",
formale mit „im Verstände" erklärt, bei A. Baumgarten scheint
schon der neue Gebrauch vorzuherrschen , und Crusius, Lambert,
Tetens verwenden die Ausdrücke ebenso wie wir.*) Aber die
Art, wie dieselben in dem Streit zwischen Lessing und Götze**)
verwandt werden, zeigt deutlich, dass sie noch durchaus als
Schultermini galten, und so dürfen wir sagen, dass sie erst
durch Kant in den allgemeinen Gebrauch eingegangen sinäT Die
neue Bedeutung pflanzte sich zunächst nach Frankreich und
dann nach England fort; in letzterem Lande, wo die mittel-
alterliche Verwendung auch in die lebende Sprache eingedrungen
war***), ward das Neue am längsten als ein fremdes und
schulmässiges empfunden.
Aelter als die Ausdrücke sind natürlich die Begi'iffe, aber
wenn wir ihre Geschichte von der Höhe des Mittelalters aus
rückwärts verfolgen, so müssen wir lange suchen, bis sie uns in
ausgeprägter Gestalt entgegentreten. In der ersten Hälfte des
Mittelalters wie bei den alten Lateinern finden wir nur Um-
*) Nur dass Crusius und Tetens subjectivisch und objectivisch zu
sagen pflegen.
*♦) Die Unterscheidung, welche Götze zwischen dem Glauben, objectiv
und subjectiv genommen, machte, kann auf Baumgarten , deutsche Metaph.,
§ 738, zurückgeführt werden.
***) S. z. B. Berkeley (Ausg. von Fräser, II. 477): Natural phaenomena
are only natural app'^ances. They are, therefore, such as we see and
perceive them. Their aeal and objective nature are, therefore, the same.
Subjectiv — Objectiv. 3
Schreibungen*); erst das spätere griechische Alterthum hat be-
stimmte Bezeichnungen. Indem die Stoiker und andere iTiivosJa&m
und V7iaq%€iv^ x^ax inivoiav und na^vnoaTccaiv {vnaq^tv) ent-
gegenstellen, drtlcken sie einen ähnlichen Gegensatz aus, wie
er in unserm subjectiv und objeetir vorliegt, und es sind auch
die Kämpfe, welche sich an die damit bezeichneten Begriffe
kntlpften, denen neuerer Zeiten nahe verwandt.
Aber auch über jene Ausdrücke reichen die Begriffe selbst
hinaus, sie gehören eben zu denjenigen, welche in jedem philo-
sophischen System, wenn auch in verschiedenen Graden der Klarheit,
vorhanden sein mtissen. Da unser Denken auf den Gewinn
eines bestimmten Erkenntnissinhaltes von Natur aus gerichtet
ist, dieser Inhalt aber erst durch Arbeit und Kampf gewonnen
wird, .so wird tiberall, wo ein Erkennen gesetzt, auch ein Unter-
schied zwischen einem wenigstens für uns letzthin gültigen und
einem nur individuell - empirisch vorhandenen gemacht werden;
aber freilich wird je nach den Theorien von der Erkenntniss die
Fassung dieses Unterschiedes abweichen. So wird z. B. selbst
der Skeptiker nicht umhin können, im Schein ein gemeinsames
von blos individuellem zu sondern**); und der constructive
Philosoph, der die ganze Welt vom Denken aus bilden möchte,
wird darauf bedacht sein, die nothwendigen Processe und Er-
gebnisse des Denkens nicht mit empirisch -zufälligen Gestaltungen
des Einzellebens zu vermengen. Der naiven Weltanschauung
aber wird es sich bei diesem Problem um ein Verhältniss des
Denkens zu einer von ihm unabhängigen Welt handeln, und
da diese Anschauung stets die weiteren Kreise beherrscht, so
/
I
*) So, um nur ein Beispiel anzuführen, hat Scotus Erigena als Gegensatz
de divis. nat. 528a: in nostra contemplatione — in ipsa rernm natura;
492 d: dum in se ipsis naturaliter perspicinntur — in ipso solo rationis
contuitu; 493 d: in rebus naturalibus — sola ratione.
**) Sextns Empir. n^os Xoy. II. 8: ol nBql xov Alyriai&tjfÄoy kiyoval
tiva TvÜy q)ni,vofjtiviav &iaq)OQav, xal (paöl rovruiv xa fjihv Koivtag näffi
(pttivtad-ai xa Si i6i(og xivi, wv «Aiy^^ (xlv dvcti xa xoiyiag naat (faivofxtvri,
\fJ€v&^ df xd fAtj xoiatxa.
V
4 Subjectiv — Objectiv.
darf angenommen werden, dass die Begriffe subjectiv und objectiv
für das allgemeine Bewusstsein erst da Bedeutung gewinnen, wo
zwischen Denken und Welt sich eine Kluft aufgethan hat. Und
dieses hängt im grossen Leben des Ganzen wieder ab von der
Auffassung der Stellung des Menschen in der Welt überhaupt.
Je enger er sich mit dem Gesammtleben verbunden glaubt, je
mehr er sich als Höhepunkt desselben ansieht, desto mehr wird
er auch im Erkennen die Dinge selbst zu ergreifen tiberzeugt
sein, und umgekehrt wird mit jedem Zweifel dort auch hier ein
Schwanken eintreten. So spiegelt der Kampf um Objectivität und
Subjectivität nicht nur das wechselnde Verhältniss von Denken
und Sein, sondern es kommt hier die gesammte Werthschätzung
des menschlichen Lebensinhaltes zum Ausdruck.
Auch die stoische Unterscheidung d^s Objectiven und Sub-
jectiven in der Erkenntniss ist nur die Folge einer gegen die
Blütezeit der Antike veränderten Stellung des Menschen zur Welt,
und es ward der Conflikt nun im Verlauf der Geschichte immer
gewaltiger und die Empfindung davon beherrschte immer mehr das
Bewusstsein, bis alle Freude am Leben und Schaffen zerstört
war. Dann machte freilich noch Plotin den kühnen Versuch,
den Zusammenhang von Welt und Geist dadurch wieder zu ge-
winnen, dass er das Denken schaffend das Sein hervorbringen
Hess, aber die Welt, zu der er damit gelangte, war ihm selber nicht
die unmittelbar vorliegende, sondern eine jenseitige, und wenn
seine Lehre letzthin darauf hinauskommt, dass all jmse r Erkenn eg.
^,\^ t nur zu einem Gleichniss (ßin em olov) der Wahrheit gelange, so
*sr damit zugestanden, dass die Kluft, die überwunden schien,
sich an einer andern Stelle wieder aufthut. Ers t im Chris te nthum.
wo das Leben durch die ethisch-religiöse Bestimmung einen concreten
Inhalt neu erhielt, gewann der Geist im Zusammenhang des
Ganzen wieder ein festes Vertrauen zu sich und seinen Aufgaben.
Aber nun traten sofort andere Gefahren ein. Die Ueberzeugung.
dass das ethische Leben der Menschheit den wesentlichen Inhalt
des Weltgeschehens ausmache und die Geschicke des Universums
bestimme, führte dazu, alles auf jenes Leben unmittelbar zu
Subjectiv — - Objectiv. 5
beziehen und nach praktisch -menschlichen Erwägungen und
Postulaten das ganze Weltbild zu entwerfen. Schon im Systeme
Augustinus zeigen sieh verhängnissvolle Folgen solchen Bestrebens.
Mit Staunenswerther Kunde der menschlichen Natur ist alles
dahin gestaltet, eine möglichst grosse Aufbietung der Kräfte für
die ethisch -religiösen, oft freilich auch nur kirchlichen Zwecke
herbeizuführen, aber ohne Scheu wird dabei menschliches in
universales umgedeutet, werden rein psychische Vorgänge nach
aussen projicirt, wandeln sich Wünsche in Thatsachen, Ahnungen
in Gewissheiten um. Die spätem Denker, denen das theoretische
Interesse und die speculative Kraft Augustinus fehlte, gingen in
der gefahrbringenden Bichtung sorglos weiter, und auch an der
aristotelischen Philosophie, die endlieh zur Ergänzung der Welt-
auffassung herangezogen wurde, fand sich kein wirksames Gegen-
gewicht. Denn nie hat es einen grossen Denker gegeben, der//
von dem Zusammenhange des menschlichen Lebens mit dem
Weltgeschehen und daher auch von der Objectivität unserer Er-
kenntniss so schlechthin überzeugt war wie Aristoteles. Keiner
trug daher weniger Bedenken, die Eigenschaften psychischen
Seins ohne weiteres in die Gesammtwelt hineinzutragen: allen
Dingen ward ein Inneres eingepflanzt, alles Geschehen als aus
einem Streben hervorquellend erklärt, qualitative Unterschiede und
Gegensätze ergriffen die ganze Natur, ein gutes und schlechtes,
normales und anomales, natürliches und gewaltsames schied sich
überall und riss das Zusammenhängende feindlich auseinander.
Demnach verwandelte sich die ganze Mannigfaltigkeit des Seins
in ein Abbild menschlichen Lebens; wohin der Mensch blickte,
fand er sich selbst und blieb demnach, soweit sich auch die
Forschung ausdehnen mochte, überall innerlich in einem ab-
geschlossenen Kreise befangen, und somit in einer Enge, die weit
drückender erscheinen muss, als die äussere Beschränkung des
Welthorizontes, die uns für jene Zeiten als besonders charakteristisch
erscheint.
Der Sinn der neuen Zeit stand demgegenüber nach dem
Weltall, Erkennen und Handeln sollte einen grossem Inhalt
6 Subjectiv — Objectiv.
gewinnen, utfd die Schranken vergangener Zeiten abstreifend
suchte die Menschheit ihr Leben ins Unendliche zu erweitern Das
specifisch Menschliche erschien überall als zu klein, es galt, viel
mehr den Menschen von der Welt, als die Welt vom Menschen aus
zu verstehen. Um statt einer „Anticipation" eine „Interpretation"
der Natur zu erlangen, mussten alle Begriflfe umgestaltet wei:den,
das Mass war künftighin vom Universum zu nehmen und der
Inhalt des .menschlichen Seins war nur insoweit anzuerkennen,
als er die allgemeine Ordnung ausdrückte.*) Sollte sich aber dem
Geist das Weltall kundthun und das Innere der Natur erschliessen,
so musste er freilich alles Willkürliche und Phantastische hinter
sich lassen und sich selbst den grossen Gesetzen des Ganzen
unterwerfen, aber dies geschah doch eben nur, um durch die
Erkeiuntniss Steigerung des Seins und Herrschaft über die Dinge
zu erwerben. Was er also an vermeintlichem Besitz verlor,
erschien verschwindend gegen das zu gewinnende, und so galt es
nun, alle Kraft an die Erfüllung solcher Aufgaben zu setzen.
Und indem dies gelingend geschah, baute sich die neue Wissen-
schaft auf, erweiterten sich die Kräfte der Menschheit, gestaltete
sich das Leben um. Jenes Grundstreben nach einer Berichtigung
der Stellung des Menschen zur Welt bekämpfen, heisst daher die
^ ^ \ neuere Wissenschaft und die aus ihr entspringende Cultur an-
greifen, aber man braucht dies nicht zu thun und kann doch
anerkennen, dass jene Umwälzung eine Erschütterung hervor-
brachte, die auf die Gesammtauffassung zunächst verwirrend und
auflösend wirken musste. Zunächst stellte die mechanische Natur-
^
*) Baco parasceue ad historiam naturalem aphor. IV.; In historia
quam reqairimns et animö destinamns, ante omnia videndum est, ut late
pateat et facta sit ad mensnram universi. Neque enim arctandus est mnndns
ad angustias inteliectiis (quod adhuc factum est) sed expandenduB inteilectus
et laxandns ad mundi imaginem recipiendam , qualis invenitur. — Spinoza
tract. theol. pol. cp. XYI. 10: Natura non legibus humanae rationis, quae
non nisi hominum veram utile et conservationem intendunt, intercluditur,
sed iniinitis aliis, quae totius naturae, cujus homo particula est, aeternum
ordinem respiciunt. ^^
Subjectiv — Objectiv. 7
Philosophie den Unterschied zwischen den Eigenschaften, welche
die Erscheinungen dem Forscher, und denen, welche sie der
unmittelbaren Empfindjing bieten, vollständig klar heraus. Was
im Grunde schon Demokrit behauptet hatte, fand jetzt durch
Cai-tesius exacte Bestätigung, die specifischen Qualitäten der Dinge
mussten sich vor den Ergebnissen der Naturforschung in das
Gebiet des Innenlebens zurückziehen und nur Massen und Be-
wegungen blieben letzthin übrig.*) Indem also erkannt wird,
dass wir zum guten Theil die Welt selbst leiden, die uns als eine
objective entgegenzutreten scheint, wird sowohl der Glaube an die
Wahrheit des im Bewusstsein überhaupt Vorliegenden erschüttert,
als auch der Inhalt des geistigen Lebens von der Welt losgelöst.
Und auch das geistige Leben selber ward Gegenstand der
Kritik. Auch hier galt es, Thatsachen und Deutungen, reale und
imaginäre Kräfte zu scheiden, um alsdann zu durchgehenden
Gesetzen vorzudringen, welche mit der eausalen Erkenntniss des
psychischen Getriebes zugleich eine Herrschaft über dasselbe
ermöglichten. Wenn aber hier die hervorragendsten tlieoretischen
Köpfe den zunächst vorliegenden Bestand nur deswegen angriffen,
lun die iGrundkräfte rein hervortreten zu lassen, so ging der
einmal angeregte Zweifel im allgemeinen Leben weiter- Prag-
matische Psychologen wiesen darauf hin, wie sehr das Bild, das
der Mensch von sich selbst entwerfe, von dem, was wirklich in
ihm vorgehe, abweiche. Ein Mann wie Pierre Bayle suchte zu
zeigen, wie gering im Grunde der Einflüss derjenigen geistigen
Bestrebungen sei, die man als leitend hinzustellen liebe, wie
wenig auch selbst die in gutem Glauben vertretenen Sätze eine
wirkliche Ueberzeugung ausdrückten. Er zuerst sprach das in
neuerer Zeit bis zum Ueberdruss wiederholte Wort aus, dass
die Menschen nur zu glauben glauben.**) Andere Männer, bei
*) Boyle (nicht Locke) war der erste, welcher den scholastlBchen
Ausdruck „primäre und secundäre Qualitl^ten*' auf die neue Unterscheidung
übertrug.
**) S. den überhaupt für die vorliegende Frage höchst beachtens- ^
werthen Artikel Socin. Im 18. Jahrhundert hat Lichtenberg, und zwar
8 Subjectiv — Objectiv.
denen gleichfalls die scharfsinnige Analyse des Einzelnen eine
zusammenbildende Erkenntniss des Ganzen zurückdrängte, und
zwar namentlich Franzosen, schlössen sich derartigen Bestrebungen
an ; immer mehr erweiterte sich die Kluft zwischen der unmittel-
baren Vorstellung und dem, was man als real gelten liess; als
dieses letztere stellten sich, wie es schien, mehr und mehr rein
nattlrliche Triebe heraus, wenig geeignet, den Geist zu irgend
einer bevorzugten Stellung im Weltganzen zu berechtigen. Selbst
die Gegner einer solchen Richtung zeigen sich vom Zweifel
ergriffen und sind daher zu einem siegreichen Widerstände wenig-
befähigt*)
Die Stellung des Geistes in der Gesammtwelt neu zu unter-
suchen war ohne Frage Aufgabe der Philosophie, aber wir sehen
hier die Systeme sich von Anfang an .scheiden und bis zu Gegen-
sätzen auseinandergehen. Bei Baco, dem durchgehend die Natur
das Bild der Gesammtwelt bestimmt, deutet sich schon die Neigung
an, das specifisch Geistige als etwas ausserhalb des Weltgeschehens
Liegendes zu fassen; einigermassen verwandt damit sehen wir
spätere englische Denker beflissen, das Gebiet des Geistes als ein
für sich abgeschlossenes und der Welt gegenüber relativ selbst-
ständiges zu behandeln. Man verzichtet hier auf den Zusammen-
hang mit deffi Ganzen, um das Besondere in seinem Gebiete
nicht zu gefährden. Die speculativen Denker des Continents gingen
über eine solche Einschränkung hinaus; vor allen glauben Spinoza
und Leibnitz auf eine enge Verbindung von Geist und Gesammt-
welt nicht verzichten zu dürfen. Aber bei Spinoza fällt Tendenz
und Ausführung klaffend auseinander. Von vom herein möchte
er freilich dem Geiste als einem Attribute der unendlichen Sub-
stanz Bedeutung und Bestand sichern, aber indem er in der Aus-
führung demselben allen Inhalt von aussen kommen lässt und
scheinbar unabhängig von Bayle, jene Sentenz vertreten, s. verm.
Schriften, I, 15S.
*) Pascal pensees art. XXV. 46: L'un dit que mon sentiment est fan-
taisie; l'antre que sa fantaisie est sentiment. II faudrait avoir une r^gle.
La raison s*offre ; mais eile est pliable ä tous sens, et ainsi il n'y en a point.
Subjectiv — Objectiv. 9
seinem Leben nur so viel Realität zuschreibt, als es das Aeussere
spiegelt, muss er alle ihm speeifischen Lebensformen, wie die
Werthbestimmungen , die Zwecke u. s. w., als Truggebilde be-
kämpfen, und ihn schliesslich zu einer blossen Form herabsetzen.
Die geistig e Welt Spinoza's ist nichts anderes als ii ^ lu'fi Rewi-iffst-
sem gebrachte materielle, die Seele ist das Körperliche als Vor-
s tellung aq g^esehen^ und so ist in dieser angeblichen Versöhnung
das eine dem andern aufgeopfert. Leibni tz erkannte das klar und
versuchte einen andern Weg. Für ihn Var der Gedanke mass-
gebend, dass alles Mannigfaltige in der Welt letzthin auf ver-
schiedene Grade ein und derselben Kraft hinauskomme, und dass
daher von einem jeden aus das Ganze zu begreifen sei. Ist
daher der Geist eine solche Stufe in dem Weltgeschehen, so kann
von ihm aus, wenn er auf das Wesentliche zurückgeführt wird,
alles andere verstanden und zugleich er selbst rechtfertigt werden ;
tiberall in der Welt findet er sich selbst wieder und kann im
Denken den engsten Zusammenhang zwischen sich und dem
Universum herstellen. Aber freilich musste zu dem Zwecke alles
Specifische abgestreift werden, und so ging, was an Umfang ge-
wonnen wurde, an Inhalt verloren : ja di e Grundkraft Leibnitze ns,
die Vorstellung, ist nicht mehr ein psychologischer, sondern ein
ontologischer Begriff ( Verbindung der Vielheit in einer Einheit),
und es wird daher am Ende auch hier- das specifisch Geistige
dem Ganzen geopfert.
liehen wir demnach die^ hervorragendsten Denker zwischen
dem Dilemma, entweder das Geistige zu isoliren oder seine Eigen-
thümlichkeit preiszugeben, so war es kein Wunder, wenn durch
die Versuche der Ueberbrtickung die Kluft nur erweitert und das
Problem drängender wurde, bis durch Kant eine neue Wendung
eintrat. Vor allem war bei ihm der Gegensatz des Subjectiven
und Objectiven aufs schärfste bestimmt, tiberall wurden feste
Kriterien aufgestellt, um beides zu scheiden, und diese Scheidung
erschien so sehr als die Hauptaufgabe der Philosophie, dass die
ganze Denkarbeit, die zeither entweder vorwiegend metaphysisch
oder psychologisch gewesen war, nun recht eigentlich der Er-
10 Subjectiv — • Objectiv.
kenntnisslehre zugewandt wurde. Nicht mit Unrecht meint Lichten-
berg, di e Verhältn isse des Subjectiven gegen das Objectiv e be-
fitimynf^Ti ^ Ha« hM^at^. mit kfl.TitiRf»t}if>.Tft (^ftiftfg^jJAr^^ *\ Aber CS
ist bekannt, wie wenig der eigne positive LosungSVersuch ab-
schliessend befriedigte. Eben in der entscheidenden Frage Hess
sich ein Zwiespalt nicht verkennen. War einmal der G^ist gegen
die Welt vollständig abgeschlossen, ohne Mittel über den eignen
Kreis hinaus in sie einzudringen, so trat er andererseits be-
stimmend vor sie und Hess ein eignes Reich aus sich hervorgehen.
Was mit der einen Hand genommen war, ward so mit der andern
wiedergegeben, und je nachdem man von der theoretischen oder
der praktischen Vernunft ausging, sah man sich auf eine ganz
entgegengesetzte Werthschätzung hingewiesen. Das Streben, diesen
Gegensatz zu tiberwinden, ward ftir die weitere Gestaltung
entscheidend. Die constructiven Denker wollten die der praktischen
Vernunft vorbehaltenen Rechte der Vernunft überhaupt zuerkennen
und demnach alles Sein von ihr aus entstehen lassen. Dann aber
musste die Vernunft natürlich nicht als empirische und individuelle
(subjective), sondern als absolute und universale (objective)**) be-
griffen werden, und das ist oft von jenen hervorgehoben, aber
über die Frage, wie man denn zu einem solchen Begriff gelange
und ihn gegen Störungen und Angriffe sichere, sind sie sehr
leicht hinweggegangen; statt der besonnenen Analyse der früheren
finden wir hier kühne Sprünge, einen „freiien Schwung" des
Denkens, der geniale Einzelleistungen hervorbringen, nicht aber
verhindern konnte, dass in die reinen Denkförmen sich zufällig
Empirisches mischte und wieder specifisch Menschliches in das
Bild der Welt eindrang.
So musste einem solchen Versuche, das grosse Problem zu
lösen, rasch ein Rückschlag folgen, und mit ihm stehen wir in
der Gegenwart, deren Lage sich also einfach aus dem geschicht-
*) S. vermischte Schriften I, tOl.
**) Den Ausdrack „objective Vernunft* hat schon Jacobi, s. Hume,
S. 194.
Subjectiv — Objectiv.
11
liehen Gange verstehen lässt. Ein für das gesammte Geistesleben
der Neuzeit hochbedeutendes, ja entscheidendes Problem sehen wir
auf den schärfsten Ausdruck gebracht und dadurch bis zur Uner-
träglichkeit gesteigert. Eine durchgreifende Lösung wird muthig
unternommen und sie sucht auf alle Gebiete Einfluss zu gewinnen,
aber rasch tritt die Katastrophe ein: das Einseitige, Unbe-
friedigende, Verfehlte wird mehr in den Consequenzen empfunden
als principiell nachgewiesen, aber die Gegenbewegung hat die
Zustimmung der gesammten exactwissenschaftlichen Arbeit für sich,
sie scheint in der Kritik der reinen Vernunft eine philosophische
Stütze zu finden, und, was mehr bedeutet als das alles, sie
entspricht dem Zuge des allgemeinen Lebens, flir welches die
Kluft zwischen G«ist und Welt, trotz aller philosophischen und
anderen Gegenarbeit, sich immer mehr erweitert hatte.
So wirken jetzt mannigartige Grtlnde, dauernde und vorüber-
gehende, zur Begünstigung einer geistigen Strömung, welche Er-
kennen und Leben der Menschheit vom Weltgeschehen loslösen
möchte und es daher als eine hervorragende- Aufgabe wissen-
schaftlicher Forschung ansieht, überall den Gegensatz des Subjec-
tiven und Objectiven hervorzukehren. Wie Verschiedenartiges
aber in dieser Strömung zusammen^ht^ das .zeigt schon der
heutige Sprachgebrauch. Zunächst steht natürlich bei subjectiv
und objectiv ein Verhältniss von Auffassung und Gegenstand vor
Augen, aber ba ld wird daruntpir die Stpll^i ^g des einzelnen In-
(^ividininiR 7iir (^^^f^niTntihftit der TTrthp.ilftTifleTi ^ b ald^dje der
specifisch - menschlichen Wftlt5i.TiRf>.]|fl.niiTig' zu df>^ r^^it^m RpgplisiffftTi,
h eiten der Din ge, bal d endlich die des Denkens zum Rpiyi ffberhaup t
v erstäna en. D ann abe r — un d das ist besonflers chf^yftl^ t f jjfi^isp.h —
w ird der Gebrauch dahin erweitert dass alles ^ was überhaupt in
ei^em geistigen Wesen gesetzt ist^ als subjectiv bezeichnet wir d.
Jnd JiDeraii ist man da bei ^nei^t, das Subje ctive de na T^ j^ginarftii^
das Objective dem Realen ohne weiteres gleichzustellen. Die
verschiedenen liedeutuiigen's^pielen'^daBer^man ineinander,
so dass es auch in der folgenden Betrachtung gelegentlich
nothwendig sein wird, an die engere Bedeutung zu erinnern. Diese
12 Subjectiv — Objectiv.
Betrachtung will aber die vorliegende Frage nicht irgendwie positiv
erörtern, da ein solches nur im Zusammenhange einer systematisch -
philosophischen Untersuchung unternommen werden kann, sie
möchte nur auf die heute vorherrschenden Auffassungen einen
kritischen Blick werfen und namentlich fragen, ob das, was bald
als selbstverständlich, bald als werthvolles Ergebniss neuerer
Forschung hingestellt wird, nicht manchmal nur Folge sehr zweifel-
hafter dogmatischer Voraussetzungen ist.
Zunächst wendet sich der Subjectivismus gegen die Mög-
lichkeit irgend welcher sichern adäquaten Erkenntniss. Da wir,
wie er meint, was wir auch unternehmen mögen, immer und immer
in dem Kreise unserer Vorstellungen befangen bleiben, und es
uns unmöglich ist, auf einen Standpunkt zu treten, der Subject
und Object zu vergleichen gestattet, so sind wir ein für allemal von
einer Erkenntniss der Dinge, sei es dass sie aussen, sei es dass
sie in uns liegen, ausgeschlossen. Um einen solchen Satz zu
vertheidigen, wird selbst der Schatten Rant's heraufbeschworen, als
hätte man eine solche Einsicht nicht schon von den alten
Sophisten*) entlehnen und bei Sextus dem Empiriker scharfsinnig
und eindringend vertheidigt finden können. Nicht dass Kant
jenen Satz aufstellte, sondern wie er ihn begründete, durchführte
und im Zusammenhang des Systemes ergänzte, macht seine Be-
deutung aus; was aber für ihn nur ein Moment im Ganzen und
keineswegs letzter Ruhepunkt war, wird nun als Endergebniss
der Philosophie und als Summe aller Weisheit gepriesen. Und
doch beruht jene ganze Lehre einfach auf einer dogiuatischen
und für die neuere Philosophie geradezu unwissenscbaftllcBen
Fassung* des Begriffes der Wahrheit. ' Die WährTieit gilt hier als
Uebereinstimmuhg des erkennenden Denkens mit Gegenständen,
die unabhängig von ihm vorhanden sind; das Erkennen kommt
auf ein Abspiegeln des draussen Liegenden hinaus, wobei dann
freilich nicht festzustellen ist, wie weit das Spiegelbild zutrifft.
*) .Goi'gias (s. Mullach frg. 16): ro filv slycu aapavig, fjiri tv^ov tov
doxsly t6 &€ doxeTv aad^ivig, firi rv^ov tov ilvca.
Subjectiv — Objectiv.
13
Aber n un erhebt sich doch sofort die Frage, wodurch denn das I
DjBTik f.Ti ji|iftr}iii.iipt znr Annah m e ^^in^>R von ihm nnabhänp[ig:en Seins
VntujmL Doch wohl, Wenn man sich nicht einfach auf das Weltbild
der naiven Vorstellung berufen will, aus Motiven, die es in sich
und seiner Thätigkeit findet; und wenn dies angenommen wird,
so ist auch jene Bestimmung der Wahrheit erschüttert. Auch die
geschichtliche Betrachtung zeigt, dass sie jener Stufe des Denkens
angehört, wo es sich gegenüber dem Weltbilde des psychischen
Mechanismus noch nicht zur Selbstständigkeit herausgearbeitet
hat. Bei Aristoteles mag sie dem gesammten System entsprechen,
während aller Zeiten mag sie immer wieder bei einem Zurück-
sinken sich in die wissenschaftliche Arbeit einschleichen, aber schon
fttr die Neuplatoniker, femer für die bedeutenderen Denker des A
Mittelalters und namentlich für alle hervorragenden systematischen \
Philosophen der Neuzeit galt es als ausgemacht, d ass die Er - K
kenntniss n icht als ein blosses Aufnehme n und Abspiegeln, sondern \j
als eine innere inätigkeit anzusehen sel."*^ ) Mögen sie darin aus- f
einander gehen, class die einen diese Thätigkeit neben die Welt
stellen und von dieser Anstoss und Elemente verlangen, die
andern dagegen die Welt aus dem Denken hervorgehen lassen:
dass es sich im Erkennen um ein Innerliches handle und daher
seine Kriterien in das Denken selbst hineinfallen, das ist ge-
meinsame Annahme aller derer, die eine selbstständige Aufgabe >
der Philosophie festhielten. Der deutsche Idealismus aber, in
Hegel gipfelnd, hat in grossartiger Weise den Gedanken durchge-
führt, Hggg ^gy p^<>fi|^,|yn|^fa ^egciisatz dcs SubJectes und Objecte s f
e rst in der denkenden Thätigkeit entstehe , u^ddass es ein Zwang \
des Denkens selber ist, welcher eine Welt dem Subiect ffesren-
üb erstellt, nich t eine von a ussen eindringende sinnliche Macht, eine
Npth wend igkeit gegen das Denken.
Der Skepticismus , welcher sich dem entgegenstellt, befindet
sich in einer unhaltbaren Mitte zwischen dem Weltbilde des
*) Schon Duns Scotus, der bedeutendste Denker des Mittelalters,
nannte das Erkennen einen actus immanens.
14
Subjectiv — Objecti^.
gemeinen Verstandes und dem einer systematisch - Wissenschaft-
fliehen Philosophie. Jenem entnimmt er die Vorstellung, dass
I das Erkennen an ein von ihm unabhängiges und fertig gegebenes
ISein hinantrete, dazu aber ist durch die wissenschaftliche Arbeit
/ der Gegensatz zwischen Subject und Object zum klaren Bewusst-
/ sein gelangt, und nun wird das Problem der Objectivität der
I Erkenntniss, das von vom herein zusammen mit dem Wesen
f denkender Thätigkeit zu erörtern war, nachträglich aufgenommen
und behandelt. Dass aber, nachdem das Erkennen lediglich
Yom Aeussem abhängig gemacht ist, die Antwort nicht anders
als im Sinne des Skepticismus ausfallen kann, ist nicht eben
wunderbar, man erschliesst, was man in die Dinge hineingelegt
hat. Diese V ermengun^: des Weltbildes zwei versch ie dener Stan d-
punkte ist selbst in die einzelnen Begriffe eingedrungen und hat
auch dahin Verwirrung gebracht, wo man den Skepticismus
principiell ablehnen möchte, n^r Rp-p^rifif dfir F^fl^liftiT^iigg soll
einmal einfach die Objecto des Denkens ohne alle Sehätzung ihres
metaphysischen Werthes ausdrücken, dann aber bezeichnet er auch
die Bilder, welche die draussen liegenden Dinge in uns hervor-
rufen, und wird dadurch Werkzeug einer speoifischen und zwar
durchaus dogmatischen Theorie von der Stellung des Geistes zur
Welt. Wenn nun durch di ^fipn D^pp^^°inu fl*»i>^g<^J|^^^'*^^^
Kant und Herbart sich zu F ehlschltisse n verleiten Hessen, so
über mannigfache Missverständnisse von"^eute
tirfen wir uns
nicht wundem. Mancher Forscher bildet im Denken die sinnlich
gegebene Welt zu einer intelligiblen um, aber er vergisst, dass
in dem Masse, als diese Umbildung fortschreitet, die ursprüngliche
/ Fassung zerstört wird. Es bleibt das Sinnliche neben dem wissen-
schaftlich-philosophischen Weltbilde als ein thatsächliches liegen,
und es entstehen zwei Welten, wo es sich doch nur um zwei Arten,
vielleicht Stufen, der Auffassung ein und derselben Welt handelt. —
Gegenüber dem Zweifel aber, welcher der Thätigkeit des Denkens
von vom herein nichts zutrauen will, ist auf die Arbeit der
Wissenschaft selbst zu verweisen, wo allein er Erledigung finden
kann; jedenfalls sollen wir uns nicht durch dogmatische Voraus-
Subjectiv — Objectiv. 15
Setzungen und unklare Begriffe zu jenen vagen Zweifeln bringen
lassen, die durch Gründe nicht widerlegt werden können, weil
sie durch keine Gründe gestützt sind.
Aber freilich entspringt auch hier der theoretische Zweifel
letzthin einer Unsicherheit über die Stellung des Menschen im
Weltall überhaupt, und so müssen wir die einzelnen Punkte,
die dafür in Betracht kommen, etwas näher in's Auge fassen. —
Zunächst gilt unser Bild von der specifischen Beschaffenheit der
Aussenwelt als subjectiv in dem Sinne, dass es über das innere
Leben des Menschen hinaus keine Bealität besitze. Indem der
Naturforscher, wie wir sahen, hier scharf zwischen dem scheidet,
was wir in Folge specifischer Organisation gestalten, und dem-
jenigen , was sich der wissenschaftlichen Forschung als letztes
bietet, ergibt sich, dass lediglich Massen und Bewegungen ein e
o biective Welt bild en^ während alles andere der Sphäre des Subjects
angehört. Der Philosoph wird, bei sonstiger Zustimmung, hier
nur daran zu erinnern sich gestatten, dass auch das, was also
dem Naturforscher als objective Welt gilt, unter die allgemeinen
Bedingungen geistiger Auffassung fällt und daher für die Philo-
sophie einer neuen Prüfung bedarf. Auch ^aterie und Bewegung
setzen geistige Thätigkeij; voraus und können daher nicht dem
GeistgegfiaJllfe^r als das letzt e Wesen der Din ge hingestellt
werden ; die objective Welt des Naturforschers ist demnach für
den Philosophen nur ein bestimmtes System von Erscheinungen,
die sich durch Festigkeit auszeichnen, aber nirgends die Beziehung
auf den Geist und damit auch die Abhängigkeit von ihm verkennen
lassen. Freilich ist die Kluft zwischen diesen Erscheinungen
und den Empfindungsqualitäten eine unermessliche , aber ganz
abgesehen davon, dass das empfindende Bewusstsein doch auch
zur Welt gehört und im causalen Zusammenhange des Ganzen
steht, weswegen etwas in ihm gesetzmässig Vorgehendes nicht
als ein imaginäres bei Seite gestellt werden darf, so könnte, wie
der eine aus dieser Differenz auf eine isolirte Stellung des be-
wussten Lebens schliesst, ebenso ein anderer folgern, dass letzthin
(las Wesen der Dinge wohl noch anders bestimmt sein müsse
16
Subjectiv — Objectiv.
/
f
V
als es sich in den bewegten Massen darstellt, und es würde so
je nach dem Zusammenhange, in den man die Daten bringt, ein
ganz verschiedenes Ergebniss herauskommen.
Noch tiefer dringt der Zweifel in die Auffassung des specifisch-
geistigen Lebens selber ein. Hier, wo nicht die innem Phänomene
an äussern ihre Stütze finden, scheint eine regellose Mannig-
faltigkeit wie ein, stetes Fliessen der Gestaltungen eine streng
wissenschaftliche Begreifung auszuschliessen, und so wird das
ganze Gebiet in dem Sinne für subjectiv erklärt, dass hier nur
individuelle Ansichten, nicht aber allgemein gültige Erkenntnisse
möglich seien. — Gewiss ist hier der Unterschied von den Er-
/ scheinungen der Aussenwelt einleuchtend, aber es fragt sich, ob
jenes verwerfende Urtheil nicht eben daher rülirt, dass man
trotz desselben die rein psychischen Erscheinungen nach einem
Massstabe beurtheilt, der sich allein für die physischen bewährt hat.
Die einzelnen Phänomene werden sogar oft aufgenommen, so
wie sie sich eben bieten, das eine wird zum andern gehäuft,
und nun erwartet man, dass ein Gesetz hervorspringe und
das Zerstreute rasch zu einem Ganzen zusammenschiesse. Statt
dessen beharren die Unterschiede und steigein sich zu Gegensätzen,
die Richtungen scheinen gerade auseinander zu führen, die Ge-
staltungen verschiedener Zeiten lassen den Zusammenhang vermissen,
und da demgegenüber ein gemeinsames und wesentliches sicli
nicht herausarbeiten kann, so wird das Urtheil über das Ganze
gesprochen. Aber es ist noch nicht gesagt, dass endgültig zu
verwerfen sei,, was nicht so aufgenommen werden kann, wie
es sich zunächst gibt. Wenn schon auf naturwissenschaftlichem
Gebiet die Erscheinungen umgestaltet werden müssen, ehe sie der
wissenschaftlichen Forschung Ansatzpunkte gewähren, so gilt das
noch weit mehr vom Geistesleben, da hier die Aeusserungen oft
nur eine entfernte und umgebildete Folge des eigentlichen Ge-
schehens sind. Dazu sind wesentliche Unterschiede nicht zu
leugnen. Einmal ist das Verhältniss des Einzelnen zum Ganzen
hier ein anderes als dort. Das Einzelne hat eine weit grössere
Selbstständigkeit und kann daher nicht einfach als Ausdruck des
Subjectiv — Objectiv. 17
Allgemeinen begriffen und verhältnissmässig leicht in ein durch-
gehendes Gesetz befasst werden; ebenso wenig aber kann es für
sich allein behandelt werden, da es immer in Verbindungen steht
und auf den Zusammenhang des Ganzen hinweist. Aus einer
solchen Sachlage erwachsen Aufgaben, die fast eine künstlerische
Tliätigkeit neben der wissenschaftlichen zu erfordern scheinen.
Dazu kommt, dass im geistigen Leben nicht ein System gleich-
massig beharrender Kräfte, sondeni ein werdendes und im
Werden sich gestaltendes vorliegt. Treten hier die einzelnen
Ergebnisse unausgeglichen neben einander, so ist ein. Chaos un-
vermeidlich; während sobald die Forschung sich den treibenden
Mächten und den Innern Zusammenhängen zuwendet, sehr wolil
über allen Unterschieden sich einheitliche Ziele und durchgehende
Grundformen herausstellen könnten, sich in scheinbar regellosen
Gescliehnissen fortschreitende Gestaltungen erkennen lassen, die
verschiedenen Richtungen in ihrem Verlauf sicli als in der An-
näherung begriffen zeigen, und selbst das scheinbar feindliche der
Zurückflihrung auf verschiedene Punkte in der Gesammtbewegung
nicht widerstrebt. Wenn z. B. auf dem Gebiet der Etliik die
einzelnen losgerissenen Phänomene nebeneinander gestellt werden,
so ist es ein leichtes, Widersprüche nachzuweisen und daraus die
Zufälligkeit der moralischen Strebungen, Urtheile und Empfindungen
überhaupt zu erhärten. Jedoch zunächst ist das schon ein festes,
dass überhaupt solche Thätigkeiten stattfinden, und vor dem Streit
über das Was ist das Dass als ein gemeinsames anzuerkennen, dann
aber wird auch der besondere Inhalt in dem Masse aufhören
unverständlich zu sein, als das Einzelne zum Ganzen verbunden
wird und der Augenblick innerhalb der gesammten geschichtlichen
Bewegung seine Würdigung findet. Dabei mag bei der Schwierig-
keit der Aufgabe zunächst ein weiter Spielraum für die Willkür
individueller Auffassung bleiben, aber eine solche Unsicherheit
hat doch ihren ersten Grund niclit in der Saclie, sondern in unserer
Stellung zu ihr und darf niclit von vorn lierein die Werthschätzung
jener beeinträchtigen.*) Wollte man überall, wo verschiedene
♦) S. Leibnitz, 31 4a: notre incertitude ne fait rien ä la nature des choses,
Eucken, Geschichte und Kritik. 2
18 Subjectiv — Objectiv.
Auffassungen möglich sind, an einer objectiven wissenschaftlichen
Erkenntniss verzweifeln und da, wo sich nicht dem ersten Blick
ein Gesetz kundthut, subjectiver Willkür das Feld überlassen,
so würde die gesammte wissenschaftliche Aufgabe aufs schwerste
beeinträchtigt.*) Die Folge wäre natürlich, dass ganze Gebiete
von eminenter Bedeutung dem Einfluss wissenschaftlicher Er-
kenntniss entzogen würden, und das ist ebenso bequem für die
Individuen als gefährlich für die Sache. Nichts wegzuwerfen
sollte der Grundsatz der Forschung sein.
Noch . verkehrter aber ist es , die Gegensätze unserer Be-
handlung in die Wissenschaft selbst als feste Bestimmungen
hineinzutragen und ganze Disciplinen deshalb zu „subjectiven"
herabzusetzen, weil wegen der Schwierigkeit der Probleme und
der Abhängigkeit des Einzelnen von der Gesammtuntersuchung"
hier Ansichten und Theorien zunächst auseinandergehen. Dass
gewisse Gebiete ohne Rücksicht auf die letzten Fragen behandelt
werden können, bringt sicherlich manche Vortheile, aber doch
nur insoweit, als sie eben gesondert und ohne Beziehung auf
die Gesammterkenntniss betrachtet werden. Sobald man darüber
hinaus geht, wird das Besondere in das Schicksal des Ganzen
verflochten, und namentlich muss die Gefährdung der Philosophie
als der grundlegenden Wissenschaft auf die Werthschätzung der
Ergebnisse der andern Wissenschaften zurückwirken. So stellt
sich das Rühmen der Sicherheit einzelner Gebiete gegenüber der
Philosophie im Grunde als ein Verzichten auf das Erkennen im
\ Wissen dar, und die Freude an einer solchen Objectivität geht
/ aus einer Auffassung hervor, die sich vielleicht für einen Hand-
langer, nicht aber für einen Baumeister ziemt. Kijjz diV. Sf>hfii^^ing'
in o bjective u nd sjibjective Disciplinen ist^zu j^erwerfen ; wohl
sribt es verschiedene Methoden unSTverschiedene Stufen der Ge-
*) S. Kepler, op. I, 243: Si absurdum et falsum id ceuseri debet,
quod uni alicui hominura coetui tale videtur, nihil erit in tota physiologia,
quod ;non pro crassissimo absurde haberi debet. Variae sunt hominum
sententiae, varii captus ingeniorum. — Quid autem ex bis verum sit, quid
falsum, penes vere philosophum est decernere.
Subjectiv — Objectiv. 19
wissheit des Erkennens , wohl kann man zunächst einzelnes für
sich absondern, aber letzthin ist der K^^pf ^ff\ ^jpi Wahrheit mm
iremein ^amer und damit ist auch die Gefahr dieses Kampfes
gemeinsam.
Das entscheidende Problem aber, das im Grunde die voran-
gehenden einschliesst, ist das der Realität und der Bedeutung
des geistigen Lebens überhaupt; hier hat der Zweifel seinen
Ursprung, der dort zum Ausdruck gelangt. Nun aber ist die
selbstständige Subsistenz des geistigen Lebens in neuerer Zeit,
wenn wir von dem ganz rohen Materialismus, als einer unter-
und ausserhalb aller philosophischen Forschung befindlichen Lehre,
absehen, namentlich durch zwei Strömungen in Frage gestellt,
eine naturwissenschaftliche, die von Baco ausgeht, und eine
philosopliische , welche sich auf Spinoza berufen kann. Die
Anhänger jener nehmen ihren Standpunkt in der Natur, deren
Erforschung ihr ganzes Streben einnimmt. Hier erscheint das
Geistige als ein draussen liegendes, fernzuhaltendes und dann
auch bald als ein wesenloses und nichtiges ; der ganze specifische
Inhalt des geistigen Lebens wird zu einer Art Illusion erniedrigt,
ja manchmal sieht es fast aus, als hätten kluge Gesetzgeber
oder gar spiritualistisch gesinnte Denker jenes ganze Gebiet
scheinbar selbstständiger geistiger Thätigkeit erfunden und den
andern eingeredet. Solche Meinungen können freilich nur da sich
halten, wo die Natur der Welt und die Naturwissenschaft der
Pliilosophie einfach gleich gilt; wo immer Blick und Aufgabe
sich erweitern, wird das specifisch Geistige als ein zur Welt
gehöriges Anerkennung finden müssen. Denn dadurch, dass etwas
im Geist gegeben, ist es auch im Universum gegeben und somit
gegen einen einfach verwerfenden Machtspruch geschützt. Man
mag die Welt begreifen wie man will, sobald mit dem Gedanken
eines durchgehenden Causal zusamm enhanges Ernst gemacht wird, r (^^T'^'^
muss der Geist in den Bau des Ganzen aufgenommen werden;^ ^r»^''^ *
und bei seiner Auffassung mit in Anschlag- kommen. Selbst wenn
er nur als Erzeugniss physischer Kräfte anzusehen wäre, so kann
doch ein solches nicht plötzlich und unvermittelt, wie ein deus
2*
20
Subjecriv — Objectiv.
I
ex macliina, hervortreten, sondern die Grimdkräfte müssen ihrer
allgemeinen Beschaffenheit nach so begriffen werden, dass dieses
vorliegende Endergebniss als möglich erscheint. Es ist einmal
rein methodologisch ein Fehler, die Vorstellungen von der Welt
zunächst von dem Ungeistigen aus zu bilden und dann nach-
träglich den Geist als eingelegtes Stück einzuschalten. Denn das
Weltall Jsjt, wi€-Ar4stoteles mit Eecht bemerkt^ nJchJLggisodenhaft
wie e i ne ^fthlf ehte Trag -odie^ und es kommt eine der Art motivirte
Leugnung der Realität des geistigen Lebens lediglich auf die
Schuld des Beobachters, der seine Begrifife zu eng nimmt, um
das Ganze zu umfassen, und der die Idee eines durchgeliendea
Causalzusammenhanges in der Forschung nicht festzuhalten vermag.
. Die philosophische Richtung aber, welche zu einer Be-
zweiflung der Selbstständigkeit des specifisch- geistigen Lebens
führt, hat ihren Höhepunkt in Spinoza en-eicht. Wir sahen schon,
wie ihm von vorn herein eine solche Tendenz fein liegt, aber
der speculative Gedanke ist nicht kräftig genug, sich durchzusetzen,
und die Wirkung der letzthin ausschlaggebenden materialistischen
Sätze ist um so grösser, da mau nach den Voraussetzungen das
philosophische Problem gelöst glaubt. Sobald sich einmal die
Sache so stellt, dass der Geist nichts anders ist als Bewusstsein
von einem ausser ihm Liegenden und unabhängig von ihm
Vorhandenen, ist er aller selbstständigen Bedeutung entkleidet.
Denn nun erhält alles, was in ihm vorgeht, Realität und Werth
erst durch das Verhältniss zum Aeussern, alles was sich im Für-
sichsein bildet, ist als Illusion verurtheilt. Etwas dem Innern
für sich zuschreiben, heisst es für ein Phantom erklären, und
dem entsprechend werden mit eiseiner Consequenz alle specifischen
Lebensformen des Geistes, die Werthbestimmungen, Zwecke u. s. w.,
als Trugbilder aus der wirklichen Welt verbannt.*) Diese Lehre,
*} Rein begrifflich und im Zusammenhange des Systemes angesehen
lag der Fehler Spinoza's darin, dass er den Geist als Bewusstsein nicht
auf die absolute Substanz, wie es die Voraussetzungen forderten, sondern
auf die Körperwelt bezog, und damit diese dem unendlichen Sein substituirte.
Subjectiv — Objectiv, 21
die zuerst heftig zurückgewiesen*), dann aber in idealisirender
Umdeutung gepriesen war, ist jetzt ohne die Einschränkungen,
die sie immerhin bei Spinoza erfährt, und ohne den speculativen
Grund, auf dem sie bei ihm ruht, die Ueberzeugung weiter
Kreise geworden; nicht wenige Forscher halten es in dieser
Weise allein für möglich, das Geistige anzuerkennen, ohne eine
exacte und causale Weltbegreifung zu gefährden. Aber dieser
ganzen Lehre liegt ein tiqiotov xbavdog zu Grunde : die Auffassung
vom Inhalt des geistigen Lebens selber, jene Auffassung, di e
Gei st und Bewusstsein pfleichsetzt. Ob die Stellung des Bewusst-
sems zu den Objecten, wie sie bei Spinoza angenommen wird,
nicht innere Widersprüche berge, das. gehört nicht hierher; für
uns genügt die Thatsache, dass d ^r Geis t nicht in ein blosses
Bewusstsein von Aeusserem aufgeht, sondern dass er eine innere
Welt für sich, ein „Fürsichsein" bild et, i n dem erst das Be-
wusst sein auftritt imrl Rftflp.^|||]y)ff, p^pwinnt So gehören auch
jene J^'ormen geistigen Lebens, welche Spinoza bekämpft, nicht
bloss dem Bewusstsein und noch weniger der blossen Reflexion
an, sondera sie durchdringen das gesammte Sein und sind in
dieser Grundgestalt von dem Streit der Meinungen durchaus un- \
abhängig. Nic ht erst (^er r^flect irende Kopf ersi nnt_jf£firtllbe'
Stimmungen ug j^Zwecke^ßjjiidßrn JiifiSfillifia, beherrschen v^jx, . Aa-
fang,- an das menschliche Leben und zeigen sich selbst weit darüber /
hinaus in allem Seelischen wirksam. Der Reflexion und dem i
Irrthum unterliegen nur die besondern Gestaltungen, welche diese !
Grundformen im bewussten Leben annehmen, hier mag die Kritik
des Philosophen einsetzen und reichen Stofif finden; aber daraus,
dass sich hier zahllose Fehlschlüsse, Erschleichungen und Ueber-
griflfe nachweisen lassen, rechtfertigt sich nicht im mindesten das '
verwerfende Urtheil hinsichtlich jener Grundformen selber. Und
dazu muss auch zwischen Bewusstsein und Reflexion genauer
unterschieden werden als es jetzt gewöhnlich gethan wird; die
*) Und zwar nicht* nur von glaubenseifrigen Theologen, sondern auch
von Männern wie Leibnitz und Bayle.
(
22 Subjectiv — Objectiv.
Reflexion ist es, die recht eigentlicli mit mannigfach vermitteltem
und abhängigem zu thun hat und daher auch fortwährend IiTungen
unterworfen, Zweifeln und Angrififen ausgesetzt ist So weit das
reflectirende Urtheil reicht, so weit reicht auch der Streit der
Parteien, und hier, wo es sich um Meinungen und Deutungen
liandelt, muss allerdings die Wissenschaft manches für subjectives
Gebilde erklären, von dessen Realität das naive Bewusstsein tiber-
zeugt ist; aber solche Zweifel und Kämpfe berühren doch nur
die Oberfläche, nicht die Tiefe geistigen Lebens. — Und selbst
das, was, so wie es sich gibt, nicht beibehalten werden kann,
darf nicht einfach als ein subjectives weggeworfen, sondeni muss
vielmehr auf seinen Grund zurückgeführt werden. Man ist einmal
damit nicht fertig, dass etwas f|ir Schein erklärt wird, denn
auch der Schein fordert Erklärung und selbst die Irrung weist
doch letzthin immer auf ein wahres hin. Vielleicht ist der alte
Paracelsus hier an Tiefe manchen subtilen Köpfen der Gegen-
wart überlegen, wenn er meint (Ausg. von Huser, II, 248):
„Es mag auch kein Schatt nit sein, und so viel nit, du hast der-
selbigen Sonnen nit, die da Schatten machte." — Sobald aber das
Fürsichsein des geistigen Lebens anerkannt ist, bedarf es, um
als real zu gelten, nicht erst einer Bestätigung von aussen; erst
wenn es sich darum handelt, in systematischer Weltbegreifung
Geist und Natur zu verbinden, kommt das gegenseitige Ver-
hältniss und die Bedeutung eines jeden für das Ganze in Betracht.
Eine solclie Frage wird sich freilich, so wenig sie mit der
vorangellenden vermengt werden darf, nach ihr nicht abweisen
lassen. Mögen manche Stimmen sich dahin geäussert haben,
dieselbe sei für uns durchaus transseendent, und es sei ja auch
praktisch gleicligültig, welchen Wertli unser Leben über uns
hinaus habe , da wir doch immer in dem eignen Kreise blieben ;
trotzdem sind gerade die bedeutendsten Denker immer wieder
aus innerer Nothwendigkeit zu diesem Problem zurückgekehrt,
ja zurückgetrieben. Der Geist hat einmal die Gesammtwelt zum
Inhalt seiner Thätigkeit, auf die Aufklärung seiner Stellung zu ihr
verzicliten, bedeutet daher für ihn nichts anderes, als au der
Subjectiv — Objectiv. 23
ErkenntniBs seiner selbst und seines Lebens verzweifeln, und
so , wenig er dies endgültig thun wird , so sicher wird er immer
wieder zu dem Weltproblem zurückkehren, um dureli das, was
er hier erringt, seiner selbst theilhaftig zu werden. Allen Be-
denken gegenüber wird immer wieder das durchschlagen, was
Sehelling (s. Werke, VI, 75) geltend macht: „Soll denn der Geist
überhaupt nach Ergründung dieses Verhältnisses (d. h. des Menschen
zum Universum) streben? Ich antworte: wenn er nicht soll, so
muss er wenigstens. Er hat von jeher darnach gestrebt, und
wird auch künftig darnach streben."
Daher ist auch der in neuester Zeit wieder aufgenommene
Vermittlungsversuch, die Geisteswelt neben der Natur stehen zu
lassen, ohne das Verhältniss beider zu bestimmen, wenn er
als abschliessende Weltauffassung gelten soll, unmöglich aufrecht
zu erhalten. Da s Denken erträgt in der einen Welt n\ o H\t zwe i
Arte n der Realität , schliesslich wird immer das eine das andere
zurückdrängen, und da hier das Geistige weit leichter in Nachtlieil
geräth und zu einer blos subjectiven Welt verflüchtigt wird, so
gereicht eine solche Unsicherheit und Unbestimmtheit nur ihm zu
Schaden. Und selbst die Unsicherheit kann eben auf diesem
Punkte, wo die Ueberzeugung grosse und schwer zu erregende
Kräfte erwecken möchte, durchaus nicht ertragen werden. Ja
selbst wenn man sich dabei beruhigen wollte, dass die geistige
Welt ein Traum wäre, schon die Möglichkeit des Zweifels zerstört
die naive Hingebung an die Illusion. Und doch könnte die
Idealwelt, welche die Phantasie als Elysium ausmalt, nur so lange
uns erquicken, als sie für volle und ganze Wirklichkeit gülte,
als erkanntes Trugbild wäre sie die grösste Qual für die Mensch-
heit und daher unbedingt zu entfernen.
So lässt sich das Problem weder bei Seite schieben noch um-
gehen, und es wird die Arbeit der Philosophie immer wieder zu
ihm zurückkehren. Unsere Aufgabe aber beschränkt sich darauf,
die Vorurtheile zu bezeichnen, welche heute einer unbefangenen
Behandlung sich in den Weg stellen. — Zunächst scheint manchem
allein deswegen das geistige Leben unwichtig, weil es seiner
24 Subjectiv — Objectiv.
äusseren AuBdehnung nach dem unendlichen Uniyersum gegen-
über zu yersehwinden seheint. Schon Kepler bekämpfte eine solche
Auffassung, gerade in der unermesslieh erweiterten Welt schien
ihm das äusserlich Kleine mit seinem Inhalt besonders be-
wunderungswürdig, und er meinte, dass aus der Masse nicht auf
den Werth geschlossen werden dürfe.*) Aber jetzt scheint
manche der Blick in die Unendlichkeit zu verwirren, und sie
sind geneigt, den unvermeidlichen Fehler der Vorstellung den
Dingen selbst zukommen zu lassen. Weil unserem Blick neben
der Unendlichkeit das Einzelne . verschwindet , und weil wir das
innerlich WerthvoUe nicht gleichmässig mit den Zeit- und Baum-
grössen ausdehnen können, ist darum noch nicht schlechthin alles
Einzelne und Innere verschwindend und werthlos. Dem äusseren
Umfang nach aber Geist und Natur gegeneinander abzumessen,
wäre doch wohl ein geradezu thörichtes Unternehmen, Denn ab-
gesehen davon, inwiefern wir den zufälligen Bestand der sich
uns bietenden Erfahrung als massgebend ansehen dürfen, so würde
derjenige, welcher aus inneni Gründen das Geistige als einzigartig
erachtete, durch die Seltenheit lediglich in dieser Werthschätzung
r>r vv^ c tt Lbßst^i'kt werden; wer es aber in eine streng causale Verknüpfung
mit dem andeni Sein brächte und an der Gleichartigkeit alles
Geschehens in der Welt festhielte, der würde es über das er-
fahrungsmässig Vorliegende auszudehnen nicht ablehnen können.
Und das alles bei Seite gelassen, wie würde man über einen
Physiker urtheilen, der unzweifelhafte Phänomene, die aber seinen
Hypothesen widersprächen, deswegen glaubte ignoriren zu dürfen,
weil sie selten vorkämen?
Ein fernerer Einwand, dass das geistige Leben als ein erst
im weltgeschichtlichen Verlauf hervortretendes, sich gestaltendes
♦) Kepler, op. I, 68: At hercle recreat rae non leviter dum perpendo,
non tarn debere nos mirari ingentem et infinitae similem Ultimi coeli
amplitudinem , qnam e contra nostrum homnBcionum nostraeqne Imjus
cxilissiraae glebniae adeoque mobilinm omninm exiguitatem. Nempe Deo
Dumdus non est vastus , at nos mundo, me Christe, perqaam exigui sumns. —
Neque ex mole Judicium est de praestantia faciendum.
Subjectiv — Objectiv. 25
und dabei mannigfach schwankendes selbstständiger Eealität
entbehre, wird schon zum Theil durch das getroffen, was oben
über die Erkennbarkeit der geistigen Vorgänge bemerkt wurde.
Es darf Iiinzugefügt werden, dass aus der allmählichen Bildung
an sich nicht im mindesten folgt, etwas sei im Weltall nur Neben-
ergebniss und nur eine vorübergehende Erscheinung, denn ob es
in dem Process erst nachträglich entsteht oder von vom herein ihn
mitbestimmt, steht eben in Frage. Würde man allem Sein, das
erst in dem weltgeschichtlichen Gange seine nähere Gestaltung
erhält, eine geringere Eealität zuschreiben als dem unabänderlich
Beharrenden, so wäre damit die ganze Bedeutung des VVelt-
processes und der Entwicklung zerstört und nicht blos das Geistige
zu flüchtiger Ei'scheinung herabgesetzt. Wer immer in dem Be-
grifl" der Entwicklung die Merkmale des Causalen und Gesetzlichen
festhält, der wird vielmehr geneigt sein, das, was in der Be-
wegung sich bildet, als das eigentlich werthvolle zu betrachten.
Aber, so hören wir bemerken, das geistige Leben tritt nicht
nur spät und vereinzelt in das Weltgeschehen ein, sondern es ist aus
sehr verwickelten Bedingungen und mannigfacher Zusammensetzung
hervorgegangen und daher weit mehr abhängig und unbeständig,
als die einfachen Elemente, die der Verknüpfung zu Grunde liegen.
Und da als wissenschaftlicher Grundsatz gilt, in der Erklärung vom j
Einfachen zum Zusammengesetzten fortzuscli reiten, so wird man
auf keinen Fall vom Geist bei der Weltbegreifung ausgehen dürfen. \
Diese ganze Beweisführung ruht jedoch auf einer dogmatischen
Gleichstellung der in die Erscheinung fallenden Thätigkeit des
Geistes und seines selbsteignen Wesens. Jene Thätigkeit setzt
freilich eine Organisation voraus, die als sehr complicirt und
mannigfach zusammengesetzt angesehen werden muss, aber darum
muss doch nicht in der Philosophie der Geist selber, d. h. eben
das Sein, welches einzig und allein unter dem uns zugänglichen \
eine innere Einheit besitzt' und daher jeder metaphysischen Be-
trachtung als am meisten real gilt, für etwas zusammengesetztes
erachtet werden.
Wenn freilich, wie es jetzt fast durchgehend geschieht, der
\,
26 Subjectiv — Objectiv.
Gegensatz des Niedeiii und Hohem dem des Einfachen und Zu-
sammengesetzten gleichgestellt wird, so muss man das Höhere
als das abhängige ansehen und es aus dem Niedeni ableiten,
aber eben in jenem Urtheil liegt schon eine bestimmte Theorie
ausgedrückt, die denn doch nicht selbstverständlich ist Em-
pedocles und Demokrit mögen ihr zustimmen, dem Flatonismus
dagegen bildete gerade umgekehrt die höchste Stufe das einfache
und rein ausgeprägte, das Niedere erschien als ein gehemmtes,
verworrenes und erst nach und nach aus dem Druck sich zur
Freiheit emporringendes. Auch hier kann eine allmählige Ent-
wicklung vollauf gewürdigt werden, aber in ihr würde das Niedere
vom Hohem aus zu begreifen sein.*)
So beruht tiberall die Geringschätzung des geistigen Seins
und Lebens auf Annahmen, die innerhalb begrenzter Gebiete und
auf die Erscheinung bezogen ihre volle Berechtigung haben mögen,
die aber, sofern sie mit dem Anspruch abscihliessender philo-
sophischer Erkenntnisse auftreten, als dogmatische Voraussetzungen
zurückzuweisen sind. Dass aber solche dogmatische Voraus-
setzungen auch in der Wissenschaft einen so grossen Einfluss
erlangen konnten, liegt zum guten Theil darin, dass auf der andern
Seite das Grundstreben der neu ern Forschung, das Geistige ais ein
kosmisches und das Menschliche als ein Gllea des Universums zu
fäSSen, %enri nicht aufgegeben , so doch nicht kräftig genug
verfolgt wurde. Fortwährend sehen wir selbst im wissenschaft-
lichen Kampfe das Weltbild, welches der Geist nach den un-
mittelbar im Bewusstsein hervortretenden Tendenzen und Postulaten
gestaltet, unbedenklich als Begreifung der objectiven Welt hin-
gestellt, während doch, was so im Bewusstsein vorliegt, gewöhn-
lich erst durch mannigfache Vermittlung und Umbildung in die
Gestalt gekommen, in der es sich uns jetzt bietet, und so wieder
eingreifender Umarbeitung bedarf, um für die Wissenschaft über-
haupt verwendbar zu werden und einen Baustein zum Ganzen zu
', *) S. z. B. Aristot. , 1252 b 32: jy (pvaig xkXog lariv' oiov yaQ txccaroy
laji riig yiviattag XE'kiad-iiarig , ravTrjy qjctfAty rriv cpvaiv ilvai ixnarov.
Subjectiv — Objectiv. 27
liefern. — Und dann gibt das Menschliche niclit das Mass fttr
das Universum. Wenn sich von jenem als einem Höhepunkte aus
neue Blicke in das Ganze eröffnen und insofern ein Umschwung
in der gesammten Weltanschauung eintritt, so setzt dies eben eine
Erhebung über das ausschliessend-specifische, damit aber theore-
tisch und praktisch eine andere Stellung zur Welt voraus, als
es in der Vergangenheit der Fall war. Auch die Berufung auf
angebliche praktische Interessen gegenüber den Ergebnissen der
Theorie ist hier oft nur ein Umweg, um nichtverificirte Auf-
fassungen als wissenschaftlich unantastbar hinzustellen. Wohl
müssen die Phänomene des handelnden Lebens eine Erklärung
und Würdigung innerlialb der Tlieorie finden, aber dies muss im
Zusammenhang des Ganzen und unter den allgemeinen Be-
dingungen der Erkenntniss geschehen. Die neuere Wissenschaft
ist allen Privilegien abhold, wer ein solclies in Anspruch nimmt,
scheint nur die Schwäche seiner Stellung zu verratlien.
Wie viel Wahrheit sich inzwischen über und in dem Kampfe
der Irrungen herausgearbeitet hat, das zu erörtern liegt hier nicht
in unserer Aufgabe. So viel dürfte aus den vorhergehenden Be-
trachtungen erhellen, dass das wissenschaftliche Bewusstsein in
mannigfaclier Weise unter dem Einfluss eines subjectivistischen
Skeptioismus steht, vielleicht aber auch dieses, dass die Gründe,
auf welche sich^ derselbe stützt, für sich betrachtet sachlicher Kraft
in hohem Grade entbehren. Aber eben diese Schwäche der Gründe
weist darauf hin, dass wir es hier nicht so sehr mit einer wissen-
schaftlichen Theorie, als mit einer grossen weltgeschichtlichen
Strömung im Gesammtleben zu thun liaben. Und darum hängt
auch das Gelingen des Kampfes für eine über jene Irrungen
sich erhebende Wahrheit von Bedingungen ab, die keine wissen-
schaftliche Forschung schaffen kann; von H^iyi aifl.||hP|] (jf^
Geistes ap siVli selhat . von dem Bewusstsein positiver und im
Weltall werthvoller Aufgaben. Sobald hier Zweifel und Verneinung
herrscht, ist die Wissenschaft machtlos, denn sie selbst fällt mit
ilirem ganzen Inhalt in das hinein, was der Zweifel erschüttert
Erfahrung.
Scientia }st die Mutter
der Experientz und ohne
die Scientia ist nichts da.
ParäcelsuB.
Der Begriff der Erfahrung hat seit dem berühmten Worte
des Polus*) mannigfache und wechselnde Schicksale gehabt.
Bei Plato und Aristoteles steht die hfineiqia der Wissenschaft ge-
radezu gegenüber, jener verbindet ^finsiQia und tqi^^ und
Aristoteles, der sich eingehender mit dem BegriflF beschäftigt und
auch wohl zuerst die Ausdrücke ^ixnsiqixog {ifjtTTsiQixcog) gebildet
hat, versteht unter ifjtJtsiQia nichts anderes als die Summirung
einzelner Einsichten, ohne Erkenntniss des Allgemeinen, so dass
sie darnach natürlich nur eine Vorstufe zur Wissenschaft bilden
kann.**) Erst bei den Stoikern wird die wissenschaftliche Er-
fahrung (^(iV7T€iQia (xe^oSiKi]) bestimmt von der gemeinen unter-
schieden, wie dies namentlich bei dem sich in Anschauung und
Sprachgebrauch eng an dieselben anschliessenden Polybius hervor-
*) S. Plat. Gorg. 44SC: noTiXal xi^vai lu dy&QMTioi^ tialv ix r<av
ifjtneiqiMP IfÄntiqiag svQrjfdiycci. IfjLntiqia fjilv yctQ noul top aiMva rjfAuiir
TtoQivea&ca xccrd xs^vriv, fmeiQia &k xard xv^riv,
**) S. Met., 981a 7: x6 ^iv iX^t'V vnoXrixpiv Öri KaXUt^c xufAvovxt
xrjyM xriv voüov xo&i avurivEyxE xal ütaxqdxBi xcd xad^ txaaxoy ovxio noXXol^r
IfjLTiUQias ioxly' x6 cT'or« Tidai xols xototat^s x«r tl&og ty cc(poQiad-tlci,
xdfiyovai xtiy&l xrjy yoaoy, cvytjyeyxty oioy xols' q)Xeyfj.ccx(ü&€aiy ^ ^oXiaStaiv
ri nvgixxovai xavat^, xi^t^i^»
Erfahmng. 29
tritt.*) Doch scheint sich dieser Teiminus nicht allgemein durch-
gesetzt zu haben, namentlich verharrten wohl Platoniker und
Peripatetiker bei der aristotelischen Bestimmung, und so blieb es
bis in die letzten Zeiten streitig, ob man die ifinsiQia der t^x^'tj
gleichstellen dürfe oder nicht**) Auch in dem Streit der medici-
nischen Secten ward als Kennzeichen der Empiriker angesehen,
dass sie auf eine tiefere Erforschung der Gründe verzichteten. ***)
Diese Bedeutimg, wonach die Empirie der Wissenschaft
entgegensteht, ist vornehmlich in dem Wort empiricus auf das Mittel-
alter übergegangen und wirkt bis auf die Gegenwart fort. Baco trennt
den Standpunkt der Empiriker sehr bestimmt von dem seinigen, im
1 8. Jahrhundert finden wir öfter eine empirische oder gemeine und
eine gelehrte Erfahrung gesondert und auch bei Kant ist ein Unter-
schied zwisclien dem Empirischen und der Erfahrung im strengen
Sinne zu bemerken. Auch das Partei wort Empirfsmus, das,
wenngleicli dem 1 8. Jahrhundert entstammend und bei Kant nicht
selten verwandt, namentlich durch Schelling in weitem Gebrauch
gekommen sein dürfte, soll die bezeichnete Ansicht als eine niedrigere
erscheinen lassen, ""Efinsigia selbst aber ward durch. experientia
ersetzt, das einige Zeit auch bei uns, z. B. bei Paracelsus, Kepler u.
a., Eingang erhielt (Experientz) ; das Mittelalter bildet auch den
Plural experientiae Erfahrungen, so z. B. Roger Baco ; der Terminus
scientia experimentalis findet sich schon bei Nikolaus von Kues.
*) S. I. 84, 6, wo die IfAnu^ia /ue&o^ixrj xai aTQarrjyixrj ^vvafjtig der
antiQln xal TQißr; äXoyos atQarttonxrj entgegengestellt wird; ferner IX,
14, 1: TMy dh nQOHQrif.tivo}v xa ^\v ix rgiß^g, xa d'l^ laxoQia^, r« (ff xax
IfinH^iav fxt^odixiiv ^eMQtlxai,
**) S. Sextiis Erap. adv. math. 1, 60, avo als Meinung des Peripa-
tetikeis rtoleinlius angeführt wird: oxi ovx ixQn^ l/uneiQiay iiQtjxiyai xtjy
yqafjifjiaxixriv {ccvxr} fjilv yäq tj ijLineiQia xqißfi xig taxt xal Iqyaxig axij^vog
rt xal aXoyog, iy xpiX^ nagccxrjQrjati xni (SvyyvfJLV€tai(jf, Xit/usyri, rj de yqafXfjiaxixii
xi/yr; xaS-iaxijxty). Bei Olympiodor wird tfAnn^ixog dem Xoyixog entgegen-
gestellt, 8. Ausg. von Creuzer 135: ovdi diafpigti 6 oQ&odo^aaxixog xov
iniaxrifAoyoSt ii fAi] xo ildivai xr^y (dxiay äantQ ov&h 6 Xoyixog iaxQog xov
ifjiTitiQixjv &u((piQii' iy xjj TiQce^ti yccQ r« ccvxa noiovaiy» 124.
***) S. darüber Häser, Gesch. der Medicin, 3. Aufl. I, 245 ff.
30 Erfahrung.
Unser deutsches Wort ervam (eigentlich durch varn erreichen
erkunden) geht sehr weit zurück, schon bei dem ältesten philo-
sophischen Schriftsteller deutscher Sprache, bei Notker, findet
sich comprehendere also übersetzt , im Mittelalter ist der Ausdruck
gebräuchlich, auch Erfahrung (ervarunge) kommt hier, dann aber
namentlich bei Luther vor. Streng wissenschaftlich verwandt ist
Erfahrung neben Erfahniuss und dem vorherrschenden Erfahrenheit
zuerst bei Paracelsus. Erfahrenheit bedeutet ihm sowohl die
Thätigkeit in der Aufnahme des Vorliegenden als die Gesammtheit
des Gegebenen selber.*) Dieser Ausdruck, den auch Kepler u.a.
älmlich verwenden, nahm später eine engere Bedeutung an**),
und da Erfahrniss und Experientz ausser Gebrauch kamen, so
ist allein Erfahrung tibergeblieben, das nun mannigfache Be-
deutungen in sich vereinigt. Es wird auf der einen Seite subjectiv
der Act der« Wahrnehmung selber, die durch Wahniehmung er-
worbene einzelne Kunde und die Gesammtheit solcher Kunde,
sodann aber objectiv der Gegenstand der Wahrnehmung***)
und die Gesammtheit des der- Wahniehmung zugänglichen damit
bezeichnet; welche Mannigfaltigkeit der Bedeutung fortwährend be-
griffliche Verwirrungen veranlasst.
Problem philosophischer Forschung ward der Begriff natürlich
überall da, wo die Frage nach dem Ursprung der Erkenntniss
erwogen wurde, aber zu einem Mittelpunkt philosophischer Thätig-
keit ward diese Frage erst in der Neuzeit. Eine empirische
und eine speculative Richtung wirkten hier zusammen, die Lage
gegen früher umzugestalten. Einmal maclite sich gegenüber der
mittelalterliclien Weltansicht der Drang geltend, das Thatsächliche
unbefangener und genauer zu erfassen, es scharf von aller Zuthat
*) S. III, 78: Weg der Erfahrenheit; II, 380: Erforschung der
Erfahrenheit.
**) Adelung bemerkt, nachdem er die jetzt vorherrschende Bedeutung
angeführt: „Im Oberdeutschen wird dieses Wort auch für Erfahrung ge-
braucht. Ich habe es aus Erfahrenheit."
***) So namentlich zu der Zeit, als der Ausdruck „Thatsache" noch
nicht gebräuchlich war.
Erfahrung. 31
des aufnehmenden Subjeetes zu scheiden und auf dem Gewonnenen,
als einem sichern Grunde, die Wissenschaft neu aufzubauen. Wenn
man sich erinnert, dass gleichzeitig mit den Forschungen eines
Baco ein formal so bedeutender Denker wie Suarez eingehende
Untersuchungen über den Verstand der Engel anstellte, so steht
die ganze Grösse des Umschwunges vor Augen. Die Aufnahme
des Thatsächlichen war nun aber isowohl durch die schon be-
gonnene Zerstörung des herkömmlichen Weltbildes als die Erfindung
wissenschaftlicher Instrumente eine unendlich schwierigere Aufgabe,
als sie bis dahin geschienen hatte, und es musste daher von vom
herein der Begriff der Erfahrung vertieft werden.
Baco gebührt das Verdienst, die aus einer solchen Saclilage
erwachsenden Probleme, wenn auch keineswegs gelöst, so doch
mit zündender Lebhaftigkeit zum Bewusstsein gebracht zu haben.
Er trennt aufs schärfste das, was das gewöhnliche Leben Er-
fahrung nennt (die experientia vaga), von der für die Wissenschaft
allein werthvollen und stellt die wesentlichen Merkmale der letzteren
zusammen; er verlangt eine eigentlich gelehrte Erfahrung (eine
experientia literata), wobei der eine dem andern die Beobachtungen
und Ergebnisse übermittle, auf dass sich eine continuirliche Ge-
sammterfahrung der Menschheit bilde; er entwickelt zuerst die
Grundsätze und Probleme inductiver Methode und dehnt dieselbe
auf alle Gebiete der Forschung aus, so dass er seine Philosophie
eine inductive *) nennen und eine Neugestaltung, aller Wissenschaften
einleiten kann.
*) Nov. org. I, 127: Etiara dubitabit quispiam potias quam objicie(,
utmm nos de natural! tautum philosophia, an etiam de scientiis reliquis,
logiciSy ethicis, politicis, secundum viam nostrani perficiendis loquamur.
At nos certe de universis haec quae dicta sunt intelligimus , atque
quemadmodum vulgaris logica, quae regit res per syllogismum, non tan tum
ad naturales ) sed ad omnes scientias pertinet, ita et nostra, quae procedit
per inductionem, omnia complectitur. — Philosophia nostra inductiva s. z. B.
thema coeli zu, Anfang. Die Induction ist übrigens als eigenartige Methode
zuerst von Sokrates angewandt (s. Arist. Met. 1078 b, 27), Bezeichnung
{knayioyti und inaxtixog) wie genaue Untersuchung erhielt sie bei Aristoteles,
die üebersetziing stammt von Cicero.
32 Erfahrung.
Diese inductive Eichtung wird aber durch eine speculative
ergänzt, welche die ganze Stellung des Denkens zur Welt umgestaltet
und die Aufgaben der Wissenschaft wesentlich ändert. Die
Forschung geht von dem Gedanken aus, dass wir die Dinge nicht
kennen, insofern sie überhaupt sind, sondern nur dadurch, dass
sie in uns und auf uns wirken, wir dürfen daher in der
Erklärung nicht über die Thätigkeit hinaus zu einem, jenseits
Liegenden fortgehen, sondeni haben darnach zu streben, die
mannigfachen Erscheinungen auf einfache in der Wirklichkeit
nachweisbare Grundkräfte zurückzuführen und sie wieder von
diesen gesetzmässig abzuleiten. Diese Eichtung, welche sich schon
bei hervorragenden Denkern der Uebergangszeit, unter den Deutsehen
z. B. bei Nikolaus von Kues, Nikolaus Taurellus, Kepler, bemerk-
lich macht, gelangt bei Cartesius zu einem classischen Ausdruck.
Hier werden geradezu die alten Kategorien durch neue ersetzt.
Wir kennen nach ihm im Grunde nur Kräfte, müssen aber da,
wo wir eine einfache Kraft finden, die Substanz als einen
Hülfsbegriflf hinzudenken. Die Qualitäten, welche als kleine Seelen
der Substanz innegewohnt hatten und als verborgene Eigen-
schaften (qualitates occultae) ein Hemmniss exacter Erkenntniss
gewesen waren, machen den Modificationen (modi, modificationes)
Platz, die erst im Zusammensein sich bilden und nur eine bestimmte
Gestalt der Grundkraft ausmachen.*)- Diese neuen Lehren be-
*) Princ. philos. I, § 52 : Non potest substantia primum animadverti ex
hoc solo, quod sit res existens, quia hoc solum per se nos non afficit : sed
facile ipsam agnoscimus ex quolibet ejus attributo etc. § 53: Et quidem
ex quolibet attributo substantia cognoscitur: sed una tarnen est cujusque
substantiae praecipua proprietas, quae ipsius naturam essentiamque con-
stituit et ad quam aliae omnes referuntur. Da so der Substanzbegriff
nicht weiter reicht als die Thätigkeit, so muss die Substanz als fort-
während wirkend gedacht werden, s. z. B. epist. II. Bd., 4, 14: necessarium
videtur ut mens semper actu cogitet: quia cogitatio constituit ejus essentiam,
quemadmodum extensio constituit eesentiam corporis Als eines der beiden
leitenden Principien seiner Physik wird epist. II, 116 bezeichnet : me nullas
in natura qualitates reales supponere, quae substantiae tribuantur, tanquam
animulae quaedam corporibus suis, et quae possint ab illa per divinam
Erfahrung. 33
wegen sich freilich bei Cartesius, seiner Eigenthtimlichkeit erit-
sprecliend, vorwiegend in den Formen alter Terminologie, aber
trotzdem lässt sich nicht verkennen, dass hier eine principielle
Neubildung vorgegangen ist, welche alle Wissenschaften ergreifen
und die ganze Art der Arbeit umgestalten musste. Es kam
nun vor allem darauf an, die einfachen Kräfte zu ermitteln,
das Mannigfaclie der Erscheinung auf sie zurückzuführen und die
Bedingungen festzustellen, unter denen die besonderen Grestaltungen
sich in dein Zusammensein der einzelnen Kräfte ergeben. Diese
gesammte Lehre ist nicht über alle AngriflFe erhaben, sie berulit
auf einer bestimmten Theorie von der Welt und der Stellung
des denkenden Subjectes zu ihr, aber sie erhielt zunächst eine
glänzende Bekräftigung durch die mechanische Naturlehre, und
indem sie dann sich überall durchzusetzen suchte, hat sie gerade-
zu die Arbeit des 17. und 18. Jahrhunderts beherrscht, bis sie
durch Kant innerhalb der Philosophie die erste Erschütterung erlitt.
In dem wissenschaftlichen Grcsammtleben wirkten nun in-
ductive und speculative Richtung auf einander und förderten
sich gegenseitig; die eine hält den Forscher am Gegebenen
fest und dringt auf Fülle des Stoffes, die andere dagegen ist
für die Werthschätzung des Gregebenen und seine Verarbeitung
massgebend, und so steigert das eine das andere. Eben diese
enge Verbindung von beiden war es, welche dem Kampf der
Neuzeit um die Wahrheit eine solche Intensität verlieh und der
neuern Wissenschaft jenen eigenthümlichen Charakter aufprägte,
der sie von allen frühem Gestaltungen unterscheidet und allen
verschiedenen Systemen einen gemeinsamen Grundzug verleilit.
So ist auch in dem Kampf um den Ursprung der Erkenntniss weit
mehr Uebereinstimmung als es dem ersten Blick scheinen könnte.
Allen fällt dieselbe als Process in Welt und Leben hinein, sie
soll nicht als ein überliefertes oder angebomes, überhaupt fertiges.
potentiam separaii; atque ita plus realitaÜB non tribuo motui aut aliis
substantiae mutationibus , quas qualitates vocant) quam vulgo philosophi
tribuunt figiirae, quae apud illos non est qnalitas realis, sed tantnm moduB.
Kucken, Geschichte und Kritik. 3
34 Erfahrung.
aufgenommen, sondern vielmehr unmittelbar erzeug-t werden, und
es kommen daher alle darin ftberein, von ihr Klarheit, Evidenz
und stete Fähigkeit der Verification zu verlangen. Nur darum
bewegt sich der Streit, wo die solches hervorbringenden Kräfte zu
suchen seien, und wenn sich hier die einen für die aus dem
Innern entspringende Thätigkeit des Geistes, die andern für sich
ihm kundthuende Kräfte der Aussenwelt entschieden, so musste
der Kampf um so heftiger werden, je weniger in der einen eng-
zusammenhängenden Welt, die alle gemeinsam annähmen, ein
Nebeneinander ertragen werden konnte. Auf die einzelnen Phasen
dieses Kampfes einzugehen ist hier nicht möglich, und auch nicht
erforderlich, da durch die Wendung, welche Kant dem Problem gab,
für uns das meiste vorangehende die unmittelbare Bedeutung
verloren hat; nur den Leibnitzischen Gedanken dürfte neben den
Kantischen ein selbstständiger Werth verbleiben.
Leibnitz ist weit davon entfernt, die Erfahrung gering zu
achten, aber er meint freilich, dass es uns unmöglich sei, bei
ihr stehen zu bleiben, da nur eine die ganze Welt umfassende
causale Einsicht, welche die Erfahrung nicht gewähren könne, das
Streben nach Erkenntniss befriedige. Die Thatsachen der Er-
fahrung erscheinen ihm als ein durch die wissenschaftliche Arbei^
in Sätze der Vernunft umzuwandelndes, letzthin ist wirkliche Er-
kenntniss nur dadurch möglich, dass die Daten auf Sätze zurück-
geführt werden, in denen, wie in Gleichungen, das Zusammen-
fallen von Subject und Prädicat unmittelbar einleuchtet, so dass
sich die Aufgabe der Philosophie dahin gestaltet, das Verworrene
bis zu solchen einfachen Sätzen hin aufzulösen.*) Vollkommen
erreicht werden kann dies aber nur bei den nothwendigen Wahr-
heiten (v6rit6s de raison), während bei den contingenten (verites
de fait) der endliche Geist sich der Auflösung nur im unvollend-
*) S. de libertate (Foucher, II, 181): demonstrare nihil aliud est,
quam resolvendo tenninos propositionis et pro definito definitionem aut ejus
partem substituendo , ostendere aequationem quandam seu coiucidentiam
praedicati cum subjecto in propositione reciproca; in aliis vero saltem in-
cluslonem.
Erfahmng. 35
baren Process anzunähern vermag. Wenn also aucli Erfahrungs-
erkenntniss in Vernunfterkenntniss zu verwandeln recht eigentlich
die Aufgabe der Philosophie ist, und nur insofeni eine vollständige
Sicherheit und Verification der Einsichten möglich ist, als dies
gelingt*), so ist doch die Erfahrung sowohl als Ausgangspunkt
und Mittel nothwendig, wie als nie aufzulösender Rest von
bleibender Bedeutung.**) Kant stimmt darin mit Leibnitz tiberein,
dass die Thilosophie die Erfahrung nicht zum Principe , sondern
zum Probleme habe, aber die Thätigkeit, die das philosophische
Denken am Gegebenen vollzieht, wird ihm seiner ganzen Eigen-
thtimlichkeit entsprechend eine trennende und auseinanderlegende,
und diese Thätigkeit dringt um so tiefer ein, als sie den Begriif
der Erfahrung selber erfasst und den Process prüft, über dessen
Ergebniss man sich so lange gestritten hatte. Wie nun aber
überhaupt die principielle Scheidung von Verstand und Sinnlichkeit
für die Gestaltung seines Systemes von grundlegender Bedeutung
war, so trat auch in der Erfahrung beides auseinander, sie stellte
sich heraus als „das Produkt des Verstandes aus Materialien der
Sinnlichkeit" ***) ; und wie so in ihr Stoff und Form geschieden
und das eine den Dingen , das andere dem Geist zugetheilt war,
80 ward es überall Aufgabe«, das erfahr ungsmässig Gegebene in
diese Factoren zu zerlegen, um dann das Gesonderte in ein System
zu bringen. Durch die grossartige Ausführung solchen Strebens
ist alles, was bis dahin an Bestand der philosophischen Erkenntniss
vorlag, erschüttert, und vor allem das Problem der Erfahrung
selber vollständig verändert ; aber der Umschwung brachte wieder
so viele neue Fragen mit sich, dass erst jetzt der Kampf recht begann.
*) S. z. B. 344 b : La liaison des ph^nomenes, qui garantit les verites
de fait a T^gard des choses sensibles hors de nous , se v^rifie par le
moyen des verites de raison; comme les apparences de l'optique s'eclair-
cissent par la geometrie.
**) Leibnitz kommt demnach der Unterscheidung synthetischer und
analytischer Urtheile nahe, nur dass er den ganzen Unterschied für einen
subjectiven und in unendlicher Entwicklung aufzuhebenden erachtet.
♦*♦) S. Werke (Ausg. v. Hartenst.) IV, 64.
3*
36. Erfshrang.
Vor allem kann schon der AuBganj^piuikt Zweifel erregen.
Kant erörtert, wie Erfahrung möglich i»t, aber es geht ihm hier
wie an einem andern entscheidenden Punkte seineB Systeme» (ia
der PreiheitBlehre) , dass dadurch die Frage, oh der Gegenstand
der Untereuehung auch wirklich sei, zurückgedrängt wird. Es ist
das eine Stelle, wo immer dei- Skepticismus seine Angriffe gegen
die Kantische Lehre einsetzen kann.*) Die empirische £ichtun^
aber konnte daran Anetoss nehmen, dass die Erfahrung mit ihren
Factoren zu sehr als ein vollständig gegebenes und von Anfang
an zu Überblickendes hingestellt wurde. Es schien hier in's
Gewicht zu fallen, dass vieles von dem, was als nothwendige Er-
kenntniss a priori behauptet war, erst in langem Kampf an der
Hand der Erfahrung sich aus gegentlieiligen Ueberzeugungen her-
ausgearbeitet habe, wonach auch eine weitere Umgestaltung keines-
wegs fUr ausgeschloesen gelten durfte. Der speculativen Philosophie
endlich schien die Stellung der Vernunft zur Erfahrung nicht
widerspruchslos, bestimmt Einmal war das Denken der Erfahrun»:
als seinem Produkte überlegen, und die Annahme, dass es von
sich aus die Welt hervorbringe, schien nahe zu stehen, aber
dann ward wieder die Nothwendigkeit des Dinges au sieh auf-
recht erhalten und die Veniunft auf diese gegebene Welt einge-
schränkt. Es lag da ein Widerspruch vor, der bei Kant selbst
in der transscendentalen Dialektik zu einem schneidenden Ausdruck
kommt und über den er durch die verschiedene Bestimmung der
tlieoretischen tmd praktischen Vernunft hinauszukommen suchte.
Die constructiven Philosophen gingen nun in der Richtung
der praktischen Vernunft gross und einseitig weiter; indem sie
die ganze Welt durch die Thätigkeit des Denkens hervorbringen
wollten, konnte die Erfahrung ihnen nicht mehr Ausgangs-, sondern
nur noch Endpunkt sein : erst am Sehlusa der philosophischen
") Nicht unbegründet ist daher Herbart's Vorwurf (e. Werke, 6, 286),
ei lie^e eine petitio priacipii darin .daes die Erfahrung objective Giiltig-
küii hiibe, die in sich eine abitolnte Festigkeit besitze nnd über den Rani:
i:iiji'i' ullgenioiuen , gleichfürmigen Gewöhnnag der Menachen eich weit
Erfahrung. 37
Arbeit, die ohne alle Rücksicht auf das Gegebene nur den eignen
Gesetzeil folgen sollte, war jene zur erprobenden Vergleiehung
heranzuziehen. Der Unterschied der Empirie und der Wissenschaft
bestand darin, dass jene als fertig aufzeigte, was diese durch die
Thätigkeit des Denkens entstehen Hess.*) Uebrigens bemäclitigt
sich diese Strömung erst nach und nach des ganzen Wissenschafts-
gebietes. Bei Fichte geht die Philosophie immer nur auf die
allgemeinen und noth wendigen Bestimmungen **), während für die
besondere Bescliaffenheit die Erfahrungserkenntniss eintritt. So
verwahrt er sich nachdrücklich gegen eine Naturphilosophie, wie
eine solche Geschichtspliilosophie , welche auch das Einzelne aus
dem Begriff entwickeln zu können meine. Schelling that durch
seine Naturphilosophie schon einen Schritt weiter und auch bei den
Geisteswissenschaften sehen wir ihn in seiner ersten Periode***)
immer mehr der philosophischen Construction zuweisen, bis endlich
in Hegel die Bewegung ihren Höhepunkt erreichte, auf dem für
die Erfahrung nirgends eine selbstständige Bedeutung blieb. Die
besonnene Theorie Herbart's, welche überall die Erfahrung als
Ausgangspunkt anerkannte, aber sich durch die in ihr hervor-
tretenden Widersprüche zur Philosophie und einer durch sie
*) Schelling nennt IV, 97 „die Erfahrung nicht Princip, wohl aber
Aufgabe, nicht terminus a quo, wohl aber terminus ad quem der Con-
struction. ** HI, 2S3 sagt er: „Der Gegensatz zwischen Empirie und
Wissenschaft beruht nur eben darauf, dass jene ihr Object im Bein als
etwas fertiges und zu Stande gebrachtes, die Wissenschaft dagegen das
Object im Werden und als ein erst zu Stande zu bringendes betrachtet.**
Ueberhaupt hat Schelling sich am meisten unter den deutschen Idealisten
mit dem Problem des Verhältnisses der Philosophie zur Erfahrung be-
schäftigt.
. **) Aber auch hier ist für das empirische Bewusstsein die Erfahrung
Bedingung, s. VI, 313: Alle Vemunftgesetze sind in dem Wesen unseres
Geistes begründet, aber erst durch eine Erfahrung, auf welche sie anwendbar
sind, gelangen sie zum empirischen Bewusstsein.
*♦*) Die hierhergehörigen Erörterungen der zweiten Periode stehen trotz
mancher blitzartig treffenden Bemerkung zu wenig, auf der Höhe neuerer
Forschung, um in das wissenschaftliche Leben eingreifen zu können.
38 Erfahrung
erfolgenden Umgestaltung des Gegebenen treiben lassen wollte*),
konnte dem gegenüber für weitere Kreise nicht aufkommen, uüd
so ging der Rückschlag gegen jene souveräne Stellung, welche
das Denken für sich in Anspruch genommen hatte, nicht so sehr
von der Philosophie als von den Einzelwissenschaften und dem
gemeinen Verstände aus.
Der gemeine Verstand, der gegen jede Philosophie wie alle
liöhem Vemunftzweeke einen versteckten Hass hat und an die
Systeme nur hinantritt, um Fehlerhaftes, Absurdes und Lächerliches
aufzuzeigen, fand in den Lehren der constructiven Philosophen
reiche Gelegenheit zu AngriflFen. So lange man sich nicht in
die philosophischen Motive der entscheidenden Probleme und in
die geschichtliche Entwicklung der Gedanken hineinversetzte,
musste das Bekämpfte geradezu als abenteuerlich erscheinen, und
es war nicht zu verwundeni, wenn mancher eine geistige üeber-
legenheit dadurch zu bekunden wähnte, dass er Lehren, deren
Begründung und Zusammenhang ilim einfach ein Bäthsel geblieben
war, mit Spott überschüttete. Da solche antiphilosophische
Richtungen aber doch den Mäntel einer philosophischen Ueber-
zeugung lieben, so ward der Empirismus als Schlagwort usurpirt.
Bessere Gründe hatten die Vertreter der besondeni Wissen-
schaften, namentlich die Naturforscher. Freilich war ihre Arbeit
lange nicht in dem Masse durch den vorwiegenden Einfluss der
constructiven Philosophie gekreuzt oder auch beherrscht, wie
heute oft behauptet wird, aber unzweifelhaft war durch ein
System, welches allen Inhalt der Erfahrung aus dem reinen Denken
entwickeln zu können vermeinte, die principielle Bedeutung jener
Wissenscliaften mit all ihrer aufopfernden und fruchtbaren Arbeit
in Frage gestellt. Und dazu waren die Irrthümer der constructiven
Denker auf diesen widerrechtlich für die Philosophie in Anspruch
genommenen Gebieten augenscheinlich. So war eine Zurück-
weisung von exactwissenschaftlicher Seite durchaus berechtigt, der
*) Unerwiesen blieb dabei freilich das Recht des Denkens, also die
Erfahrung auf seine Gesetze hin zu prüfen, und unerwiesen blieben auch die
besonderen Kriterien, nach denen dabei verfahren wurde.
Brfahrang. 39
Uebergang zum Angriffe leicht erklärlich. Gefahrbringend war
nur, dass man dabei von den Consequenzen, und zwar oft sehr
vermittelten Consequenzen, auf die Principien schloss, so seinerseits
das eigne Gebiet überschritt und eine Entscheidung über Probleme
in die Hand nahm, deren Behandlung an noch manche andere
Bedingungen geknüpft war; ja es fehlte nicht an solchen Männern,
welche Fragen, an die ein Leibnitz und ein Kant ihre höchste
Kraft gesetzt hatten, gewissermassen in ihren Mussestunden neben
der Hauptarbeit zu lösen versuchten. Dem Inhalt nach aber
stimmten die von dieser Seite kommenden Aeusserungen darin über-
ein, der Philosophie ein Recht, über die Ergebnisse der Einzel-
wissenschaften hinauszugehen, mit Entschiedenheit zu bestreiten;
der berechtigte Einspruch gegen die constructiven Philosophen
führte demnach zu einer Abneigung gegen alle systematische
Philosophie.
Und dann entstand endlich auch innerhalb der Philosophie
eine Bewegung zu Gunsten des von den frühem Denkern mit
Missachtung behandelten Empirismus. Die ihm günstigen Momente,
worüber jene oft flüchtig hingegangen waren, traten nun wieder
mit aufstrebender Kraft in's Bewusstsein; dazu gesellten sich
manche Ergebnisse der Einzelwissenschaften, welche in philoso-
phischer Verwerthung die Frage nach dem Ursprung des Er-
kennens anders gestalten mussten. Einmal kommt hier in Betracht
die Einsicht in die Positivität der Formen unseres Erkennens
und Seins, wodurch ein für alle Mal eine Construction des Er-
fahrungsinhaltes aus allgemeinsten Begriffen hinfällig wird. Hat
hier der Empirismus bis zu einem gewissen Punkte Kant zum
Genossen, so wendet er sich insofern gegen denselben, als er
die ihm als fest geltenden Formen allmählig entstehen lässt, hier
sieh mit Herbart berührend, vor allem aber die Ergebnisse
specieller Forschung aufnehmend. Die weitere Verfolgung und
philosophische Durchführung solcher vollberechtigter Tendenzen
mußs aber zu principieller Umgestaltung der Philosophie und ihrer
Stellung zu den Einzelwissenschaften führen, und so können wir
dem Empirismus dafür nur Dank wissen, dass er jene Punkte mit
40 Erfahrung.
Kachdruck geltend maclit. Seinem Einfluss im allgemeinen Leben
aber kommt es zu Gute, dass er in seiner Arbeit am meisten die
exactwißsenschaftlichen Forschungen zu würdigen und zu ver-
werthen versteht, während die Anhänger anderer Sichtungen sich,
wie es scheint, dazu in Widerspruch setzen oder doch sie nicht
nützen können.
Alle diese verschiedenen Bestrebungen aber wirken nun im
allgemeinen Leben gleichzeitig und vereinen sich zu einer Gesammt-
erschein ung, bei der es schwer ist, die einzelnen Momente auszu>
sondern. Philosophisches, unphilosophisches und antiphilosophisches
geht mit einander und durch einander ; wo das eine anfängt, das
andere aufhört, ist nicht leicht zu entscheiden. Und damit hat
auch die Kritik des heutigen Empirismus eine eigenthümliche
Schwierigkeit; man kommt bei dem Durcheinander in Gefahr,
das eine für das andere verantwortlich zu machen, ja, den Freund
als Feind und den Feind als Freund zu behandeln. Aber grade
diese Verbindung von Verschiedenartigem zu einer Gesammt-
wirkung ist für die heutige Lage charakteristisch ; zumal für
unsere Betrachtung ist nicht der philosophische Empirismus ein-
zelner Forscher, sondern der Empirismus als Massenerscheinung-
wichtig, und daher müssen wir so gut wie möglich die hervor-
tretenden Züge der Gesammtbewegung in's Auge fassen, auf die
Gefahr hin, weniger die kritischen Erörterungen der Forscher als
die dogmatischen Behauptungen der Menge zu würdigen.
Die Streitfrage besteht, so allgemein angesehen, vor allem
darin, wie hoch man dre Thätigkeit des Denkens in der Be-
greifung der Welt anzuschlagen habe? Verhält sich der Geist
wesentlich aufnelimend und die Dinge nur in sich abbildend oder
hat er Recht und Pflicht, das an ihn herantretende einer Prüfung
von seinen eignen Gesetzen aus zu unterziehen und nach deren
Ergebniss zu gestalten? Hat die Philosophie im besondern das,
was die einzelnen Wissenschaften ihr übermitteln, einfach aufzu-
nehmen und zusammenzustellen, oder hat sie ihm gegenüber mit
selbstständiger Methode eine selbstständige Aufgabe? Auf beiden
Seiten sind manniiifache Stufen möglich, aber ein specifischer
■ I
Erfahrung. 4 1
Gegensatz bleibt darin, dass die einen im systematischen Ausbau
der Philosophie (nicht in der psychologischen Entwicklung) von
dem Denken zu den Objecten, die andern von den Objecten zu
dem Denken foiigehen. Fttr die heute im allgemeinen Leben
vorherrschende Art des Empirismus aber darf als besonders be-
zeichnend gelten, dass die inductive Methode als das eigentliche
Mittel wie der wissenschaftlichen Forschung, so auch der philoso-
phischen Erkenntniss gepriesen wird. Bei dieser Auffassung wird
die selbstständige Thätigkeit des Geistes gegenüber den Objecten
auf das geringste Mass herabgesetzt, das Denken hat im wesent-
lichen sich darauf zu beschränken, das dem Bewusstsein ungetrübt
zu übermitteln, was die Dinge für sich vollbringen ; auch das Zu-
sammenschiessen des Einzelnen zu bestimmten Gestalten scheint
sich aus den Dingen und von aussen zu bestimmen, die Wissen
Schaft allmählig sich nach Art einer Pyramide zu einem Ganzen
auszubauen. *)
Von dieser streng inductiven Methode nun behaupten wir,
dass sie nicht einmal auf dem Gebiete, das sie vor allem für
sich in Anspruch nimmt, dem der Naturwissenschaften, herrsche,
dass sie auf andern Gebieten noch mehr zurücktrete, und dass
sie an die letzten Aufgaben der Philosophie nicht einmal her-
anreiche. Das erste könnte schon aus einer genauem Prüfung
der Processe und Methoden, welche in der naturwissenschaftlichen
Arbeit vorkommen, hinreichend erhellen. Wenn wir Begriffe wie
Hypothese, Analyse, Gesetz u. a. einigermassen zergliedern, wenn
wir die Kategorien betrachten, unter welche die Erscheinungen
hier, nicht sich ordnen, sondern von uns geordnet werden, wenn
wir endlich die systematische Gliederung dieser Wissenschaften
überscliauen , so möchten wir finden, dass für das alles die
Induction ein stets nothwendiges Hülfsmittel, eine unerlässliche
Bedingung, aber durchaus nicht die zureichende, ja nicht einmal
die mächtigste Triebkraft sei. Aber einfacher ist es vielleicht,
einen Blick auf die geschichtliche Bewegung dieser Wissen-
*) Für das Alles ist Baco classischer Typus.
42 Erfahrang.
Schäften zu richten, da in ihr die entscheidenden Mächte be-
merklicher hervortreten. Hier glauben wir sagen zu dürfen, dass
jeder, der sich einigermassen in die gewaltigen geistigen Kämpfe
einlebt, welche der ungemein schwierige Uebergang von der
aristotelisch -scholastischen zur neuern, von einer naiven zu einer
wissenschaftlichen Naturerklärung mit sich brachte, die Meinung,
dass die inductive Art der Forschung dabei den Ausschlag gegeben
habe, als unhaltbar fallen lassen wird. Die Induction setzt
voraus, dass die einzelnen Fälle für sich beobachtet werden
können und für sich ein bestimmtes Ergebniss liefern, dass dann
das Besondere sieh aneinanderreiht, ordnet u. s. w., bis ein
Ganzes gewonnen ist. Aber wie nun, wenn der ganze Boden
in's Schwanken geräth, wenn das Einzelne als festes und letztes
in Frage kommt, wenn alles Bestehende dem Blick des Forschers
sich auflöst, und es nun gilt, Elemente einer neuen Welt zu
ermitteln und in dem Wirrwarr bleibende reine Formen zu
unterscheiden? Wo es sich darum handelt, aus einer ungeheuren
Erschütterung ein festes erst herauszuarbeiten, um dann nach
neuen Zielen und von neuen Gesichtspunkten aus das Vorliegende
zu gestalten und zu begreifen, da steht die Induction vor über-
wältigenden Aufgaben , indem sie wohl ein Gegebenes auszubauen,
nicht aber eine Welt wesentlich und innerlich umzugestalten
vermag. Oder ist etwa die Kategorieülehre , in der sich die
neue Naturerklärung bewegt, bei Cartesius durch Induction
ermittelt worden? Ist etwa durch Induction die Aufgabe der
Forschung dahin bestimmt, dass durchgehend das Erscheinende
als ein Zusammengesetztes zu fassen und auf einfache Grundkräfte .
zurückzuführen, dann aber mit Hülfe der Idee der Entwicklung
wieder von ihnen abzuleiten sei? Und im Einklang mit einer
solchen theoretischen Bestimmung der Aufgabe war auch für die
wirkliche Arbeit der Forscher, jener Männer, wie Kepler und
Galilei, Cartesius und Newton, nicht die Induction, sondera die
Analyse das eigentliche Werkzeug des Fortschrittes. Darin sahen
sie vor allem ihre Aufgabe, das Verworrene der Erscheinung
zu zerlegen, um zu einfachen Kräften zu gelangen und von da
Erfahrung. 43
aus wieder zu dem Gegebenen hinzuetreben. Man ging so freilich
uur deswegen Ubei- dasselbe hinaus, um zu ihm zurückzukehren,
aber allein dadurch, dass mau sieh also denkend erhob, ward es
mög^lich, in ihm etwas anders zu sehen als man bis dahin gesehen
liatte, konnte man das, was unverändert aufgenommen in Gewirr
und WidOTsprÜehe verwickelte, nunmehr als Produkt festhalten
und begreifen.
Dabei war natürlich eine genaue Feststellung des Gegebenen
und eine stete Beachtung desselben unbedingt erforderlieh, und
iDBofern hat die neue Naturwissenschaft unleugbar einen inductiven
Zug, aber für jene entscheidende Arbeit selber war die luduetion
durchaus unzureichend, da das, was fiir sie Gegenstand der Be-
obachtung wurde, selbst schon complicirt war, die Erfahrung
„Gesetz und Ausnahme zugleich gewahr werden Hess" (s. Goetlie,
Ausg. letzter Hand 50, 160), und daher die Umstände, unter
denen sie entscheiden konnte, erst anderweit herzustellen waren.
Erkenntnisse wie das sog. Trägheitsgesetz, das Gesetz der Er-
haltung der Kraft u. e. w. sind nicht von einzelnen Daten aus in
allmähligem Aufsteigen gefunden, denn dieselben alle enthielten
zunächst mehr oder weniger scheinbar Widersprechendes, sondern
sie sind nur dadurch möglich geworden, dass die Forseher die Ge-
sammtheit mit Überschauendem Blick zu umspannen wussten, das
Mannigfache nicht nach Art eines Aggregats, sondern als System
erfassten, im Denken Reihen fiir sich in's Unendliche verfolgten
und durch das alles einen Standpunkt gewannen, von dem sie,
unangefochten durch jene scheinbaren Widei-sprüche , eine neue
■ Welt bilden konnten. Auf diesem Wege sind alle jene grossen
Entdeckungen gemacht, die wir staunend bewundem. - Auch der
mathematische Charakter der neuem Naturwissenschaft ist ein
Zeugniss ftlr diese Auffassung. Wenn das Wort Kant's, dass in
der Naturwissenschaft nur so viel Wissenschaft als Mathematik
enthalten sei, richtig und damit die Erkenntniss der Gesetze
tmd Formen als das erste hingestellt ist, so mues sieh die Induction
mit dem zweiten Platze begnügen. Denn das MiitlieiiuitisLlie
weist sclion durch den Grundbegriff des reinen Quantum^^ |iriiicipii>ll
44 Erfahrung.
über sie hinaus. Und tkatsäclilicli ist der erste Forscher, welcher
mathematische Naturgesetze aufgestellt hat, Johann Kepler, nicht
auf grader Landstrasse von den Phänomenen aus dazu gekommen,
sondern nach genügender Orientirung in der Welt hat er zunächst
die Möglichkeiten ausgerechnet, hypothetisch die Consequenzen
entwickelt, und ist dann erst wieder an die Erfahrung hinan-
getreten, um zu vergleichen und zu entscheiden. Nur weil der
Geist mathematisches in steter innerer Thätigkeit hei'vorbringe,
hielt er es für möglich, dass derselbe in der Natur Gesetze finden
könne, weswegen auch ausdrücklich ein solches Erkennen als
Wiedererkennen*) bezeichnet wird. Dieser von ihm verwandten
Methode standen auch die andera grossen Forscher weit näher als
der von Baco empfohlenen. Mochte ein Mann wie Newton durch
manche Aeusserungen sich scheinbar als Anhänger der inductiven
Richtung bekennen, ein anderes ist die Meinung des Forschers
von seiner Methode, ein anderes die Methode selbst: in seinem
wirklichen Verfahren stimmt Newton mit Kepler und Cartesius
weit mehr tiberein als mit Baco und Locke. Es erregt bisweilen
Verwunderung, dass ein Forscher, der die Methode der Natur-
wissenschaften so richtig erkannt habe wie Baco, die Wissenschaft
selber durch eigne Arbeit so wenig gefördert habe, aber das
Problem fällt dahin, weil jene Annahme unrichtig ist. Baco hat
im einzelnen manche Processe und Methoden der Naturwissenschaft
riclitiger erkannt und diese Erkenntniss mit der ganzen Lebhaftig-
keit und Anschaulichkeit seiner Art zur Geltung gebracht, aber
seine Methodenlehre als ganzes betrachtet entspricht weder der
wissenschaftlichen Arbeit der Neuzeit**) noch konnte sie bei der
damaligen Lage der Wissenschaft fruclitbringend wirken.
*) S. op. V, 216: idoneam invenire in sensibilibus proportionem est dete-
gere et agnoscere et in lucem proferre similitudinem illlus proportionis in
sensibilibus cum certo aliqno verissimae harmoniae archetypo, qui intus est
in animo. Ueberhaupt sollte die Keplersche Erkenntnissielire, die namentlich
im 4. Buch der harmonice mundi entwickelt ist, nicht so ganz über der
Baconischen vergessen werden.
**) Es erhellt dies allein schon aus der Geringschätzung der Mathematik.
Erfahrung. 45
Kurz wir glauben, dass man die Eigentliümlichkeit der neuern
Naturwissenschaft yerkennt und namentlich die eminente Denk-
arbeit, die sie enthält, unterschätzt, wenn man sie als vornehmlich
durch Induction geschaffen hinstellt. War einmal die Bahn ge-
brochen, so konnte die Induction die Arbeit des Tages ausrichten,
und es hat nichts befremdliches, dass sie dabei weit mehr in*s
reflectirende Bewusstsein trat als Operationen von überlegener
Macht und Bedeutung. Denn gerade das Hervorragendste, wie es
nicht von der Reflexion aus geschaflfen wird, entgeht ihr, während
es geschieht, ja nachdem es geschehen ist, und das Bild des Ganzen
bleibt damit hinter der Wirklichkeit zurück. Wollen wir also nicht
nothwendige Bedingung und entscheidende Kraft gleichsetzen oder
aber dem Begriff inductiver Forschung einen so weiten Sinn geben,
dass er etwas selbstverständliches aussagt, so werden wir dieselbe
andeiTi Methoden neben- und unterordnen müssen.
Nun aber soll auch auf das Geistesleben jene Methode über-
tragen werden, indem der Erfahrung des Aeusseiii sich eine des
Inneni beigesellt. Natürlich wird dabei nicht das vertheidigt, was
die Mystiker unter innerer Erfahrung verstanden *) ; dass es zu
einem Widerspruche führe, etwas, das sich den wesentlichen Be-
dingungen und Formen des Erkennens entzieht, wie eine solche
innere Erfahrung, nun doch als Quelle einer Erkenntniss und
zwar einer alle sonstige Einsicht übersteigenden Erkenntniss
geltend zu machen, darüber kann in wissenschaftlichen Kreisen
kein Zweifel sein. Wenn demnach innere Erfahrung und Er-
fahrung des InneiTi bestimmt geschieden sind, so hat zunächst
das Verlangen, die letztere zur Feststellung des Weltbildes mitbe-
stimmend heranzuziehen, seine volle Berechtigung; aber zu einer
sehr problematischen Behauptung wird die Sache, wenn die
specifische Gestalt, welche der Begriff der Erfahrung in der
Erforschung der Aussenwelt erhalten hat, ohne weiteres hierher
*) Den Ausdruck hat also in unserer Sprache namentlich Weigel
aufgebracht („innere Erfahrenheit* und „innere Erfahrung**), s. z. B. christK
Gespräch vom wahren Christenthum 2. Cap.
46 Erf abrang.
tibertragen und gar für Methoden, welche selbst dort nur mit
und nach andern Verwendung finden, hier eine ausschliessliche
Herrschaft verlangt wird.
Vor allem ist doch wohl, bevor das bei der heute vor-
herrschenden Strömung anlockende Losungswort der in^uctiven
Psychologie ausgegeben wird, zu fragen, ob denn auch die Be-
dingungen der Anwendbarkeit der inductiven Methode wenigstens
in dem Umfange gegeben sind, wie es bei der Erforschung der
Natur der Fall ist; wenn anders die Methode sich nach der
Beschaffenheit des Objectes zu richten hat, und nicht dieses einer
Tendenz zu Liebe in ihm nicht angemessene Formen gezwängt
werden soll. Nun aber ist thatsächlich in diesem Punkte in grosser
Unterschied zwischen der innern und äussern Welt unverkennbar.
Die Phänomene der erstem ordnen sich nicht unmittelbar zu
einer zusammenhängenden, beharrenden und allen Beobachtern
gemeinsamen Welt, so dass es, wenn auch eine Wahrnehmung
des Innern, so doch keine innere Anschauung gibt, und auch
das, was wir erlebt haben, in der foi'tschreitenden Bewegung
des Ganzen steter Umwandlung ausgesetzt ist.*) Die einzelnen
Erscheinungen sind überhaupt nicht relativ abgeschlossen gegeben
imd daher auch nicht losgelöst für sich festzustellen, sondern
sie werden immer durch den Zusammenhang und das Gesammt-
geschehen beeinflusst, und dabei tritt doch niclit einfach ein
Allgemeines aus dem Einzelnen heiTor und nimmt es ohne Rest
in sich auf, sondern es bewahrt das Einzelne in aller Verbindung
eine gewisse Selbstständigkeit Damit aber stehen wir Problemen
gegenüber, denen die inductive Methode durchaus nicht ge-
wachsen ist
«
Deshalb wird natürlich nicht bezweifelt, dass die Induction in
*) Mit. Becht sagt Herbart 6, 358^: Jedes Factum, das man als aus
früherer Zeit her durch das Bewusstsein bekannt, oder überhaupt als schon
geschehen und vor Augen liegend annimmt, kann in Zweifel gezogen werden,
ja es muss bezweifelt werden , wegen der Schwankung aller innern Wahr-
nehmung und. wegen der äussersten Leichtigkeit, in ein solches Factum
durch Erschleichung etwas hineinzuschieben.
Erfahrung. 47
nerlialb der Psycliologie eine erhebliche Bedeutung habe*), aber
soviel wie in den Naturwissenschaften vermag sie nur auf dem
Grenzgebiet zwischen Natur und Seele zu leisten; sobald das
Problem ein speeifisch-psychologisches wird, ist die Induction in
engere Schranken gebannt Man möchte z. B. fragen, wie etwa
eine Moral oder Religion aus den psychischen Phänomenen in
inductiver Weise begründet werden sollte. Etwa durch Zusammen-
stellung des • Gleichartigen und Aufsteigen zu allgemeinen Sätzen?
Aber um nur zu entscheiden, was an Material hierher gehört,
muss schon ein Urtheil gebildet sein, und um das Gleichartige,
was hier doch ein innerlich Gleichartiges sein muss, herauszufinden,
muss man sich über Ziele vergewissert haben? Oder soll hier
etwa der Durchschnitt das Gesetz geben? Aus allem dem dürfte
zur Genüge hervorgehen', auf welch schwankendem Boden eine
inductive Psychologie als System stehen würde, und wie verkehrt
es wäre, auf einem solchen Boden die ganze Philosophie auf-
zubauen. Ja wenn das, was der Wahrnehmung und Beobachtung
unmittelbar vorliegt, reine Thatsache wäre, während es vielmehr
schon durch unsere Auffassung hindurchgegangen und in die
Verbindungen und Gestaltungen gebracht ist, worin es uns jetzt
entgegentritt. Eine Umbildung des ursprünglich Thatsächlichen
beginnt nicht erst der Metaphysiker, der dann freilich nicht genug
*) Gegen eine empirische Psychologie, insofern sie nur eine Vor-
-hereitnng zur Philosophie sein will, haben wir nicht nnr nichts einzuwenden,
sondern verlangen sie unsererseits, aber die Beschreibungen, Classificationen
nnd Analysen, die sie zu geben vermag, bringen noch keine Wissen-
schaft zu Stande und führen nicht zu einer letzten Scheidung des That-
sächlichen und Hinzugedachten. Und dann mögen wir hier immer der
Mahnung Schelling^s (III, 282) eingedenk sein: ^Dass nur jene warmen
Lobpreiser der Empirie, die sie auf Kosten der Wissenschaft erheben,
dem Begriff der Empirie treu uns nicht ihre eignen Urtheile und das.
in die Natur Hineingeschlossene , den Objecten Aufgedrungene für Empirie
verkaufen wollten ; denn so viele auch davon reden zu können glauben, so
gehört doch wohl etwas mehr dazu, als viele sich einbilden, das Geschehene
aus der Natur rein heraus zu sehen, und treu so wie es gesehen worden
wiederzugeben."
48 Erfahrung.
zu tadeln wäre, sondern der denkende Mensch voUzielit sie,
wenn auch unbewusst, von Anfang an, und so finden wir in dem
Vorliegenden schon Ergebnisse, vielleicht sehr verwickelte Er-
gebnisse, deren thatsächlicher Gehalt und deren einfache Elemente
erst durch philosophische Methoden erjnittelt werden können.
Der Gedanke hat ja etwas bestechendes, von dem Seelenleben
als dem nächstliegenden und uns zugänglichsten auszugehen und
alle weitere Erkenntniss an das hier Grcwonnene anzuknüpfen^
und in dem Sinne hat er volle Berechtigung, dass in dem
denkenden Bewusstsein, nach dem Ausdruck des Cartesius, der
archimedische Punkt ftir die Philosophie zu suchen ist , aber wenn
man den specifischen Inhalt des menschlichen Lebens zum Aus-
gangspunkt nimmt, so steht die Thatsache entgegen, dass gerade
das Nächstliegende unserer Erkenntniss die allergrössten Schwierig-
keiten bietet. Die ganze Entwicklung des geistigen Lebens zeigt,
dass die Bewegung nicht vom Mikrokosmus zum Makrokosmus,
sondern von diesem zu jenem fortgehe; die Wahrheiten, welche
der denkende Geist erfasste, hat er zuerst immer auf die ganze
Welt bezogen und dann erst zum Yerständniss seiner selber zu
verwenden gesucht. Erst wenn ihm so die Wahrheit als ein
weltbeherrschendes gegenüberstand, hat sie Kraft genug gewonnen,
auch das Innere zu gestalten, und es hat dann freilich jede
grosse Einsicht in das Ganze sich dadurch als wahr und kräftig
erwiesen, dass sie uns über uns selbst aufklärte. Daher ist nun
einmal, wir mögen es gut oder übel finden, die Psychologie von
der Gesammtphilosophie, ja von der Metaphysik abhängig; ver-
folgen wir etwas eingehender ihre Geschichte, die Bildung der
GrundbegriflFe, ja selbst die Ausprägung der Terminologie; wir
werden alles das von den grossen Gesammtbewegungen abhängig:
finden, wir werden sehen, dass überall selbst das, was man als
. Thatsache zu erkennen glaubte, bedingt war von Standpunkt
und Zusammenhang der Beobachtung. Denn hier drängen sieh
die Erscheinungen nicht von Anfang an der Betrachtung auf,
sondern sie harren des Beobachters und treten erst ins Gesichtfeld,
nachdem die Aufmerksamkeit auf den Punkt gerichtet ist. Was
Erfahrung. 49
dann einmal entdeckt ist, scheint selbstverständlich, während doch
der Umstand das Gegentheil bezeugt, dass vieles, was jetzt jeder
unmittelbar und augenscheinlich zu sehen glaubt, im Gange
der wissenschaftlichen Arbeit erst spät zum Bewusstsein gekommen
und noch später zur deutlichen Ausprägung gelangt ist. Sehen
wir genau zu, so stellen sich unsere Vorstellungen von der Seele
im Grunde als Theorien und Hypothesen heraus (wie ja auch der
BegrilT der Seele pelber empirisch angesehen eine Hypothese ist),
abhängig von der allgemeinen Beschaffenheit unseres Denkens,
abhängig aber auch von den geschichtlichen Gestaltungen; und
unter dem Einfluss solcher Theorien steht nun unsere Beobachtung.
Es kann daher nicht genügen, um zu dem Thatsächlichen durchzu-
dringen, einfach die Metaphysik der Philosophie bei Seite zu
lassen, da wir uns damit nur unter den Einfluss einer uncontrolirten
Metaphysik stellen würden.
Und damit sind wir bei dem entscheidenden Punkt der
ganzen Erörterung angelangt. Das Denken hat entschieden nicht
das mindeste Recht, über den Standpunkt des gewöhnlichen
Empirismus hinauszugehen und von sich aus an dem Gegebenen
eine Umwandlung vorzunehmen, wenn das, was uns vorliegt, etwas
rein thatsächliches ist; es hat aber nicht nur das Recht, sondern
die Pflicht, dies zu thun, wenn wir in demselben schon eine
bestimmte Auffassung von der Welt anzuerkennen haben, die
erst durch die Denkarbeit auf den thatsächlichen Bestand zui-tick-
geführt wird. Das Denken will sich also nicht zu seinem Belieben
eine Phantasiewelt neben der wirklichen schaffen, sondern durch
seine Thätigkeit den anfänglichen Fehler verbessern und das
Vorgefundene gewissermassen in integrum restituiren.
Mag man als Inhalt dieser Thätigkeit nun mit Leibnitz die
Ueberflihrung der confusen Erkenntniss in eine distincte, oder mit
Kant die Auflösung des Zusammengesetzten in seine Factoren
und die systematische Verbindung der reinen Elemente, mag man
mit den Idealisten sie als Umwandlung des Ruhenden und
Zerstreuten in einen Gesammtprocess oder mit Herbart als Ent-
feraung der Widersprüche aus den Erfahrungsbegriffen fassen,
Eucken, Geschichte und Kritik. 4
50 Erfahrung.
oder mag man noch andere Wege einschlagen; gemeinsam ist die
Ueberzeugung, dass es ein Irrthum sei „einen Begriff schon
darum, weil er gegeben ist, für gesund zu halten" (s. Herbart HI,
82), dass aus zwingenden Gründen das Gegebene nicht so beibehalten
werden könne wie es gegeben ist, und dass es daher ein prin-
cipieller Fehler sei, nicht zur metaphysischen Umarbeitung fort-
zugehen.^) Indem der Empirismus einfach mit dem Gegebenen
abschliesst, spricht er eine These aus, [die darum nicht weniger
positiv ist, weil sie in dem Verbot, über die Erfahrung hinaus-
zugehen, zunächst die Negation heiTorkehrt, und die nicht weniger
einen metaphysischen Charakter hat, weil sie das letzte Sein oder
doch das letzte uns zugängliche Sein mit der Erscheinung zusammen-
fallen lässt.**) Darin aber liegt die Stärke dieser These, dass
sie unmittelbar einzuleuchten scheint, und dass die Macht dieses
Eindruckes sich dann gegenüber dem Denken behauptet. Offenbar
ist der Geist zuerst wie eine leere Tafel, nach und nach erst
sehen wir Einsichten sich bilden, nach und nach sich das Einzelne
zusammenhängend ordnen, auch die Formen, welche der Kantischen
Philosophie etwas festes und mit einander gegebenes waren, sind
in einzelne Elemente aufgelöst und in die Entwicklung hinein-
gezogen ; überall aber zeigt sich diese Entwicklung als von aussen
angeregt und bestimmt, und woher anders als von aussen sollte
überhaupt der Inhalt kommen, wenn nicht die übelberufenen an-
gebe men Ideen eine Zuflucht bilden sollen? Damach ist nur
soviel im Geist, als er früher oder später von aussen aufgenommen
hat, nur soviel Wahrheit hat die Erkenntniss, als sie die draussen-
liegenden Thatsachen spiegelt, allein durch die Beziehung auf
dieselben wird sie verificirt. Da wir aber dieses Aufnehmen von
*) Am nachdrücklichsten hat dies Herbart geltend gemacht. £r findet
(VI, 314) den Ursprung der falschen Metaphysik darin, „dass man die
Grundbegriffe der Erfahrung gerade so lässt, und für gut annimmt, wie
sie der psychologische Mechanismus zuerst zu Tage fördert. Er besteht in
der Unterlassungssünde, dass man zur wahren Metaphysik nicht fortschreitet. **
**) Man könnte hier an das Wort Plato's denken: roffovTt^ [xaXkoy
tlaiv, oloi 0V7C oioyrai, ort ov;|fl otoytai (Theaet. 176 D).
Erfahrang. 5 1
aussen Erfahrung nennen, so ist das Gesammtergebniss, dass alles
Erkennen aus der Erfahrung stammt, und dass es ebenso thörieht
wie vergeblich ist, darüber mittelst Speeulation hinausgehen zu
wollen.
Das ganze ßäsonnement scheint einfach, ja allzu einfach,
deim es könnte wohl einer sich darüber Bedenken machen, wie
es denn möglich war, dass Männer, wie z. B. Leibnitz und Kant,
eine so einleuchtende Sachlage verkannten; und einmal in solche
Bedenken hineingekommen, könnte er sich dann leicht weiter zu
fragen veranlasst fühlen, ob nicht mehr als die Verkennung
greifbarer Thatsachen die verschiedene Deutung und Werthschätzung
eben dieser Thatsachen Grund des Streites gewesen sei. Und
so verhält sich die Sache in Wirklichkeit. Dass die Dinge sich
äusserlich so darstellen, wie der Empirismus behauptet, geben
auch die andern (wenn auch freilich mit einzelnen Verwahrungen)
zu, aber dass dieses äusserlich Geschehende mit dem wesentlichen
Geschehen einfach zusammenfalle, das scheint ihnen nicht von
vom herein ausgemacht. Sie läugnen nicht, dass der Geist
anfänglich, von aussen betrachtet, als leere Tafel *) erscheint, aber
sie nehmen daran Anstoss, ein Wesen ohne irgend welche Thätigkeit
zu setzen, und meinen auch, dass gar kein Wirken von aussen
hineinkommen könnte, wenn es nicht durch ein inneres auf-
genommen würde; dass der Geist im Verhältniss zu den Dingen
nur leidend aufzunehmen seheint, entgeht ihnen nicht, aber genauer
beti-achtet dünkt ihnen der Begriff eines reinen Leidens, indem
er Wirkung ohne Gegenwirkung voraussetzt, unerträglich, und
so sind sie darauf bedacht, durch tieferes Eingehen auf die
Sache und schärfere Analyse der Processe auch ein Thun des
Geistes in seinem Zusammensein mit den Dingen zu er-
*) Von Seite specnlativer Philosophen Ut oft daranf aufmerksam
gemacht, dass hier die Vorstellung den Geist im Gmnde als etwas körper-
liches fasse, so z. B. von Nikolaus Taurellns *, anch Leibnitz meint in weiterer
Fassung der Frage 223 a: Täme a-t-elle des fendtres, rassemble-t-elle ä des
tablettes? est -eile comme de la cire? II est visible, que tons ceux qni
pensent ainsi de Täme la rendent corporelle dans le fond.
4*
52 Erfahrang.
•
weisen *) ; die Gestaltung des schliesslich vorliegenden Gresammt-
Inhaltes von einfachen Elementen her erkennen sie bereitwillig
an, können aber nicht auf die Frage versichten, ob diese Grestaltung
lediglich von aussen bedingt werde und die Verknüpfung des
Mannigfaltigen nicht auch auf innere Gresetze hinweise; die Er-
fahrung sind sie bereit so hoch wie möglich zu schätzen, aber
es wird ihnen Problem zu erörteiii, was sie schon voraussetze,
und zu fragen, ob sie selbst nicht schon zusammengesetzt und
daher in verschiedene Factoren zu zerlegen sei.
Aus allem dem entsteht ein ganz anderes Problem als dasjeiüge
war, von dem der Empirismus ursprünglich ausging ; nicht darum
handelt es sich, wie das Erkennen psychologisch betrachtet
entstehe, und ob es von der Erfahrung anhebe und an die Er-
fahrung geknüpft sei, sondera darum, woher das in der Erfahrung
Erkannte ursprünglich stamme, und wie sich darnach die Ansicht
vom letzthin Thatsächlichen zu gestalten habe. Der Streit bewegt
sich also nicht um eine Feststellung des phänomenal Geschehen-
den, sondern darum, wie das Geschehen selber endgültig zu
beurtheilen, und wie auf Grund einei» solchen Urtheils das schliess-
liehe Wirken und Sein zu fassen sei. Es ist daher durchaus
verkehrt, wenn der Empiriker seine Gegner sich gegen jenes erste
Faktische wenden und sie etwas bekämpfen lässt, was ex-
perimentell erhärtet werden kann.**) Auch hier hat Kant die Sache
auf den richtigen Ausdruck gebracht (s. VIII, 536), wenn er die
Frage, ob alle Erkenntniss von der Erfahrung anhebe, als quaestio
facti sorgfältig von der quaestio juris unterschied, ob sie auch
allein von der Erfahrung, als dem obersten Erkenntnissgrunde,
abzuleiten sei. — Wir lieben es nun heute auch bei diesem
*) Die Empiriker sprechen immer davon, dass die Dinge gegeben
seien, aber es mnss doch auch etwas sein, dem sie gegeben sind. Oder
es heisst, dass es sich so und so in der Welt findet, aber wer and was
ist denn der Findende?
**) Der Gegensatz zwischen Locke und Leibnitz ist nicht so nn-
versöhnlich wie er gewöhnlich gilt. Der eine kann zuerst, der andere zaletzt
Recht haben.
Probleme nicht, Kechts- und Thatfrage schroff auseinander-
zureissen, aber daraus folgt denn doch noch nicht, daes sie
einfach vermengt werden soUen. Jedenfalls nimmt durch das
Aufwerfen der BechtBfrage die Forschung einen andern Inhalt
und einen andern Charakter an. Ueber da^ Einzelne kann nun
nicht mehr unmittelbar entschieden werden, sondern es muss sich
. im Zusammenhange rechtfertigen, Art und Grund des Zusammen-
hanges aher mllssen selbst in systematischer Betrachtung erörtert
werden.
Zunächst ändert sieh gegenüber der psychologischen Unter-
suchung, die sieh mit dem empirischen Entstehen der Erkenntniss
befasst, in der transscendentalen, weiche den Ursprung, und der
metaphysischen, welche die letzte Bedeutung desselben ergründen
möchte, der Ausgangspunkt der Forschung. Dort musste, bei
dem empirischen Fortschreiten der Bildung ron Aussen nach
Innen, von der Welt als einem Objectiven ausgegangen werden,
hier, wo es sieh um den letzten Ursprung handelt, ist der Geist
das Erste. Dort musste man femer einfach beobachtend schildern,
was in dem Process vorgeht und bei dem Vorliegenden sieh be-
friedigen; hier, wo es gilt, Greist und Welt auseinanderzusetzen
und zu den letzten uns erreichbaren Thatsaehen vorzudringen,
darf jenes nur als Erscheinung gelten und muss geprüft und
umgestaltet sein, um anerkannt zu werden. Eine solche Be-
stimmung der Aufgabe und die damit verknüpfte Umwandlung
der beschreibend ^gregirenden Forschung in eine analytisch-
systematische muss aber alle einzelnen Begriffe wesentlich ändern.
Der Empiriker pflegt sich auf Thatsaehen zu berufen j d. h.
auf „Gegenstände für Begriffe, deren objective Realität — bewiesen
werden kann" (s, Kant V, 482), aber was wird denn überhaupt
von diesem Begriff umfasst? Nur das einzelne Geschehen in der
Aussenwelt? Oder gibt es auch allgemeine Thatsaehen, gibt es
auch innere Thatsaehen ? Und ist Kant l'ilr einen pliautastisclien
Schwärmer zu erachten, wenn er auch eine Vemunftidee, nämlieh
die Idee der Freiheit, als Tliatsaclie an^eehen wiseen wollte?*)
•) S. Kant V, 48a.
54 Erfahrang.
Dann aber, und das ist hier das Wichtigste, sind die Er-
scheinungen, wie sie unmittelbar dem Bewusstsein vorliegen,
schon reine Thatsachen? Wie jeder Forscher in seinem Gebiet
nach seiner Art, so wird der Philosoph in der letzthin zusammen-
fassenden und abschliessenden Untersuchung das behaupten, dass
erst durch die Arbeit des Denkens aus den Erscheinungen die
Thatsachen zu ermitteln sind*), dass diese Aufgabe nur in der
Würdigung des Ganzen mit Erfolg behandelt werden kann, und
dass die einzelnen Data nur durch den Zusammenhang ihre
feste Bedeutung gewinnen.**)
Aehnlich aber wie der Begriff der Thatsache gestaltet sich
auch der der Verification um. Gewöhnlich wird dabei an eine Ver-
gleichung des Vorstellungsinhaltes mit dem draussen liegenden
Object gedacht, aber diese Bestimmung gentigt schon den ein-
zelnen Wissenschaften nicht. In der Mathematik z. B. wird man
nur durch die Consequenz des Denkprocesses selber, der das
Problematische auf unmittelbare Einsichten zurückführt, sich tiber
Wahrheit oder Unwahrheit vergewissem können.***) In der
Philosophie aber, wo nicht nur die (Jesammtheit der Aussenwelt
als solcher, sondern das Wissen überhaupt in Frage gestellt werden
kann, werden sich ganz neue Probleme eröflftien, die nur von
*) Mit Recht sagt Schelling (10, 228), dass in allen möglichen Unter-
suchnngen die Aasmittlung der reinen, der wahren Thatsache das Erste und
Wichtigste, aber auch zugleich das Schwerste ist
*^) Der Ausdruck Thatsache ist abgesehen von anderem insofern ein
unglücklicher, als er etwas als festbegründet und für sich abgeschlossen
erscheinen lässt, das noch der Probe zu unterwerfen ist. Das Wort findet
sich erst in der zweiten Hälfte des IS. Jahrhunderts (so z. B. in Lessing's
Streitschriften gegen Grütze, bei Herder u. a.); noch Adelung wollte es
verbannen als «unschicklich und wider die Analogie zusammengesetzt
und „der Missdeutung unterworfen.* Fichte drang der Thatsache gegenüber
auf den Begriff der Thathandlung.
'^**) Der erste Philosoph, der sich eingehender mit dem Problem der
Verification in der Gesammtwissenschaft beschäftigt zu haben scheint, Roger
Baco, hat die Mathematik als Mittel der Verification der übrigen Erkenntniss
und im besondem der Naturwissenschaft hingestellt, s. specula mathematica
dist. I.
Eriahmng. 55
einer systematischen ForBcfaung aufg:eiiommen und so weit geführt
werden können als uns Überhaupt möglicli ist. Die Meinung, hier
dureh ieoÜrte Data principielle ■ Fragen lösen zu können, wird
entschieden zurückzuweisen sein.
Und nun endlich der Begriff der Erfahrung selber, aus der
alle Erkenntniss vermeintlich stammt Soll das heiBsen, dass wir
alles, was wir wissen, aus der im Verhältniss zur Welt sich
gestaltenden und wirkenden Thätigkeit des Denkens gewinnen,
so wird niemand etwas einzuwenden haben ; Versteht man darunter,
dass die Thätigkeit immer an die> entgegenstehenden Objeete ge-
bunden sei, so wird die Behauptung schon problematischer, und
nieht nar ein Blick z. B. auf die Ethik ^), sondern auch auf die
reine Mathematik könnte daran Zweifel erregen; soll aber gar
behauptet wei'den, dass in dem Zusammensein der Geist alles
von aussen ohne gestaltende Thätigkeit seinerseits letzthin erhalte,
so haben wir nieht mehr eine Darstellung erscheinungsmässiger
Vorgänge, sondem eine specifisch dogmatische These über ihren
Gehalt**), eine These, deren gewöhnliche Beweisführung an einer
steten petitio principii leidet. Denn dabei pflegt die Aussenwelt
als eine gegebene und an den Geist fertig herantretende angesehen
zu werden ; dieses aber, was dem unphitoeophisehen Bewusstaein
als selbstverständlich erscheinen mag, steht ja eben in Frage,
*) 8. Kant 111, 260: la Betracht der Natnr gibt ans Erfahrung die
Regel an die Hand nnd ist der Qnell der Wahrheit, in Ansehung der
sittlichen Gesetze aber ist Erfahmng (leider!) die Halter des Scheins, nnd
es ist höchst Terwerfiich, die Gesetze über däs, was ich thn.n soll, von dem-
jenigen herzunehmen oder dadurch einschränken za wollen , was gethan
»*) Dabei ist anch der Sprachgebrauch, der Erfahrung nnd Vernunft
einander gegenüberstellt, and das, was nai dnrcb die wissenschaftliche
Thätigkeit Bedeutang fUr die Erkenntniss gewinnt, als ein ihr gegenüber
fertig nnd fest gegebenes ansieht, irreleitend; mit Recht bemerkt in Besng
darauf Boyle (the Christian virtuoso gegen Sohlnss) : When ne say, experieuce
correots reasoQ, 'tis an iiDpropor wiiy of apeakin»;; siiice 'tis rc^tcriTi itaelf,
that apon the intonuatiou of exporlence corrects the judgmeüt it had
made before.
56 Elf abrang.
denn es handelt sich gerade darum, ob wir in dem Aufnehmen
oft nicht etwas nur wieder erhalten, was wir selbst in die Welt
hineingelegt haben, und ob nicht der Empiriker etwas vergisst, was
doch auch mit zur Erfahrung gehört: den Beobachter.
Ebenso mehrdeutig ist es, wenn verlangt wird, dass wir
nicht über die Erfahrung hinausgehen sollen. Ist der Sinn, dass
die Erscheinungen, so wie sie uns gegeben sind, unverändert zu
lassen sind, so ist damit nicht nur die Philosophie, sondern
jegliche Wissenschaft zerstört, denn ein jedes Wissen muss, indem
es Gesetze und causale Verbindungen zu ermitteln und das Zu-
sammengesetzte der Erscheinung aufzulösen, das Zerstreute zu
verbinden sucht, über das unmittelbar Vorliegende hinausgehen
und es umgestalten. Die constructiven Philosophen hatten voll-
kommen Recht, wenn sie, diese Bedeutung von Erfahrung voraus-
setzend, den Begriff der Erfahrungswissenschaft angriffen*) und
geradezu einen Widerspruch darin sahen, die Erfahrung selbst,
deren Wesen eben darin bestehe, nie auf ein Princip zu führen,
zum Princip und zwar zum obersten in der Philosophie zu machen,
s. Schelling, VI, 78; nur darin gingen sie fehl, dass sie einen
solchen Begriff von Erfahrung irgend einem wissenschaftlichen
Kopfe zutrauten. Natürlich soll es die wissenschaftliche Erfahrung
sein, zu der man sich bekennt, aber nun entsteht die Frage, ob
dieselbe nach dem eben Bemerkten nicht schon eine selbstständige
Thätigkeit des Geistes voraussetze, und der Vorkämpfer einer
solchen Erfahrung sich in eine Bewegung einlasse, die consequent
verfolgt noth wendig auch der Philosophie eine eigne Aufgabe
über der Erfahrung zuerkennen muss. Es geräth der Empiriker
in das Dilemma, entweder bei festgehaltener Leugnung der Thätig-
keit des Geistes sich auf die gemeine Erfahrung zurückgewiesen
zu sehen, oder das in der Philosophie in Abrede zu stellen, wofür
er in den einzelnen Wissenschaften eintritt, und die Folge davon
*) So nennt Schelling III, 282 den Begriff einer Erfahrangswissensehaft
einen „Zwitterbegriff, bei dem sich nichts Zusammenhängendes, oder der
sich vielmehr überhaupt nicht denken lässt Was reine Empirie ist, ist
nicht Wissenschaft, und umgekehrt, was Wissenschaft ist, ist nicht Empirie,*
Erfahrung. 57
ist ein stetes Schwanken in dem BegrilT der Erfahrung selber. Ist
aber einmal nm* das Recht zugestanden, die Form des Gegebenen
- umzugestalten, so ist der Frage nicht auszuweichen, ob nicht
eine solche Umgestaltung (ganz abgesehen von der Belativität der
Begriffe Form und Inhalt) auch materiell weiterführe, und sich
also die Denkthätigkeit in gesetzmässigem Fortschreiten proble-
matisch wie assertorisch über jene Grundlage erhebe.
Immer aber bleibt das hier für uns die Hauptsache, dass
Aufgaben und Ansprüche der Philosophie nur den Höhepunkt
der gesammten wissenschaftlichen Arbeit ausmachen, so dass sie
nicht als etwas ganz abenteuerliches abgewiesen werden dürfen.
Das gilt aber vor allem in der neuem Wissenschaft, die eine
weit freiere Stellung gegenüber dem unmittelbar Vorliegenden
einnimmt und mittelst ihrer Analyse 'das ganze naive Weltbild
umgeschaffen hat.^ Wenn nun die einzelnen Disciplinen die Frage
weder allgemein stellen noch sie bis auf den letzten Grund ver-
folgen, dieses eben aber die Philosophie unternimmt, so ergreift
sie damit ein noth wendiges und durchgehendes Problem der Er-
kenntniss und rechtfertigt erst die gesammte wissenschaftliche
Arbeit.*) Sie selbst aber gewinnt dadurch erst eine klare und
bestimmte Aufgabe, systematische Ordnung und eigne Methode;
nun erst treten die Fragen durch die philosophische Behandlung
in eine wirklich neue Sphäre ein ; die Grundbegriffe gestalten sich
um; Erfahrung des Aeussem und des Innern, die sonst ausein-
anderfallen, können nun zu einem Ganzen verbunden werden. Es
hört die Philosophie auf, ein Anhängsel anderer Wissenschaften,
eine blosse Krönung des Gebäudes oder gar ein Tummelplatz der
Einfälle des gemeinen Verstandes zu sein, sie wird vielmehr die
Wissenschaft der Wissenschaften, die recht eigentlich die Seele
aller erkennenden Thätigkeit bildet und ihr eine innere Einheit
^iebt.
Vom Standpunkt des Empirismus aus aber kann folgerichtig
*) Auch die specielle Art, wie in einer Zeilepoche jenes philosophische
Problem behandelt wird, steht in ebger Verbindung mit der Eigenthümlich-
keit der jeweiligen wissenschaftlichen Arbeit.
58 Erfahrung.
eine solche selbstständige Aufgabe der Philosophie und damit eine
Philosophie als eigenartige Wissenschaft nicht aufrecht erhalten
werden. Denn zum Begriff der Wissenschaft gehört doch wohl
eine systematische Verbindung von Erkenntnissen unter Principien^
sowie eine specifische Methode. Der Empiriker aber muss entweder
der Philosophie eine blosse Zusammenstellung der Ergebnisse der
andern Wissenschaften zuertheilen, oder sie auf Beobachtung der
psychischen Vorgänge, als auf ein specifisches Gebiet, einschränken;
im erstem Fall hätte man gar keine Wissenschaft, im zweiten
wenigstens keine Centralwissenschaft der Principien. Auf eine
eigne Methode für die Philosophie scheint aber der heutige Em-
pirismus nicht einmal Anspruch zu erheben , da er sich einfach
zu den Methoden bekennt, welche man als den Naturwissenschaften
eigenthümlich anzusehen pflegt. Offner aber als mit einem solchen
Verzicht kann man den Verzicht auf die Philosophie als eine
selbstständige Wissenschaft nicht wohl aussprechen.
Dem entsprechend ist denn auch der moderne Empirismus,^
seinen bisherigen positiven*) Ergebnissen nach betrachtet, wenig
über eine neue Formulirung und hypothetische Erweiterung natur-
wissenschaftlicher Erkenntnisse hinausgekommen. Sobald er sich
weiter von dem Boden der Naturwissenschaften entfernt, sieht
er sich auf den gemeinen Menschenverstand angewiesen, und so
könnte man wohl, ohne unbillig zu sein, sagen, dass, wenn auch
der Empirismus sowohl Wissenschaft als Philosophie enthalte^
beides nicht zusammenfällt: was hier Wissenschaft ist, ist nicht
Philosophie, und was Philosophie, ist nicht Wissenschaft.
Dem entsprechend hat der Einfluss des Empirismus in der
geistigen Bewegung der Gegenwart weniger in den specifisch
philosophischen Leistungen seinen Grund als in Strömungen all-
gemeiner Art Es wirkt vor allem eine Abneigung gegen alle
speculative und systematische Philosophie, die, zunächst gegen
*) Im Allgemeinen freilich ist die Negation weit überwiegend und die
Empiriker können den constmctiven Philosophen für ihre Verirmhgen gar
nicht dankbar genug sein.
\
Erfahrang. 59
Hegel und die construetiven Denker gewandt, dann weit über
diesen Anläse hinausgebt. Weniger klare Einsicht als dunkles
Gefühl liegt solcher Regung zu Grunde, es ist die Antipathie
gegen ein abstractes und bloss formales Wissen , gegen das ge-
waltsame Construiren aus angeblich reinen, in Wahrheit oft leeren
Begriffen, gegen die ganze Entfremdung der Philosophie von der
Positivität des Gegebenen. Dieser Vorwurf mag vornehmlich Hegel
im Auge haben, er trifft im Wesen die ganze systematische Philoso-
phie der Neuzeit, mit Ausnahme Kaufs. Durchgehend und zu-
nehmend ist hier alles Sein auf Operationen des Verstandes zu-
rückgeführt und mehr und mehr aller positive Inhalt der Welt
dahin aufgelöst. Dagegen ist nun der Bückschlag eingetreten,
der Durst nach einer realen und conereten Weltbegreifung ist
mächtig geworden, und da er in der Philosophie nicht Befriedigung
findet, hat er sich gegen sie gewandt und begünstigt alles das,
was der unmittelbaren Erscheinung naheliegt. — Die zu Grunde
liegende Tendenz halten wir für vollberechtigt und freuen uns
ihrer von ganzem Herzen, aber soll sie Bedeutung und Bestand
gewinnen, so muss sie sich einen Platz innerhalb der Philosophie
erkämpfen und nicht in allen Vorurtheilen der gemeinen Auffassung
stehen bleiben. So wie jetzt die Dinge liegen, mischt sich alles
mögliche zusammen, alles was sich idealistischen Bestrebungen
überhaupt abneigt, verbindet sich, um nicht diese oder jene
Philosophie, sondern alle systematische Philosophie zu bekämpfen-
Gegen solche Angriffe die Philosophie vertheidigen hiesse dieselbe
herabsetzen ; nicht darauf kommt es schliesslich an, wie die Zeit
über die Philosophie, sondern wie die Philosophie über die Zeit
urtheilt; nur an einem Punkte möchten wir gegen ein Missver-
ständniss kämpfen, das auch forschende Kreise ergriflfen hat:
gegen das Missverständniss der metaphysischen Aufgabe. Der
Ausdruck Metaphysik ist zu einem jener Schlagworte geworden,
die ruhiges Nachdenken nicht aufkommen lassen. Alles, was es
an Abstrusem, Willkürlichem, Leerem geben kann, wird auf einen
solchen BegriiT gehäuft, und die Wirkung ist damit gesichert
Nun ist allerdings der Terminus Metaphysik ein sehr unglück-
50 Erfahrung.
lieber, indem dadurch leicht die Vorstellung erwacht, als bandle
es sich um ein jenseits und ausserhalb aller Erfahrung liegendes
Wissen. Aber schon ein Blick in die Geschichte zeigt, wie wenig
berechtigt es ist, dafür nur einen einzigen hervorragenden Denker,
geschweige denn die gesammte Philosophie, verantwortlich zu
machen. Einem Missverständniss entsprungen, dann von neuplato-
nischer Seite auf das Transcendente übertragen*), ist der Aus-
druck in dem Sinne von Ontologie ein Lieblingswort der Scholastik
geworden und auch in der neuem Philosophie eben da, wo der
scholastische Geist sich am längsten erhielt, in der wolffischen
Schule, mit Vorliebe verwandt. Von hier aus hat, und zwar nicht
ohne Entstellung, Kant sich den BegriflF der Metaphysik gebildet,
den er bekämpft. Wenn nun aber nie ein hervorragender Denker
eine Freude an dem Ausdruck gehabt hat, so könnte. man darin
wohl ein Anzeichen erblicken, dass eine tiefere Aufgabe der Philo-
sophie durch die AngriflFe auf die „Metaphysik" nicht getrolTen
wird. Worauf alle systematischen Denker und solche voran,
*) Der Ausdruck ging bekanntlich zunächst aus der Stellung der
Schriften des Aristoteles hervor; wie schon Gassendi vermuthete, ist
wohl Andronikus Ehodius, der Ordner der aristotelischen Schriften, als
sein Urheber anzusehen. Dann aber bürgerte sich das Wort rasch zur Be-
zeichnung der Disciplin überhaupt ein (ra fztzd zä gjvaixa, ^ fnzd id qwaixcc
nqnyfjLttxda), die endlich durch den Neuplatoniker Herennius als Wissenschaft
von dem über der Natur Liegenden verstanden wurde (s. Brandis, Abh.
der Berl. Akad. 1831, p. 80: fxtrd zd, q)vaixd XiyoyTui cctisq (pvCEiag vnsQtiQTai
xai vntQ ahiav xai Xoyoy Biaiv), Die Singularfonn metaphysica ist wohl
erst im 13. Jahrhundert bei den Häuptern der Scholastik nachzuweisen.
Uebrigens bedeutet Metaphysik im Mittelalter keineswegs eine Wissenschaft
vom Jenseitigen, und selbst für Wolff trifft die kantische Ansicht von der
Metaphysik nicht zu; s. Kant VIII, 576: ^Der alte Name dieser Wissenschaft
fjiixtt xa (pvaixcc gibt schon eine Anzeige auf die Gattung von Erkenntniss,
worauf die Absicht mit derselben gerichtet war. Man will vermittelst ihrer
über alle Gegenstände möglicher Erfahrung (trans physicam) hinausgehen, um
womöglich das zu erkennen, was schlechterdings kein Gegenstand derselben
sein kann."* Die alte Metaphysik ist vielmehr im Anschluss an die aristot.
Metaphysik die Lehre von den allgemeinen Bestimmungen des Seienden,
weswegen von Clauberg dafür der Name Ontosophie oder Ontologie vorge-
schlagen wurde, s. proleg. zur metaphysica de ente quae rectius ontosophia.
£rfabrang. 6 1
welche den schulmässigen Begriff der Metaphysik bekämpften,
Werth gelegt haben, das ist eine selbstständige Principienlehre der
Philosophie. Aus dem Ausdruck der Metaphysik kann man
höchstens folgern, dass diese noth wendige Aufgabe sich in ge-
wissen Köpfen falsch darstelle, nicht aber, dass sie an sich eine
verfehlte sei. Ebenso gut, wie man dem systematischen Philo-
sophen vorwirft, dass er das, was tlber der Welt liege, erforschen
wolle, könnte man sagen, dass er das untersuche, was vor der
speciellen Erkenntniss liegt, die allgemeinen Bedingungen der Er-
kenntniss, richtiger aber ist es, hier alle Bestimmungen äusserer
Art bei Seite zu lassen und die Aufgabe nach dem Wesentlichen
und Begrifflichen zu bemessen.
Der systematische Philosoph will in keiner Weise die Erfahrung
missachten, nur kann er die Sätze „nicht ohne Erfahrung" und
„alles allein aus Erfahrung" nicht einander gleichstellen. An ihrer
Stelle wird ihm die Erfahrung in gleichem Umfange werthvoU
sein, wie dem Empiriker, nur glaubt er auf eine weitere Frage
nicht verzichten zu dürfen. Auch fällt es ihm nicht ein, durch die
Sätze, zu welchen er gelangt, das in der Erfahrung Gegebene ver-
drängen zu wollen; es bleibt vielmehr an seinem Platte unange-
fochten, nur kann es ihm nicht als das letzte gelten, wohin das
Denken zu gelangen vermag. Aber hier hat die Philosophie unter
der Unsitte zu leiden, dass die Ergebnisse der Forschung, statt im
Zusammenhang des Ganzen Würdigung zu finden, unmittelbar auf
die einzelnen Phänomene bezogen werden ; der philosophische Be-
griff scheint nun das evident Vorliegende verdrängen zu wollen,
. und da natürlich dem gemeinen Verstände nichts thatsächlicher
zu sein dünkt, als was der Mensch sehen und greifen kann, so
erscheint der Philosoph als Utopist und Wolkenkuckucksheimer^
und jeder Gelegenheitsdenker glaubt die grössten Forscher aller
Zeiten spielend widerlegen zu können. Aus einer solchen Be-
ziehung der Ergebnisse philosophischen Forschens auf die unmittel-
bare Erscheinung, sowohl auf theoretischem wie auf praktischem
Gebiet, geht vor allem die Ueberhebung des gemeinen Verstandes
über die Philosophie hervor, die nicht selten den iSpott der Denker
62 Erfahrong.
erregt hat. „Von jeher", meint Schelling (s. Werke II, 19), „haben
die alltägliclisten Menschen die grössten Philosophen widerlegt;
mit Dingen, die selbst Eindem und Unmündigen begreiflieh sind.
Man hört, liest und staunt, dass so grossen Männern so gemeine
Dinge unbekannt waren und dass so anerkannt kleine Menschen
sie meistern konnten. Kein Mensch denkt daran, dass sie vielleicht
alles das auch gewusst haben; denn wie hätten sie sonst gegen
den Strom von Evidenz schwimmen können? Viele sind überzeugt,
dass Plato, wenn er nur Locke lesen könnte, beschämt von dannen
ginge; mancher glaubt, dass selbst Leibnitz, wenn er von den
Todten auf erstünde, um eine Stunde lang bei ihm in die Schule
zu gehen, bekehrt würde, und wie viele Unmündige haben nicht
über Spinoza's Grabhügel Ti-iumphlieder angestimmt?"
Alle solche UebergriflFe des geineinen Verstandes treffen die
Systeme in dem Masse mehr als sie für die philosophische
Forschung eine selbstständige Aufgabe heischen; je näher sie dem
gewöhnlichen Weltbilde bleiben, desto eher dürfen sie auf Ver^
zeihung seitens jenes Verstandes rechnen. Dem Empirismus pflegt
derselbe selbst ein gewisses Wohlwollen zuzuwenden, das freilich
seine wissenschaftlichen Vertreter niclit verschuldet haben. Für
die philosophische Behandlung der vorliegenden Frage hat diese
ganze Parteinahme der Menge gar keinen Werth. Das transscen-
dentale und metaphysische Problem ist ein so überaus schwieriges
und setzt so viel wissenschaftliche und philosophische Arbeit
voraus, liegt dazu auch der naiven Weltanschauung so fem, dass
die Meinungen der Leute hier für den Philosophen genau die Be-
deutung haben wie für den Astronomen die vulgären Vorstellungen
von den Himmelskörpern und ihren Bewegungen.
Aber die Verwirrung ist heut zu Tage über den Kreis der
Halbdenkenden hinaus auch in den der wissenschaftlich Forschen-
den gedrungen; aus den Argumenten, die hier selbst von Männern,
die in den Einzelwissenschaften eine hervorragende Stellung ein-
nehmen, für den Empirismus geltend gemacht werden, geht klar
hervor, dass das philosophische Problem nicht in seiner Eigen-
thümlichkeit verstanden wird. So wird z. B. daraus, dass in dem
Erfahrimg. 63
psychologisch - physiologischen Problem der Gestaltung unserer
Baumvorstellungen die Wagschale sich zu Gunsten der empirischen
Erklärung ' gegenüber der nativistisohen hinzuneigen scheint, ein
Argument für den philosophischen Empirismus geschmiedet. Aber
beide Fragen sind ja grundverschieden, das eine Mal handelt es
sich um das psychische Entstehen und zum Bewusstseinkommen,
das andere um den letzten Ursprung; man kann jenes psychologische
Problem .durchaus im Sinne des Empirismus beantworten, ohne im
transscendentalen Sinne ein philosophischer Empiriker zu sein.
Die Gleichstellung beider Fragen zeigt ein starkes. Missverständ«
niss kantischer Philosophie, gegen welches sich Kant wiederholt
ausdrücklich verwahrt hat. Gerade er, der auf die Ursprünglich-
keit der Erkenntnissformen den grössten Wei*th legte, hat die Frage,
ob diese Formen als fertig und angeboren gegeben oder als erst
im Leben sich entwickelnd anzusehen seien, von jenem Problem
bestimmt geschieden und seine Sympathie für die später sogenannte
empirische Erklärung unzweideutig ausgesprochen.*)
Femer sind mannigfach die neueren Untersuchungen über die
Principien der Geometrie, aus denen sich ergibt, dass unsere
Baumanschauung eine bestimmte unter andern möglichen ist, so
verstanden, als seien durch die Erkenntniss dieser Positivität die
kantischen Lehren widerlegt und die Frage zu Gunsten des Em-
pirismus entschieden, indem ja nur durch die Erfahrung jene Be-
schaffenheit der Baumanschauung ermittelt sei. Aber für den
Philosophen liegjt ja die Frage gar nicht darin, woher wir uns die
Einsichten zum Bewusstsein bringen, sondern darin, woher sie ur-
sprünglich stammen, und es ist etwas ganz anderes, etwas von
dem Denken aus zu construiren, als es, nachdem es erkannt, aus
geistiger Thätigkeit hervorgegangen zu begreifen. Dabei brauchen
die Bichtungen, welche die Ursprünglichkeit der Erkenntnissformen
vertheidigen, dieselben nicht im mindesten aus reinen Begriffen
abzuleiten, sondern sie können eine specifische Beschaffenheit,
*) Bei der Behandlung der Begriffe a priori und angeboren werden
bestimmte Stellen dafür znr Anführung kommen.
64 Erfahrung.
die wir erst in der Erfahning erkennen, ohne jedes Bedenken
zugestehen. Doch ich habe den Ausdruck zu verbessern, von
Zugeständniss kann keine Rede sein, weil gerade von der systema-
tischen Richtung aus jene Positivität zuerst behauptet wurde. Für
Leibnitz war es ein besonders anziehender und in seinem System
hochwichtiger Gedanke, das Wirkliche durchgehend als eine von
verschiedenen Möglichkeiten zu fassen, bei Kant aber bildete die
Ueberzeugung geradezu eins der treibenden Motive seines transs-
cendentalen Idealismus, dass die bestimmte Beschaffenheit der
Raumanschauung, darunter die drei Dimensionen, nicht aus einem
allgemeinen Begriff des Raumes gefolgert werden könnte.*) Er
würde daher eben die Forschungen mit besonderer Freude be-
grüsst haben, durch die jetzt manche ihn glauben widerlegen zu
können.**) Und überhaupt liegt nicht darin, dass der Gteist
die eigenthümlichen Formen der Anschauung als ein specifisches
erkennt, zugleich eine Erhebung über die Schranken? Ist es
nicht einer der grössten Triumphe des Denkens, eine Geometrie
ausbilden zu können, die von den specifischen Bedingungen unserer
Anschauung unabhängig ist? — Bei den Empirikern bewegt sich
hier durchgehend die Beweisführung im Cirkel , denn man beruft
sich einfach auf den erscheinungsmässigen Vorgang; aber diesen
zu prüfen und zu schätzen ist eben Problem, und das Er-
gebniss dieser Prüfung könnte sehr wohl eine Umkehrung der
ersten Erscheinung sein. Vielleicht mit einigem Recht meint
Leibnitz (s. 591b): „II leur parait d'abord, que tout ce que nous
faisons n'est qu' impulsion d'autrui; et que tout ce que nous
*) S. II, 410: non dari' in spatio plures, quam tres dimensioneSy
inter duo puncta non esse nisi rectam unicam; e dato in superficie plana
puncto cum data recta circulum circnmscribere etc., non ex nniversali aliqua
spatii notione conclndi, sed in ipso tantnm, velnt in concreto, cemi potest.
**) Wie man übrigens sich auch zu diesem Problem stellen mag,
die Frage nach dem Ursprung mathematischer Erkenntniss überhaupt ist
damit nicht entschieden. Wir wären begierig, z. B. den Begriff des reinen
Quantums aus der Erfahrung nachgewießen zu sehen, wenn man sich nicht
mit leeren Redensarten, wie z. B. der Abstraction aus dem Gegebenen,
begnügen will. Denn wie ist eine solche. „Abstraction*" möglich?
Erfahmng. 65
concevons vient de dehors par les seng, et se trace dans le
vttide de notre esprit, tanquam in tabula rasa. Mais une m^ditation
plus profonde nous apprend, que tout (meme les perceptions et
les passions) nous vient de votre propre fonds, avec une pleine
spontaneite." — Jedenfalls aber kann alles, was die wissenschaft-
liche Arbeit an Ergebnissen erringen, was sie namentlich in Bezug
auf die Entwicklung und die Positivität des Inhaltes geistigen
Lebens herausstellen mag, ganz und gar von einer systematischen
Philosophie anerkannt und hochgeschätzt werden, ja es kann nach
unserer Ueberzeugung erst in einer solchen seine volle principielle
Verwerthung finden.
Die eben schon hinreichende Verwirrung der Begriffe wird
nun durch die Art, wie man in gewissen Kreisen die Gegner des
Empirismus darzustellen beliebt, noch gesteigert. Es hat nach
manchen Auslassungen den Anschein, als wenn jeder Anhängei*
einer systematischen Philosophie nichts anderes als Freund eines
begrifflich construirenden Systems in der Art Hegel's sein könnte,
wobei wieder das Bild einer solchen Philosophie in arger Weise
entstellt wird. Aber wie man immer über Hegel urtheilen mag,
mit welchem Rechte werden wir andern für seine Gredanken
verantwortlich gemacht? Soll auch in der Philosophie eine solche
Imputationslehre gelten, dass alle für etwaige Sünden eines büssen
müssen? Oder sollen gar wir Nichtempiriker uns alle ins Mittel-
alter zurückversetzen lassen und der Gunst, von der geistigen
Bewegung der Neuzeit auch etwas zu lernen, durch einen Macht-
spruch der Empiriker beraubt werden? Femer muss abgesehen
von allen historischfen Zusammenhängen dagegen Verwahrung
eingelegt werden, dass jeder, der eine selbstständige Bedeutung
der Philosophie als systematischer Wissenschaft vertheidigt, von
dem grossen Haufen als unklar, phantastisch und unverständlich
hingestellt wird. Schon Leibnitz musste gegen die von Locke
aufgebrachte Unart kämpfen, etwas den eignen Gedankengängen
fernliegendes als unverständlich zu bezeichnen*) und damit bei
*) Dem gegenüber verwendet der dilettantische Empirismus gern als
Sacken, Geschichte und Kritik. ^
66 £rfahmng.
Seite zu schieben, er kennzeichnet diese Art treffend, wenn ei'
sagt (451 a): „Je remarque souvent que eertaines gens tächent
d^luder ce qu'on leur dit par cette affection d'ignorance comme
s'ils n'y entendaient rien ; ce qu'ils fönt non pas pour se blämer
eux memes, mais ou pour blämer oeux qui parlent, comme si leur
Jargon ötait non intelligible , ou pour s' 61ever au dessus de
la chose et de eelui qui la debite, comme si eile n'ötait point
digne de leur attention." Es darf hinzugefügt werden, dass der,
welcher sich in dieser Weise der Sache tiberheben zu können
wähnt, damit die Gemeinschaft wissenschaftlicher Arbeit aufgibt.
Wenn man nach dßm allen das Bild sich vorstellt, das
sich manche heut zu Tage von den „Metaphysikem" machen,
jenen Männern, die verwegen über alle Schranken der Erfahrung
ohne Compass hinaussteuem und ernster Arbeit abgeneigt das,
was nur durch dieselbe errungen werden kann, in kühnem
Schwung der Einbildungskraft erhaschen wollen, und die dabei
noch sich hochmüthig über die wirklich Arbeitenden erheben, so
seheint es, dass man über soviel Frevel nur Abscheu ^npfinden
und nicht stark genug sich gegen die Gemeinschaft mit solchen
Menschen verwahren könnte. Aber wenn man sich nun die Ge-
sellschaft dieser Nichtempiriker und Antiempiriker näher ansieht,
so findet man nicht bloss Männer wie Plato und Plotin, Spinoza
und Hegel, sondern auch Cartesiüs und Leibnitz, Kant und Herbart,
kurz so ziemlich alles, was in der Philosophie bedeutend gewesen ist,
und da, fürchte ich, wird es immer noch manche geben, die es vor-
ziehen, in Gesellschaft jener von den Hohenpriestern des gemeinen
Menschenverstandes verdammt zu werden , als mit den von ihnen
Gefeierten die Gunst des philosophischen Dilettantenthums zu-theilen.
Waffe das „Selbstverständliche**) ein unzulängliches Mittel im Kampf um die
Wahrheit. Denn dieses Selbstverständliche gehört entweder der Sphäre der
naiven Weltanschauung an, die selber der Wissenschaft wieder Problem wird,
oder aber es ist nur unbewusst gewordenes Ergebniss früherer wissen-
schaftlicher Bewegungen. Die meisten Forschritte in der principiellen Er-
kenntniss der Welt sind davon ausgegangen, dass einer an etwas „selbst-
verständlichem" zu zweifeln begann.
Erfahrung. 67
Doch genug des Scherzes, man soll die Heiterkeit, welche
spätere Jahrhunderte bei der Betrachtung dieses gespreizten,
trockenemsten und grosse Probleme wie grosse Männer gleichmässig
schulmeisternden Dilettantenthums empfinden werden, nicht
anticipiren. Wir möchten vielmehr nach einer Seite hin unsere
Darstellung gegen ein unliebsames Missverständniss schützen. Unter
den Männern philosophischer Forschung pflegen manche den
Empirikern zugezählt zn werden, die sich mit Recht gegen unsere
Darstellung verwahren könnten. Wir sehen diese Männer an
concreten und wichtigen Problemen in besonnener und kritischer
Arbeit beschäftigt, die unsere volle Hochachtung hat, und die in
ihrem Verlauf auch diejenigen einander näher bringt, welche sich
zu Anfang fem standen. Mögen daher jene Männer uns gestatten,
das Wort Fichte's anzuwenden: „Wer überflüssig findet, was wir
sagten, der gehört nicht unter diejenigen, für welche wir es
sagten." Was wir bekämpfen, ist jene antiphilosophische Richtung
im allgemeinen Leben, welche die grossen Probleme des Denkens
und Strebens verwirft, weil sie dieselben nicht versteht, welche
dem Geist alle selbstständige und gestaltende Kraft in der Welt
abspricht, und die nun doch einen philosophischen Mantel anlegen
möchte, um so mit scheinbarem Rechte aus dem Mangel eine
Tugend zu machen. Solche Strömungen direct wissenschaftlich
zu bekämpfen, ist unmöglich ; wohl aber sollten alle philosophisch
Forschenden ohne Unterschied der Partei für die Selbstständigkeit
und Hoheit philosophischer Wissenschaft und ihre Bedeutung in
dem System menschlicher Zwecke eintreten. Diese Bedeutung
misst sich nicht nat^h der Summe einzelner Lehrsätze, die man
jedem andemonstriren könnte, oder gar nach wunderbaren Ent-
deckungen, die den gemeinen Verstand in Staunen setzen, sondem
nach der Fülle geistiger Kraft, die dadurch entwickelt, der
JRichtung derselben auf werthvoUe Ziele, die daher bestimmt, der
ganzen Hebung des geistigen und wissenschaftlichen Standortes,
die von da aus bewirkt wird. Damit solche Güter gewahrt bleiben,
ist es nothwendig, an der ganzen Grösse der Aufgabe festzuhalten,
wenn wir heute auch noch so wenig Glauben und wenig Kraft
5*
68 Erfahrung.
haben, sie fördern zu können. „Denn wenn das Feuer in dir
erlischt, ist es nicht überhaupt erloschen"*), und in keiner Weise
dürfen die letzten Ziele der Menschheit von den Stimmungen des
Tages abhängig gemacht werden. Was aber speciell das Erkennen
anbelangt, so würden wir eine systematische Philosophie dadurch
schon gerechtfertigt finden, dass nur durch sie es möglich wird,
dem Vorliegenden gegenüber eine freie Stellung zu bewahren, die
Erfahrung selber zum Problem zu machen und das Zufällige nicht
von vom herein zu einem Nothwendigen zu stempeln. Hegel hat
wiederholt hervorgehoben, dass das Erkennen einer Schranke
die innere Erhebung übei" sie anzeige, aber der Satz lässt auch
die Umkehrung zu, dass man über eine Schranke hinaus sein
müsse, um ihrer in Wahrheit bewusst und eingedenk zu sein.
Um also innerhalb der Erfahrung besonnen und umsichtig forschen
zu können, ist eine Philosophie nothwendig, die nicht in der Er-
fahrung abschliesst.
*) Plotin 205 : insi oi<f' anoaßBvvvfjtivov rot kv aol nvqog ro oSioy
TivQ aniaßn.
<
4
A priori — angeboren.
Ubique in natura aliquid agitur. ; z
Kepler.
Z- ^D
. Der mit dem Problem der Erfahrmig eng zusammenhängende
Begriff des a priori enthält in dem heutigen Gebrauch viel Dunkel-
heit, die aufzuhellen vielleicht eine etwas eingehende geschichtliehe
Betrachtung förderlich sein könnte. Die Ausdrücke a priori und
a posteriori weisen letzthin auf die Sitte des Aristoteles zurück,
das Allgemeine das (begrififlich) frühere, das Besondere das spätere
zu nennen*), ein fester Sprachgebrauch gestaltete sich daraus
aber erst in der zweiten Hälfte des Mittelal ters. Bei Albert dem
Grossen finden wir den Gegensatz der Erkenntniss aus den
Gründen und der aus den Folgen durch die Ausdrücke per priora
und per posteriora bezeichnet; a priori^uad 8,_poateriori kommt
nach Prantrs Angabe zuerst bei Albert von Sachsen, einem Gelehrten
des 14. Jahrhunderts vor.**) Die Ausdrücke hielten sicfi^in
*) S. nam. das 1 1 . Kap. des Buches J der Metaphysik und Trendelen-
burg elem. log. Arist. § 19.
**) Prantl führt (Gesch. der Logik IV, 78) folgende Stelle an, wo
freilich der Ausdruck nicht gerade als ein neuer einzutreten scheint:
demonstratio quaedam est procedens ex causis ad effectum et vocatur
demonstratio a priori et demonstratio propter quid et potissima, — alia
est demonstratio procedens ab effectibus ad causas, et talis vocatur
demonstratio a posteriori et demonstratio quia et demonstratio non potissima.
£s wird daher auch öfter der Erkenntniss a priori die durch Induction
entgegengestellt.
^
3!^^
J
70 A. priori — angeboren.
der mittelalterliclien Bedeutung unverändert bis ins 1 7. Jahrhundert,
Luther (s. Tischreden Ausg. von Förstemann IV, 399) übersetzt a
priori „von vomen her"*), a posteriori „von dem was hernach
folget" ; Männer wie Kepler, Hugo Grotius, Descartes und Spinoza
verwenden das Wort als einen herkömmlichen Schulterminus,
aber die letztem empfanden es schon deutlich als etwas veraltetes,
und auch directe AngriflFe**) blieben nicht aus.
Mit Leibnitz aber begann eine Umwandlung der Begrijffe,
wobei freilich, wie bei ihm durchgehend, die alte Form das Neue
fast versteckte. Auch bei ihm ist die Erkenntniss a priori eine
Erkenntniss aus den Gründen, da aber die letzten Gründe f&r
ihn in der Vernunft selber liegen, so fängt der Ausdruck an,
solche Einsichten zu bezeichnen, die in der erkennenden Thätigkeit
des Geistes ihren Ursprung haben und bei denen daher Erkenntniss-
und Sachgrund sieh vollständig entsprechen. A posteriori heisst
dem gegenüber die Erkenntniss, welche der Erfahrung ent-
stammt.***) Diese neue Bedeutung kämpft sich freilich erst
durch die alte durch, aber die Wendung entspricht so sehr der
gesammten Bichtung der Philosophie, dass an ihrem Siege nicht
*) Noch im vorigen Jahrhnndert war diese Wendung die übliche.
**) G^sendi meint z. B., man könne den Sinn der Worte einfach
umkehren, da die Erkenntniss a posteriori die frühere nnd gewissere sei,
und die a priori erst hervorbringe ; s. exercitationes parad. adv. Äristoteleos
V: Quocirca non immerito qnispiam existimaverit , cum omnis notitia (et
proinde demonstratio) qnae dicitnr a priori pendeat ac petatnr ex ea,
qnae haberi dicitnr a posteriori, necessarinm esse hanc semper haberi et
evidentiorem et certiorem illa ff.
***) A priori findet sich z. B. bei Leibnitz, Erdm. Ausg. 80b, 99a,
272b, 393a, 451b, 465a, 494b, 5l5b, 740b, 778b, Foucher I, 38, II, 184,
253, 357, 361. Werke 778 b wird der philosophie expeiimentale qui procMe
a posteriori entgegengestellt die Erkenntniss durch la pnre raison ou a
priori. Am klarsten tritt die Eigenthümlichkeit der neuen Bedeutung
hervor 393 a : partic^li^rement et par excellence on Tappelle raison , |si
c'est la cause non senlement de notre jugement, mais encore de la v^rite
mSme, ce qu' on appelle anssi raison a priori, et la cause dans les choses
röpond a la raison dans les v^rit^s (diese Stelle gehört aber den nouveanx
essais an, die bekanntlich erst später erschienen).
A priori — angeboren. 71
zu zweifeln war. — Demnach bezeichnen bei WolflF und seiner
Schule a priori und a posteriori den Gegensatz von Vernunft- und
Erfahrungserkenntniss, nur dass die principielle* Schärfung dieses
Gegensatzes, die Leibnitz herbeigeführt hatte, wieder verloren
geht. Denn a priori wird hier jede Einsicht genannt, die wir
durch blosse Schlussfolgerung aus den schon innehabenden Er-
kenntnissen gewinnen, ohne dass über den letzten Ursprung dieser
Erkenntnisse etwas bestimmt wäre.*) Wolff sinkt also auch hier
wieder in die Scholastik zurück. In den Schriften des jüngeren
Kant findet sich dem gegenüber freilich an verschiedenen Stellen
eine schärfere Fassung, die Leibnitz näher steht als WolflF**),
aber mit voller Klarheit ward der Begriflf einer erfahrungsfreien
Erkenntniss erst von Lambert ausgeschieden ***) ; eine ähnliche,
wenn auch weniger präcise Bedeutung kommt bei Humef)
vor, und es war demnach die kantische Fassung, wonach das
a priori das dem Geist ursprünglich Angehörige bezeichnet, mehr-
fach vorbereitet, ff)
Diese kantische Fassung diente dann aber wieder zum
Ausgangspunkt neuer Bewegungen. Indem die constructiven
Philosophen den Dualismus seiner Lehre zu tiberwinden suchten
^ und es unternahmen, die ganze Welt aus der Thätigkeit des
*) S. psychol. empirica (in welcher Schrift vor allen andern wolf-
fischen die vorliegenden Ansdrücke Verwendung und Erklärung finden)
§ 434 : quod experiundo addiscimus, a posteriori cognoscere dicimur : quod
vero ratiocinando nobis innotescit, a priori cognoscere dicimur. § 435:
quicquid ex iis coUigimus, quae nobis jam innotuere, cum ante ignotum
esset, id ratiocinando nobis innotescit, adeoque idem a priori cognoscimus,
B. auch § 461.
**) S. z. B. II, 134, 135, 136, 366, 386.
*♦♦) Neues Organen (1764 erschienen) Dianoiol. § 639: Wir wollen
es demnach gelten lassen, dass man absolute und im strengsten Verstände
nur das a priori heissen könne, wobei wir der Erfahrung vollends nichts
zu danken haben«
t) S. philos. essays IV : If we reason a priori and consider merely
any object or cause as it appears to the mind, independent of all Observation.
tt) Freilich wird a priori von ihm nicht selten auch in laxerer Be-
deutung verwandt.
1
72 A priori — angeboren. »
Geistes zu entwickeln, bezogen sie das a priori durchaus auf
diese Thätigkeit, und konnten nach der gesammten Stellung,
welche sie derselben ertheilten, den Gegensatz des a priori und
a posteriori nicht von letztverschiedenen Erkenntnissquellen, sondern
nur von einer verschiedenen Art die Dinge zu betrachten ver-
stehen. Sobald man dieselben aus der nothwendigen Thätigkeit
des Geistes hervorgehen lässt, bat man ein Wissen a priori,
wenn man sie als fertig vorgefunden und damit als zufällig
betrachtet, eine Kunde a posteriori, eine Bestimmung, welche von
allen den Bedenken, die sich einer solchen constructiven Philo-
sophie entgegenstellen, mit betroffen wird*), und welche natur-
gemäss den Eückschlag hervorrief, dass das a priori ein ohne
Rücksicht auf die Wirklichkeit Aufgestelltes und daher nur sub-
jectiv Gültiges ausdrücken sollte, wie wir es z.B. bei den Positivisten
finden.**) Und dann endlich ist in neuester Zeit von Seite dar-
winistischer Forscher das a priori dem Angebornen gleichgesetzt,
in diesem Sinne aber als ein ererbtes vertheidigt. Nicht das In-
dividuum erwirbt darnach alles aus der Erfahrung, aber das, was
es von seinen Ahnen erhält, ist doch von diesen letzthin daraus
geschöpft, so dass im Grunde alle Erkenntniss a priori auf die
a posteriori zurückkommt.***)
*) S. Fichte II, 355: „Die Wissenschaftslehre leitet ohne alle Rück-
sicht auf die Wahrnehmung a priori ab, was ihr zufolge eben in der Wahr-
nehmung, also a posteriori, vorkommen soll. Ihr bedeuten sonach diese
Ausdrücke nicht verschiedene Objecte, sondern nur eine verschiedene
Ansicht eines und desselben Objects; etwa so wie dieselbe Uhr in der
Demonstration von ihr a priori, in der wirklichen Wahrnehmung a posteriori
angewendet wird." Näher betrachtet stellen sich hier freilich manche
Differenzen zwischen den einzelnen Denkern heraus, ja man könnte an
dem Begriflf die feinem Unterschiede von ihnen untereinander sowie die
Entwicklungsstufen der einzelnen aufzeigen.
**) Bourdet, vocabulaire des principaux termes de la philosophie posi-
tive (1875), S. 129: il y a plusieurs m^thodes: 1) la möthode a priori,
metaphysique ou subjective , dans laquelle les- propositions qui servent de
point de d^part, au Heu d'etre dMuites de l'exp^rienee, sont et restent
purement rationelles.
***) S. Häckel, natürl. Schöpfungsgeschichte, 4. Aufl. S. 636: Erkennt-
A priori — angeboren. 73
So spiegelt die Geschichte des Begriffes die Geschichte des
Kampfes um die Erkenntniss, alle die rerschiedenen Formen, die
er angenommen hat, haben Spuren hinterlassen, und es wirken
in dem heutigen Gebrauch Scholastik und Leibnitz, Kant und
Hegel in unklarer Mischung durcheinander. Nur insofern herrscht
Kant vor, als sich an den Begriff, wenigstens in der wissenschaft-
lichen Arbeit, vor allem die Frage nach dem Ursprung der Er-
kenntnisse knüpft, jene Frage, die in dem Problem, ob dieselben
eingeboren*) oder von aussen erworben, sich durch die ganze
Philosophie zieht. Damit aber fallen auch alle Schwierigkeiten
und alle Missverständnisse, welche sich an jenes Problem knüpfen,
heute auf den Begriff des a priori. •_',- / ^ f-x,^Lv^ t^
Die eigentliche Frage war von jeher, ob die Erkenntniss aus ^ j '
dem Innern des Geistes stamme**) oder von aussen in ihn hinein-
komme. Dem allgemeinen Inhalte nach war es die Ueberzeugung
der meisten hervorragenden Denker, dass ein wesentliches und
inneres Verhältniss des Geistes zu den Objecten Voraussetzung
eines zutreffenden und gesetzmässigen ***) Erkennens sei. Aber
die specifische Ausführung gab zu unendlichen Streitigkeiten und
/V-iv
nisse a priori sind erst durch lange andauernde Vererbung von erworbenen
Gehimanpassungen aus ursprünglich empirischen „Erkenntnissen a posteri-
ori" entstanden. ^
*) „Angeboren" ist für den vorliegenden Begriflf unbedingt zu ver-
werfen, „an" welches das von aussen herankommende und an der Oberfläche
beharrende (s. Grimmas Wörterb., „an bezeichnet die Oberfläche") aus-
drückt, trifft hier durchaus nicht zu. Schon Paracelsus hat eingebom in
dem hier verlangten Sinne.
**) Den Ausdruck eingeboren (innatus) haben selbst im Mittelalter
hervorragende Denker immer nur mit Vorsicht und unter Verwahrung gegen
Missverständnisse verwandt, s. z. B. Boger Baco specula mathematica I, 3:
Mathematicarum rerum cognitio est qua§i nobis innata. — Cum sit quasi
innata et tanquam praecedens inventione et doctrina, seu saltem minus
indigens eis, quam aliae scientiae.
***) S. z. B. Plotin 481 : ^Eqrifxov d« tiav äXkutv ^tiaqrifjiattiiv ov dai
vofAi^Hv, ei (ff fitj, iarai ovxitt TfX^ixoy av&e iniaffifjioyixoy, dXX ioa7i€Q av
xa\ ti naig Xiyoi.
74 A priori — angeboren.
Irrungen Anlass. Das Innere erschien als ein fertig überkommenes,
durch Erinnerung festgehaltenes und der Thätigkeit vorangehen-
des. Bei dem Haupte der ganzen Richtung, bei Plato, ist jeden-
falls das Bildliche der Vorstellungsform von dem begrifflichen
Inhalt nicht scharf genug geschieden, in Folge des schon mit Aristo-
teles eine Opposition eintrat. Er will nur eine dvvafjug avfi(pvzog
xQiTixTj (s. anal. post. 99 b 35) anerkennen und verwendet wohl
nicht zufällig, wo immer es sich um geistiges Leben handelt,
nicht das Plato gebräuchliche ^in^vrog^ sondeni vielmehr (Svfig>vTog.
Der philosophische Gegensatz aber, den beide Männer bilden,
zieht sich nun durch die ganze Philosophie. Im Grunde sind sie
darin einig, dass es sich im Erkennen um eine selbstständige
Thätigkeit des Geistes handelt *), aber der eine lässt diese Thätig-
keit voll und ganz in das Leben hineinfallen, während der andere
alles, was hier geschieht, durch weitere Zusammenhänge und
tiefere Beziehungen bedingt und bestimmt glaubt. Diese platonische
Lehre war natürlich Missdeutungen und dem Eindringen von Vor-
stellungsbildem weit mehr ausgesetzt: wo immer ein Sinken
philosophischer Kraft eintritt, sehen wir den Begriff erstarren.
Dem unphilosophisehen Bewusstsein ist es fast natürlich,
alles, was im Geist geschieht, von aussen hineinkommen zu lassen,
so dass selbst Richtungen, welche das Innere flir selbstständiger
erachten, doch leicht das Bekämpfte nur in anderer Form wieder
einführen. Denn ist es nicht nur eine andere Art des Empiris-
mus, wenn man das aus der Erfahrung scheinbar nicht zu Er-
klärende als anfänglich hineingekommen ansieht und aus dein
immer wieder ursprünglich Geschehenden ein äusserlich Ueber-
tragenes macht? Eben so unfasslich wie der BegriflF der inneren
Thätigkeit ist aber derjenige der perpetuirlichen Thätigkeit Der
Mensch ist so gewohnt, die Ruhe als das normale und die Thätig-
keit als Unterbrechung derselben anzusehen, dass durchgehend
*) Das aristotelisehe Bild von der tabula rasa (der lat Ansdrack dürfte
nach Prantl, III, 261 zuerst bei Aegidius Romanus vorkommen) wird oft
ganz missverstanden.
A priori -— angeboren. 75
ein gleichmässig Geschehendes der fiuhe gleichgesetzt wird und
an Stelle eines fortwährenden Wirkens des Geistes irgend welche
Eigenschaft oder Anlage oder ein anderes „Gegebenes" tritt. Wie
immer daher auch die Philosophie versucht hat, ihren Begriflfen
einen sprachlichen Ausdruck zu verleihen, der allgemeine Gebrauch
hat denselben stets in die Sphäre der gewöhnlichen Vorstellung
hinscbgezogen. Bei innatus und angeboren wird zunächst nicht
an Vererbung gedacht*); aus der ursprünglichen Sünde (peccatum
originale) machten die Theologen eine Erbsünde **) ; wirklich und
Wirklichkeit dient anfänglich (wie actualis und actualitas seit
Duns Scotus) zur Wiedergabe des aristotelischen Begi'iffes der
iviQY^^cc ***)', bis es nach und nach einfach der Existenz gleich-
gesetzt wurde.
Die neuere Philosophie, welche alles Sein von der Thätig-
heit her bestimmt und diese Thätigkeit ganz in Welt und Leben
hineinfallen lässt, hat gleichmässig gegen die platonische Auf-
fassung der Erkenntnissf) wie gegen die Bestimmung von aussen
her gekämpft ; jeder grosse Abschnitt in ihrer Geschichte ist durch
Hervorkehren dieser Eigenthümlichkeit bezeichnet. Nicolaus von
Kues verwarf ebenso die angebomen Ideen im Sinne der Plato-
niker, indem er nur eine vis concreata (s. oj). I, 92 b) und ein
Judicium concreatum (I, 83b) gelten lassen wollte, wie er sich
gegen eine Vererbungslehre wandte ff), jeder Geist ist ihm ein
*) S. z. B. Lucrez, der wohl znerst innatus in die Philosophie ein-
geführt hat, II, 286 ; Eckhart, 434, 26 (daz ist ime [dem steine] angebom).
*"') Tertallian wie Augustin haben peccatnm originale und denken an
einen durch die geschlechtliche Fortpflanzung immer neu entstehenden Hang
zum Bösen, Ambrosius hat aber schon den Begriff der Vererbung, den Kant
mit Becht als die unschickUchste unter allen Vorstellungsarten bezeichnete.
***) So „Wirklichkeit« bei Eckhart, der wohl das Wort gebildet hat.
t) Wenn Proclus (Grenzer I, 281) sagt: ovx aiaiy ayqa€p« y^a/Ltjuarela
ÖBXofASva rovg xvnovg i^ta^ev, dXXa yiyQanrai /nky ael, xal 6 y^a^paiv iy
kavTip hxh so würde die neuere Philosophie für yiyqanrai yqaq>ETui setzen,
tt) 11} 187b: Si anima esset a generante, omnia opera ejus essent
naturalia et nullum morale opus posset habere (wo morale nach mittelalter-
lichem Sprachgebrauch das Innere bedeutet).
76 A priori — angeboren.
selbstthätiger lebendiger Spiegel des Universums. *) Cartesius
hat freilich den unglücklichen Ausdruck „angebome Ideen" nicht
verschmäht, aber dass er darunter nichts im Geist fertiges ver-
stand, hat er mehrfach hervorgehoben**), und dass der Geist als
denkendes Wesen von aussen her entstanden sein sollte, schien
ihm unbegreiflich.***) Kant endlich hat schon in der berühmten
Dissertation sich gegen das Angeborensein der Vorstellungen von
Zeit und Baum ausgesprochenf); die ürsprünglichkeit der Er-
kenntniss von innen heraus war einer seiner leitenden Grundge-
danken, und wenn er die Bestimmung des Geistes als einer reinen
und fortwährenden Thätigkeit nicht klar genug herausgestellt hat,
so ist dieser Begriff um so mehr von den constructiven Philo-
sophen geltend gemacht. Auf keinen Fall darf man bei Kant an
fertig im Geist vorhandene Einsichten denken, ff)
«
*) II, 103b: Nominamus intellectnm virtutem illam qnae ex se ipsa
generat et producit sicnt prineipium motus.
**) Von den verschiedenen Stellen, die man dafür anführen kann,
theile ich nur die mit, welche mir am bezeichnendsten zn sein scheint, ad
Voetium VIII : notandum est eas omnes res, quarum cognitio dicitur nobis
esse a natura indita, non ideo a- nobis expresse cognosci ; sed tantnm tales
esse , ut ipsas absqn^ nllo sensunm experimento ex proprii ingenii viribus
cognoscere possimus. Sonst sind namentlich die notae ad programma wichtig.
***) S. ep. I, 119: nequeo animum inducere quod illi me fecerint qua-
tenus ego me considero ut cogitans quid ff.
t) II, 413 heisst es in Bezug auf Zeit und Raum: conceptus uterque
procul dubio acquisitus est, non a sensu quidem objectorum (sensatio enim
materiam dat, non formam cognitionis hnmanae) abstractus, sed ab ipsa
mentis actione, secundum perpetuas leges sensa sua coordinante, quasi
typus immutabilis ideoque intuitive cognoscendus. Sensationes enim ex-
citant hunc mentis actum, non influunt intuitum, neque aliud hie connatnm
est, nisi lex animi, secundum quam certa ratione sensa sua e praesentia
objecti conjungit, s: 400. Erscheint hier noch das Gesetz als etwas vor
der Handlung feststehendes, so wird später alles in äie Thätigkeit selber
hinein gelegt
tt) S* uam. VI, 37: „Die Kritik erlaubt schlechterdings keine aner-
schaffenen oder angebomen Vorstellungen; alle insgesammt, sie mögen zur
Anschauung oder zu Verstandesbegriffen gehören, nimmt sie als erworben
an. Es gibt aber auch eine ursprüngliche Erwerbung (wie die Lehrer des
A priori — angeboren. 77
Aber ich sehe der Frage entgegen, warum hier so viel ge-
schichtliches Material zusammengehäuft wird ? Aus keinem andern
Grunde geschah es, als um zu zeigen, dass die heute nicht seltene
Neigung, das a priori dem Angebornen gleichzusetzen, weder dem
grossen Erkenntnissprobleme gerecht wird noch das Ergebniss
der geschichtlichen Gestaltung in sich aufgenommen, geschweige
denn weitergeführt hat. Ist es schon verkehrt, das Angeboren-
sein mit der alten Lehre von den eingebornen Ideen zusammen-
zuwerfen, so ist noch entschiedener gegen jene Gleichstellung
Verwahrung einzulegen. — Von Angeborensein sprechen wir bei
der Uebertragung specifischer Eigenschaften und mögen heute
einer solchen Uebertragung weit mehr als früher zuschreiben;
aber wir gelangen damit nicht zu dem a priori, welches die
ursprüngliche und wesentliche Lebensthätigkeit des Geistes und
hier im besondern des Erkennens bezeichnet. Eine solche Thätig-
keit nahm die neue Philosophie als nothwendig an, weil es ihr
ein Unding schien, eine Substanz zu setzen, ohne ihr eine ur-
sprüngliche Thätigkeit beizulegen; denn, wie wir_8ahen^ bildet
die neue Wissenschaft den Begriff der Substanz erst von der
Thätigkeit aus^^ die A nnahme eines leeren und ruhenden Dinges
setzL-j ms in die schlimmsten Zeite n der Scholastik zurück. Im
Anschluss daran möchte man nun im vorliegenden Falle fragen,
was denn das Ding wäre, dem vererbt würde, wie es zu einer
Thätigkeit überhaupt gelangte, und wie es auch nur sich uns
bezeugte. Lässt man einmal alles und alles von aussen in den
Geist hineinkommen, so hat es weder Sinn noch Berechtigung^
ihm noch eine besondere Existenz zuzuschreiben, vielmehr würde
es sich dann empfehlen, in consequent materialistischer Weise
den Geist durch äussere Vorgänge entstehen zu lassen und alles
Fürsichsein zu leugnen. Und dann, wie sollte ein ursprünglich
Leeres und Ruhendes sich auch nur etwas von aussen kommen-
des aneignen ? — Doch das alles sind Fragen, die uns später bei
Naturrechts sich ausdrückten), folglich auch dessen, was vorher gar noch
nicht existirt, mithin keiner Sache vor dieser Handlung angehöret hat."
78 A priori — angeboren.
der Erörterung der Entwicklung beschäftigen werden, hier kam
es nur darauf an, den Begriff des a priori seinem philosophischen
Sinne nach gegen Missverständnisse zu schützen.
In dem Kampf um diesen Begriff steht nicht in Frage ein
vor der Erfahrung Erkanntes, denn es handelt sich nicht um ein
zeitliches, sondern um ein begriflFliches Verhältniss, und daher
nicht um ein anfängliches, sondern um ein ursprüngliches Er-
kennen; ebenso wenig wird ein fertig im Geist vorhandenes er-
stritten, denn wir kennen hier überhaupt nur ein strebend Wir-
kendes ; auch eine ohne alle Erfahrung aus reiner Thätigkeit des
/ Denkens gewinnbare Einsicht wird nicht behauptet, da der Geist
' auch über sich selbst nur mit Hülfe erfahrungsmässiger Thätigkeit
zum Bewusstsein gelangt; aber darum wird als um eine Grund-
frage, nicht bloss der Philosophie, sondern aller Wissenschaft, ja
des geistigen Lebens überhaupt, gekämpft, dass in der geistigen
Thätigkeit ein wesentliches, ursprüngliches, gesetzliches anerkannt
werde. Es zeigt ein Zurückbleiben hinter der Bewegung der
neuern Philosophie an, wenn das Dilemma gestellt wird, ob die
Erkenntnisiä im Innern fertig gegeben sei, oder von aussen ge-
bildet werde, denn damit ist eben das ausser Acht gelassen, an
dessen Gestaltung und Vertretung die hervorragendsten Denker
der letzten Jahrhunderte ihre Kraft gesetzt haben.
Immanent (kosmisch).
quam res est contempta homo,
nisi supra humana surrexerit.
Seneca.
Die jetzt geläufige Gegenüberstellung von immanent und trans-
scendent stammt erst von Kant.*) Bis dahin bildeten immanens
(permanens) und transiens einen Gegensatz, actio immanens z. B.
heisst eine Thätigkeit, die innerhalb des Subjectes bleibt, transiens
eine, die darüber hinaus geht.**) Aehnlich unterschied man auch
eine causa immanens und transiens, und in dem berühmten Worte
Spinoza's „deus est omnium rerum causa immanens, non vero
transiens" ist neu nur die Negation, womit freilich die ganze Auf-
fassung i^rincipiell umgewandelt wird. Jener Sprachgebrauch lässt
sich bis ins 13. Jahrhundert zurückverfolgen und ist in gelehrten
Werken noch heute nicht erloschen.***)
Der Ausdruck transscendent ward in der zweiten Hälfte des
Mittelalters technisch für die allgemeinsten Bestimmungen ver-
♦) S. z. B. III, 245: Wir wollen die Grundsätze, deren Anwendung
sich ganz und gar in den Schranken möglicher Erfahrung hält, immanent,
diejenigen aber, welche diese Grenzen ttberfliegen sollten, transscendente
Grandsätze nennen.
**) 8. Goclen, lexicon philosophicum unter actio: actio est immanens
(seu Ivi^riaig) agentis intra se, transiens {noinüig) agentis extra se. Eckhart
sagt 101 , 15: Itplichiu dinc diu sint üzwürkende, geistlichiu dinc sint in-
würkende.
*♦*) S. z. B. Volckmann, Lehrbuch der Psychologie. II. Aufl. II, 450.
SO Immanent (kosmisch).
wandt, die nach neuplatonischer Lehre über den Kategorien liegen
und jeglichem Sein zukommen« Als solche galten zuerst die vier
Begriffe ens, unum, verum, bonum, später traten res und aliquid*)
hinzu, und in dieser Gestalt ging die Lehre durch die Jahr-
hunderte. Auch das Wort transcendentalis kam von da aus auf,
man sprach von einer veritas, unitas etc. transcendentalis. Die
ganze Lehre war aber schon in der Uebergangszeit durch zahl-
reiche Angriffe in volles Schwanken gekommen und die Ausdrücke
wurden im 17. und. 18. Jahrhundert in mannigfachster Weise mit
ziemlicher Willkür verwandt, bis durch Kant eine Fixirung eintrat.
Was den Begi'iflf anbelangt, so ist die Eichtung auf eine
immanente Welterklärung im wesentlichen allen Formen der neuem
Philosophie und Wissenschaft gemeinsam, alle sind einig in der
Bekämpfung der mittelalterlichen Art, das Weltgeschehen auf eine
jenseits und ausser der Welt liegende Ursache zurückzufuhren.
Nicht bloss eine theoretische Ansicht lag dabei zu Grunde, sondern
überall wandte sich die der Welt entfremdete Menschheit ihr
wieder lebenskräftig und lebensfreudig zu, um in ihr zu wirken
und zu schaffen. Zu sich und der Welt hatte man wieder Ver-
trauen gewonnen und fühlte sich stark genug, einer scheinbar
fremden Beihülfe zu entrathen. Wissenschaftlich erreicht diese
immanente Richtung ihren classischen Ausdruck in Spinoza,
welchem Mann vor allen andern jene intellectuelle Charakter-
stärke eigen war, die Gedanken, von deren Wahrheit er sieh
überzeugt hatte, ihrem reinen Gehalte nach ohne Vermengung und
Abschwächung darzustellen und damit das Geheimniss aller zu
enthüllen. Was er aber verkündete, griff darum so gewaltig ein,
weil es zugleich unmittelbar einleuchtend erschien und doch nach
der geschichtlichen Lage ganz neue Bahnen eröffnete. Denn wie
könnte der Mensch in seinem Denken und Streben letzthin sich
der Welt (im weitesten philosophischen Sinne) überheben? Kann
er doch, auch wenn er ein Jenseits bildet, demselben nur vom
Diesseits aus einen Inhalt geben. Aber trotzdem ist eine Gefahr
*) S. Prantl III, 245
Immanent (kosmisch). gl
unverkennbar. Wenn einmal ein solches Jenseits gebildet ist,
löst es sich ab, erscheint als ein selbstständig gegenüberstehendes
und wird als solches leicht zur Erklärung der Weligeschehnisse
überhaupt oder doch einzelner besonders räthselhafter Vorgänge
herangezogen. Da damit aber die Erscheinungen aus einem cau-
salen und innem Zusammenhange heraustreten und nicht mehr
auf ein in ihnen wesentliches zurückgeführt werden, was doch
die entscheidende Aufgabe der Erkenntniss ist, so scheint eine
solche transscendente Erklärung die wissenschaftliche Begreifung
der Welt nicht nur hie und da zu durchbrechen oder überhaupt
einzuschränken, sondern sie im Princip zu vernichten; ja sie ist
um so entschiedener zu verbannen, als sie durch den Hinweis
auf ein Jenseitiges den Schein einer Begreifung erweckt und
damit den Trieb nach wirklicher Erkenntniss einschläfert
Wie viel wahres in solchen Sätzen enthalten ist, wer wollte
es verkennen? Die im Mittelalter vorhen-schende Stellung zur
Welt wird durch die neuen Einsichten dauernd unmöglich ge-
macht, und wenn die Religion an eine äusserlich -jenseitige
Fassung gebunden wäre, so bestünde freilich zwischen ihr und
der Wissenschaft ein unversöhnlicher Gegensatz. Jedenfalls ist
für die gesammte neue Wissenschaft der immanente Charakter
der Erklärung wesentlich und noth wendig, so dass jeder Angriff
gegen diese Forderung als ein Angriff gegen sie selber anzu-
sehen ist.
Aber nun entsteht die Frage, was denn näher unter imma-
nenter Erklärung zu verstehen sei. Dass die Gründe als inner-
halb der Welt sich bezeugend aufzuweisen seien, und dass jeg-
liches Einzelne im Zusammenhang mit dem Ganzen und nach
den allgemeinen Gesetzen zu verstehen sei, das mag zunächst
gesagt werden, aber wir müssen darauf bestehen, dass wenn der-
artige Sätze irgend welchen werthvoUen Inhalt gewinnen sollen,
darüber Klarheit sein muss, was denn eigentlich „Welt" bedeute.
Damit aber befinden wir uns vor einem ungeheuren Problem.
Denn so einfach dem naiven Bewusstsein dieser Begriff erscheinen
mag, dass es auf wissenschaftlichem Gebiet anders liegt, zeigt
Eucken, Geschichte und Kritik. Q
S2 Immanent (kosmisch).
ein flüchtiger Blick in die Geschichte. Jedes grosse System hat
seinen eignen Weltbegriflf und die grossen Epochen der Greschichte
zeigen dabei einen durchgehenden ausgeprägten Charakter.
Den Alten war die Welt zuförderst der allumfassende Begriff,
Geistiges und Leibliches, Ideelles und Sinnliches, Göttliches und
Menschliches, Wirkliches und Mögliches ward von ihm um-
schlossen*), erst spät und wohl unter dem Einfluss des Christen-
thums bildete sich der Begriff eines Ueberweltlichen. **) Denmaeh
war für die Erklärung ein Gegensatz des Inner- und Ausserwelt-
liehen gar nicht vorhanden; es konnte freilich nichts von aussen
hineinkommen, aber es war bei einer solchen Ausdehnung des Welt-
begriffes weit weniger ausgeschlossen, als es in der Neuzeit der Fall
ist. Für den Inhalt der Welt aber ist auf der Höhe griechischen
Denkens die Auffassung entscheidend, welche in der Bezeichnung
TCO (f flog zum Ausdruck kommt.***) Die Welt ist ein zusammen-
hängendes, kunstvoll zu lebendiger Gestalt geformtes Ganze, ein
(fvffTfjfia nach der Benennung der Stoiker. Die einzelnen Theile
stehen nicht nebeneinander, etwa nur durch Gemeinsamkeit des Ge-
setzes verbunden, sondern jedes hat eine gliedmässige Stellung und
Bedeutung im Ganzen und erhält dadurch eine specifische Be-
stimmung. Diese Auffassung greift bei den leitenden Denkern,
namentlich bei Aristoteles, bis ins Einzelne der Forschung ein,
*) S. z. B. Seneca nat. quaest. II : omnia qnae in notitiam nostram
cadunt aut cadere possnnt, mundus complectitnr.
**) vnsqxoäfxios und das entgegenstehende iyxocfxiog hat z. B. Pseudo-
archytas, s. Mullach Frg. I, 574 b 6. Bei Proklus tritt der Gegensatz von
kyKoafjuog und vm^Tioa fxiog sehr hervor, nachdem durch Plotin der antike
WeltbegrifF wesentlich umgestaltet war. Bezeichnend ist auch für die letzten
Neuplatoniker , dass sie den iyxoofxia die votita entgegenstellen, also das
Intelligible als ein ausserweltliches fassen.
***) Die philosophischQ Verwendung des Wortes wird bekanntlich auf
die Pythagoreer zurückgeführt, diese Bedeutung scheint aber noch zu
Xenophon's Zeit nicht im allgemeinen Gebrauch gewesen zu sein, s. Memorab.
I, 1,11: 6 xa'kovfiivog vno ttay aocpiartoy xoafxog, xoa/Aixog hat zuerst Aristo-
teles. — PliniuB nat. bist. II: quem xoafxov Graeci nomine ornamenti ap-
pellarunt, eum nos a perfecta absoiutaque elegantia mundnm.
Immanent (kosmisch). 83
es sind z. B. je nach der La^^e im Kaum und gewissermassen
selbst in der Zeit die Wirkformen verschieden, so dass der
Blick vom Einzelnen immer auf das Ganze gerichtet wird. Dass
aber mit allem Besondern auch das Menschliche von der grossen
Weltordnung abhängig ist, gilt von vom herein als ausgemaclit
und ist vielleicht von keinem nachdrücklicher bekräftigt als von
Plato*), der doch sicherlich den ideellen Inhalt des menschlichen
Seins so hoch wie möglich zu schätzen geneigt war. — Letzthin
bricht dann freilich den Griechen die Welt in eine doppelte, eine
rein geistige und eine sinnlich geistige, auseinander, so dass nun
auch die Erklärung auf ein, wenn auch nicht äusserlich, so doch
begrifflich transscendentes zurückzugehen gezwungen wird.
Dem Christenthum tritt natürlich die Welt — als Gesammtheit
alles Geschaffenen — in zweite Stelle ; ja insofern dies Geschaffene
als von seiner Bestimmung abgefallen betrachtet wurde, konnte
Welt und weltlich zur Bezeichnung des vom göttlichen Geist nicht
Ergriffenen und ihm Widerstrebenden verwandt werden.**) Die
Welt in jenem Sinne erhielt nun aber einheitlichen Zusammenhang
wie Bedeutung erst durch Beziehung auf die ethisch-religiöse Auf-
gabe des Menschengeschlechts, und was immer in ihr vorging, hatte
nur durch diese Beziehung Werth. Auf dem ethischen Gebiete
aber war das Bewusstsein einer ungeheuren Kluft zwischen Sein
und Sollen, wie das Gefühl der eignen Ohnmacht diesem Zwiespalt
gegenüber durchaus herrschend. Alles was die Welt überhaupt
bot, konnte hier nicht gentigen ; von einem Ueberweltlichen allein
durfte Hülfe erwartet; werden. Einer solchen Auffassung lag es
nahe, Gott als einen jenseitigen der Welt gegenüberzustellen und
sein Wirken als ein in sie eingreifendes zu betrachten. Der einmal
geschaffenen Welt ward freilich eine Art von innerer Gesetzmässig-
keit zugesprochen und jenes Eingreifen ausserge wohnlichen Fällen
vorbehalten; aber ob mittelbar oder unmittelbar, letzthin kam
*) S. z. B. Philebus 29 B.
**) Aiigustin^ op. III. B, Ö6S c: Christus missus est ut mundus ex
mundo liberaretur.
6*
S4 Immanent (kosmisch).
alles Gescliehen auf ein Wunder zurück, überall stossen wir auf
ein in die rationale Betrachtung nicht Aufgehendes, auf verbor-
gene Zwecke, dunkle Beziehungen u« s. w., so dass Welt und Natur
immer geheimnissvoU bleiben, wieweit wir auch immer im Forschen
gelangen mögen. Die Wissenschaft scheint fast zur Hauptaufgabe
zu haben, die menschliche Ohnmacht gegenüber dem göttlichen
Allyermögen zum Bewusstsein zu bringen, wobei es dann wohl
geschah, dass mindere Geister in vemunftfeindlicher Strebung um
so geneigter waren, beständig die Grösse Gottes zu zeigen, je
weniger sie ihre eigne Grösse beweisen konnten (s. Lichten-
berg I, 279).
Speculative Köpfe von selbststandigem theoretischen Interesse
gingen freilich über das alles hinaus. Was den andern neben
und über der Welt zu liegen schien, war ihnen der tiefere Grund,
Wesen und Kraft der Welt selber. Der G^ensatz des Natürlichen
und Uebematürlichen fiel ihnen in unsere Auffassung der Dinge
hinein, der Mensch aber bildete .einen integrirenden Theil eines
ihm unermesslichen Ganzen. Aber solche Gedanken sind auch
bei Augustin, dem grössten christlichen Philosophen*), unzertrenn-
lich mit positiv-theologischen verschmolzen, und wenn die Mystik
hier auch einen kühnen Schritt weiter geht und den pantheistischen
Systemen der Neuzeit scheinbar ganz nahe kommt, es bleibt die
principielle und für die Art wissenschaftlicher Forschung ent-
scheidende Differenz, dass die Mystiker die Welt in Gott, jene
Philosophen dagegen Gott in die Welt aufgehen Hessen. Und wie
hoch man diese speculativen Gedanken und ihren verinneniden
Einfluss anschlägt, im grossen geschichtlichen Leben traten sie zu
wenig selbstständig hervor, um jene Vorstellungswelt des naiven
ethischen Bewusstseins umzugestalten, so dass es der Neuzeit vor-
behalten blieb, den Kampf dagegen aufzunehmen.
Der Weltbegriff dieser Zeit ist nun zunächst dadurch be-
stimmt, dass nur das Wirkende überhaupt als seiend anerkannt
*) Auch der Ausdruck Ghristiana philosophia im specifischen Sinne
dürfte sich bei ihm zuerst finden, s. z. B. X, 408 G.
Immanent (kosmisch). 85
wird. Unter dem Jenseitigen, das man ausschliesst, ist vor allem
das nicht im Wirken Bezeugte zu verstehen, gleichmässig fallen
Theologie wie Metaphysik im alten Sinne. Positive Aufgabe aber
wird es, das Mannigfaltige der Erscheinung auf stets nachweis-
bare Grundkräfte zurückzuftlhren und die ganze Bestimmtheit
jener in causaler Betrachtung von diesen einfachen Elementen her
abzuleiten. In solchen Grundgedanken ist volle Uebereinstimmung,
sei es dass man von dem Geist, sei es dass man von der
Natur aus die Welt gestaltet. Dort soll die fortgehende Thätig-
keit des Denkens alles hervorbringen und fortwährend das Her-
vorgebrachte tragen, hier wirkend vorhandene Kräfte, nicht irgend
welche fingirte und unverificirbare Annahmen zur Erklärung
dienen. Jenes könnte man bis auf Nikolaus von Kues zurück-
führen, hier findet sich dasjenige, was Newton vera causa nennt,
begrifflich zuerst bei Kepler, von dem zuerst das Geheimniss
der Natur selber abzulauschen und der Grund als fortwirkende
Kraft zu begreifen gesucht wird.*) In Cartesius treffen beide Rich-
tungen zusammen und erhalten bei ihm durch die neue Kategorien-
lehre eine systematisch-philosophische Begrtfndung.
Wenn demnach die Welt aus den in ihr wirkenden Grund-
kräften erkannt wurde, so war es freilich nicht unmittelbar nöthig,
über sie in der Forschung hinauszugehen. Und wenn man
dennoch den Gottesbegriff festhielt, so weichen Motive und Inhalt
von den früheren Zeiten so sehr ab, dass nur die Beibehaltung
der alten Ausdrucksweise die Wandlung einigermassen verdeckt.
Jener Begriff wird gebildet, um der Welt Grund, Einheit und
Zusammenhang zu geben, was um so nothwendiger war, je mehr
die einzelnen Dinge durch die Analyse der neueren Forschung sich
von einander geschieden hatten; aber das alles sind formale
Bestimmungen, gewissermassen HülfsbegTiffe , die das Denken
schafft, um seine eignen Ansprüche zu befriedigen. Namentlich
*) S. Apelt, Epochen der Geschichte der Menschheit, I, 243: Er war
der Erste, welcher die Kunst erfand, der Natur ihre Gesetze abzufragen,
während die Früheren nur Erklärungsgründe fingirten, welche sie dem
Laufe der Natur anzupassen versuchten.
^6 Immaneot ^kosnuBch).
deutlicli zeigt sich dies darin, dass als wichtigstes Merkmal des
Gottesbegriffes die Unendlichkeit angesehen wird. Diese Unend-
lichkeit soll natQrlich, wie manchmal heiroigehoben wird, nieht
quantitativ verstanden werden, sondern sie drfickt den reinen^
schrankenlosen, aller Bestimmtheit und aller Beschränkung voran-
gehenden Begriff des Seins aus. So aber hat der Gottesbegriff
keine andere Bedeutung, als dem Weltbegriff Vollendung und
letzte Gültigkeit zu verleihen.
Innerhalb dieser allgemeinen Auffassung findet sich natürlich
manche Abweichung, doch auch da, wo am meisten Zusammen-
hang mit den frühem Gestaltungen zu sein scheint, bei Leibnitz^
herrscht näher betrachtet das Neue ganz vor. Mag Leibnitz Gott
eine überweltliche Intelligenz nennen*), er hat dann eben unter
Welt nur die einzelnen Erscheinungen verstanden, insofern sie
unverbunden nebeneinanderstehen, und die Sache kommt daher
mehr auf eine begriffliche Distinction als einen wesentlichen Unter-
schied hinaus. Im Grunde steht der Gottesbegriff Leibnitzens dem
Spinoza's weit 'näher als dem des Christenthums. — Dass aber ein
solcher Gottesbegriff für das religiöse Leben ohne jede Bedeutung
ist, leidet keinen Zweifel, und ebenso ist er es natürlich für die
Einzelwissenschaft, da in ihrer Forschung er nach fibereinstimmen-
der Ueberzeugung zu einer besonderen Erklärung nirgend ver-
wandt werden darf; nur bei dem Versuch einer philosophischen
Begreifung des Weltalls stellt er sich als nothwendig heraus.
Von einer transscendent - religiösen Ableitung der Erschein-
ungen kann demnach keine Bede mehr sein. Schon die Ueber-
gangszeit war sich darüber klar, Jordano Bruno setzt den Unter-
schied des gläubigen Theologen vom wahren Philosophen daiin,
dass jener in seinen Erklärungen über die Natur hinaufsteige,
dieser sich in ihren Grenzen halte**); Kepler bezeichnet den
Unterschied der eignen Ueberzeugung von der seines orthodoxen
*) Immerhin iBt auch das bemerkenswerth, dass er lieber überweltlich
als ansBerweltlich sagen will, s. z. B. 571a: Dien selon nons Intelligentia
extramundana, comme Hart Capella Tappelle, on plntöt snpramnndana.
**) S. della causa, principio et nno, 4. Dialog.
Immanent (kosmisch). g7
Freundes Fabricius, indem er sagt (I, 332); Tibi Dens in naturam
yenit, mihi natura ad divinitatem aspirat, und indem Spinoza die
Begriffe Gott und Natur (freilich im philosophischen Sinne) gleich-
setzt (deus sive natura) und nur eine einzige Welt gelten lässt,
musste alles, was man als übernatürlich Vor der vernünftigen
Betrachtung zu rechtfertigen versucht hatte, nunmehr als ein
widernatürliches entfernt werden.*) Die Begriffe der Ewigkeit
des Seins und der Gesetzmässigkeit alles Geschehens verdrängen
Begriffe wie Schöpfung und Wunder, und es erhält die immanente
Weltbegi'eifung hier eine typische Gestalt.
Die Welt aber, die also als Höchstes und Einziges gilt, wird
nun als Ganzes dem besondern Sein gegenübergestellt. Dasselbe
ordnet sich seinem Werthe nach jenem unter und fügt sich in
seinen Wirkformen ihm ein. Die ganze Betrachtungsweise muss
sich gegen früher ändern, kein Besonderes, und wäre es auch wie
der Mensch in dem erfahrungsmässig Gegebenen das Höchste,
darf auf sich das Geschehen beziehen, denn eben daraus gingen
die zahllosen Irrungen der Vergangenheit hervor; vielmehr muss
alles Einzelne vom Ganzen aus . beurtheilt werden. Die specu-
lativen Denker, welche diesen Begriff des Ganzen strenger nehmen,
glauben von ihm aus alles Einzelne begi*eiflich finden zu können,
es verschwinden alle scheinbaren Widersprüche aus der Welt,
wenn der Beobachter, nach Leibnitzens Ausdruck, das Auge in
die Sonne stellt und von hier die Dinge ansieht. Die schwersten
Probleme, auch des geistigen Lebens, glaubt man durch eine
solche Veränderung des Standpunktes lösen zu können. Das Ganze
aber, dem sich alles unterordnete, war nicht ein ästhetisches, wie
im Alterthum, oder ethisches, wie im Christenthum , sondern es
♦) S. tract theol. pol. VI, 27: Neque hie uUam agnosco differentiam
inter opus contra naturam et opus snpra naturam; hoc est, ut quidam
ajunt, opus, quod quidem naturae non repugnat, attamen ab ipsa non
potest produci aut effici. Nam cum miraculum non extra naturam, sed in
ipsa natura fiat, quamvis supra naturam statuatur, tamen necesse est, ut
naturae ordinem interrumpat, quem alias fixum atque immutabilem ex Dei
decretis concipimus.
S8 Immanent (kosmisch).
sollte ein metaphysisches sein, ward aber thatsächlich ein mathe-
mathisches, sei es geometrischer, sei es arithmetischer Natur
(Spinoza oder Leibnitz). Das einzelne gilt demnach letzthin nur
als integrirender Theil einer Grösse , und wenn also jegliches als
gleichartig gefasst ist, kann irgend welche specifische Bedeutung
nicht mehr in Anspruch genommen werden. — Unabhängig
aber von solchen speculativen Versuchen war gemeinsame Ueber-
zeugung sämmtlicher Denker die Gleichmässigkeit alles Geschehens ;
Zeit und Baum ändern daran nicht das mindeste, und in jedem
Punkte 'ist ein Durchgehendes und Ewiges zu erfassen. Alles
scheinbar specifische muss sich auf einfaches zurückführen und
damit gleichen Ordnungen einfügen lassen.
Die Verfolgung solcher Bichtungen musste auch die ganze
Empfindung der Welt umgestalten. Bei aller äussern Erweiterung
des Horizontes schienen die Dinge doch dem Wesen nach dem
Menschen näher zu rücken, denn in Allem wirkte ja das Gesetz,
was sein eignes Leben beherrschte. Alle Begriffe schienen sicli
femer gegenüber dem engen Kreise, den man gesprengt hatte, zu
erweitem, und da zunächst der Aufmerksamkeit entging, dass mit
der Ausdehnung des Umfanges der Inhalt abnehmen musste, so
dünkte reiner Gewinn davon getragen ; die Fülle concreten Lebens,
welche die historischen Gestaltungen in ihrer Geschlossenheit ent-
hielten, mochte nunmehr in das ganze Weltall sich ergiessen
und es beleben. Grösser und freier schien so das Leben; wer
woUte es der Zeit, die jene Ideen zum Durchbruch brachte, ver-
denken, wenn sie sich ganz dem Neuen hingab und von der
immanenten Erfassung der Welt eine durchgehende Wendung zum
Bessern erhoffte?
Erst nach und nach traten die Einschränkungen und Schwie-
rigkeiten hervor. Vor allem ist das gewiss, dass eine Zweiheit
der Welt auch hier sich geltend macht und vielleicht mehr geltend
macht als je zuvor. Denn die Welt, die das wissenschaftliche
Denken ausbildet, ist von der, welche der sinnlichen Wahrnehmung
vorliegt, durchaus verschieden, und die Kluft wird um so grösser,
je mehr sich das Denken seinen Zielen annähert. Das Gegebene
Immanent (kosmisch). ' 89
wird zerlegt und in neue Zusammenhänge gebracht, dadurch aber
Inhalt und Verhältniss der einzelnen Dinge vollständig gegen die
anfangliche Gestalt umgewandelt, so dass die Wissenschaft die
Welt wesentlich anders zurückgiebt als sie dieselbe empfangen
hat. Und je weiter man in der Hinleitung auf einfache Kräfte
fortschreitet, desto mehr wird das Unmittelbare verlassen, und es
scheint so eigenthümlicher Weise die Forschung die Welt uns in
dem Masse femer zu rücken, als sie dieselbe uns erkennen lehrt.
Jedenfalls steht die Welt der exacten Wissenschaft der Welt des
naiven Bewusstseins mindestens so fremd gegenüber, wie es früher
die Welt der künstlerischen Anschauung und des religiösen
Glaubens gethan hatte.
Aber auch innerhalb des Vorliegenden erwachsen Probleme,
deren Beantwortung bis zum G^ensatze auseinander führt. Der
gewöhnlichen Auffassung scheint Geistiges und Körperliches neben
einander zu stehen, ein solches Nebeneinander lässt sieh hier aber
letzthin nicht ertragen, innerer Zusammenhang oder gar Zurtick-
führung des Einen auf das Andere muss daher erstrebt werden.
Den Einen ist nun der Weltinhalt ein geistiger und speciell in-
tellectueller, denn das ist von vom herein der neuen Zeit eigen-
thümlich, dass das Greistige durch das Denken bestimmt wird.
Die Gesammtheit des Vorliegenden soll darnach in Denk- und
Erkenntnissformen verwandelt werden, es bildet die Welt einen
vom Geist stets thätig erzeugten Gesammtprocess, dem sich alles
Besondere als Stufe einfügt. Von hier aus ergibt sich für die
Wissenschaft die höchste Aufgabe: das unmittelbar Vorliegende,
roh Stoffliche wird ergriflfen und umgewandelt, das scheinbar
Buhende in Fluss gebracht, in allem Aeussern ein Geistiges
wiedererkannt; aber die Schranke bleibt, dass man über rein
formale Bestimmungen nicht hinausgelangt und; wie es in den
Systemen der constructiven Philosophen offenkundig vorliegt, auf
Ergreifung alles Concreten verzichten muss.
Auf der andem Seite gilt die äussere Natur, wissenschaftlich
erfasst, als wahre Welt. Hier finden die specifisch neuen Kategorien
ihre volle Verwerthung, mehr und mehr wird das Mannigfaltige
90 ' Immanent (kosmisch).
als Ergebniss einfacher Grundtliätigkeiten begi-iflfen, werden Ge-
setze ermittelt, in denen sich alles Geschehen bewegt, wird durch
den Begriff fortschreitender Gestaltung das Zusammengesetzte von
dem Einfachen her auch thatsächlich gewonnen. So erhält hier
die immanente Erklärung einen concreten Inhalt, es thut sich
eine unendliche Fülle des Stoffes, ein überwältigender Reichthum
von Gestalten der wissenschaftlichen Behandlung auf. Aber hier
gelangt man nicht eigentlich zu einem Weltbegriff; das Einzelne
steht in seinem Wirken nebeneinander, ohne dass das Zusammen-
sein begriffen wäre; es stimmt in den Formen des Geschehens
überein, ohne dass diese Uebereinstimmung innerlich verstanden
und rechtfertigt wäre, so dass schliesslich der Begriff des Gesetzes
in der Luft schwebt ; es bilden sich neue Gefüge und das Ganze
schreitet vorwärts, aber nicht nach einer Noth wendigkeit des
Ganzen, sondern aus dem zufälligen Zusammensein der einzelnen
für sieh ziellos wirkenden Kräfte heraus. Kann so nicht einmal
auf eignem Gebiet Gesetz und Gestalt wahrhaft verstanden werden,
so bildet eine unübersteigliche Schranke das geistige Leben, ja
es wird eben das nicht begriffen, was die ganze Wissenschaft
trägt und bedingt: der beobachtende und forschende Geist selber.
So mag die ganze Theorie innerhalb ihres Gebietes staunens-
werthes und zweifelloses erreichen, es gilt das alles unter so viel
Bedingungen und Einschränkungen, dass von einer letzten Er-
fassung der GesammtWelt nun und nimmer die Rede sein kann.
Es scheint aus dem allen zu erhellen, dass beide Riehtungen
auf einander angewiesen sind und der Begriff der Welt über die
einseitigen Auffassungen erweitert werden muss. Keiner der her-
vorragenden speculativen Köpfe konnte sich dieser Aufgabe ent-
ziehen , und eine Geschichte des Weltbegriffes in der neuern
Philosophie würde Gesammtbewegung wie Eigenthümlichkeit der
Einzelnen abspiegeln; der grossartigste Versuch aber liegt ohne
Frage bei Leibnitz vor. Natur wie Geisteswelt sollen dadurch
geeint werden, dass sie sich als Stufen der Auffassung einer ein-
zigen Welt erkennen lassen. Nachdem ein jedes. für sich voll-
auf und ohne Störung zur Ausbildung gekommen war, sollten
Immane&t (kosmisch). 91
beide erst in der letzthin zusammenfassenden philosophischen Be-
trachtung und nach geschehener Umwandlung in Verbindung mit
einander treten. Für diese Verbindung aber war von erheblicher
Bedeutung, dass Leibnifz den Weltbegriflf insofern principiell er-
weiterte, als nicht nur das in der Erscheinung Wirkende, sondern
auch die latenten, dabei aber doch thätigen Kräfte von ihm
umfasst werden. Das Vorliegende erschien so als Folge eines
sich weiter und tiefer erstreckenden Geschehens, das hinzugedacht
werden muss, um causalen Zusammenhang in die einzelnen Er-
scheinungen zu bringen, und es entstalid nun die Frage, ob durch
eine solche Umgestaltung des Weltbegriflfes es jodcht möglich
werde, die Begriffe in eine Sphäre zu erheben, wo der Gregensatz
von Natur und Geist überwindbar ist. Leibuitz hat daran seine
ganze Kraft gesetzt, aber dass bei allen glänzenden Entdeckun-
gen und allen Erweiterungen des Wissensgebietes, zu denen ihn
dies Streben führte, es in der Hauptsache gelungen sei, das
werden wir mit Kant verneinen müssen. Eine Einigung fand
freilich statt, aber in einem ßeich der Schatten, der Ontologie,
die concreten Bestimmungen blieben schliesslich doch unausge-
glichen. In dem Grundbegriffe der Möglichkeit aber fallen die
physikalische Bedeutung der Spannkraft und die logisch - meta-
physische des (gesetzlich) Denkbaren trotz aller Versuche der
Einigung immer wieder auseinander, und das Unternehmen, in-
tellectuelle und sinnliche Welt zu verbinden, ist damit gescheitert.
Die klare Erkenntniss der Unmöglichkeit, die Aufgabe von
den gegebenen Prämissen aus zu lösen, ist bestimmend für die
Gestaltung der kantischen Philosophie geworden. Der Gegensatz
wird nun aufrecht erhalten, aber mit der gesammten Erkenntniss
in das Gebiet der Erscheinung hinein verlegt. Damit ändert sich
der ganze Weltbegriflf und die neue Kategorienlehre ist aufge-
geben. Dinge an sich werden von den Erscheinungen getrennt,
das Streben, die Mannigfaltigkeit der Wirkformen auf eine Grund-
kraft zurückzuführen, ist verlassen, eine Melirheit von Vermögen
bleibt neben einander stehen, die Bedeutung des Zusammenseins
der Dinge wird erheblich herabgesetzt; kurz hier bahnt sieh ein
92 Imnument (kosmisch).
eingreifender Umschwung an, auf den näher einzugehen vrir uns
aber hier rersagen dürfen, da im Grossen und Granzen f&r die
wissensehaftliehe Arbeit die Auffassungen und mit ihnen die
Probleme des 17. Jahrhunderts herrschend geblieben sind. Das
darf darnach unbedenklich behauptet werden, dass auch m der
Gegenwart es an einem concreten philosophischen WeltbegriflTe,
dem die verschiedenen Gebiete und Seinsarten sich unterorden,
gänzlich fehlt. Nicht blos Geistiges und Materielles, sondern auch
Inhalt und Form fällt uns auseinander. Der eine denkt zunächst
an dieses, der andere an jenes, und nur. das Wort verbirgt es
einigermassen,.dass wir ganz verschiedenes denken, wenn anders
wir fiberhaupt etwas dabei denken.
Diesem Problem der Bestimmtheit des Inhaltes der Welt
treten andere hinzu und bereiten der immanenten Erklärung
Schwierigkeiten. Die einzelne Erscheinung soll vollständig von
dem Durchgehenden oder vielmehr das als abgeleitet Geltende
von dem Einfachen aus begriflFen werden; es fragt sich nur, ob
sich alle besondere Gestaltung also fassen lässt und nicht eine
Individualität von Gebieten und Einzelwesen anerkannt werden
muss. Die Gefahr liegt hier namentlich für die naturalistische
Richtung nahe, als kosmisches ohne weiteres das empirisch am
meisten Verbreitete und von Anfang an in der Erscheinung Vor-
liandene, ja das Einzelne vor aller Verbindung hinzustellen und alle
specifische Gestaltung für zufälliges Nebenergebniss zu erachten,
während vielleicht das nur an einzelnen Punkten Hervortretende
für die letzte Auffassung der Welt eine entscheidende Bedeutung
haben und das scheinbar Specifische zu einer Umgestaltung der
Principien selber zwingen kann. Bei dem gewöhnlichen Verfahren
erhielt man leicht statt des umfassenden Begriffes, der an die
Stelle des eng Menschlichen treten sollte, das positive Gegentheil
des Bekämpften : es sollte das unterhalb der menschlichen Sphäre
Liegende, ja das Unorganische als das kosmische gelten, wie es
denn eine durchgehende Gefahr neuerer Forschung ist , etwas
deswegen schon für zutreffend zu halten, weil sein positives
Gegentheil sich .als ungenügend erwiesen hat.
Immanent (kosmisch). 93
Eine nicht geringere Schwierigkeit macht für den Weltbegriff
und die immanente Erklärung das Yerhältniss des in der Zeit
Geschehenden zu den zeitlos wirkenden Grundkräften. Als Ent-
wicklungsprocess 'gefasst scheint das Geschehen an die Zeit ge-
bunden. Das Spätere setzt das Frühere voraus und nimmt es
auf; damit aber wird es abhängig, so dass nun das Problem
entsteht, wie mit der Unmittelbarkeit und Zeitlosigkeit der Grund-
kräfte die bestimmten Gestaltungen vereint werden können. Auch
die Erklärung geräth damit in's Schwanken, indem einmal das
Gegenwärtige nur aus dem Vergangenen verstanden werden kann,
und dann doch an einer unmittelbaren Verification festgehalten
werden soll. Am deutlichsten tritt dieses Dilemma in dem hegelschen
Systeme hervor. Principiell muss die Entwicklung als eine stets
in sich zurückkehrende und somit zeitlose gefasst werden, dann
aber treten doch die einzelnen Momente real auseinander, und es
muss entweder die Zeit und alles in ihr Geschehende zum blossen
Schein gemacht werden, was sofort neue Fragen heiTorriefe, oder
aber der speculative Grundgedanke ist abzuschwächen, wenn
nicht aufzugeben. Die naturalistische Eichtung aber hat an dieser
Schwierigkeit insofern zu tragen, als die besondere Gestaltung
entweder als zeitlos in den Gesammtdispositionen enthalten ge-
dacht werden muss und dann mehr als ein unmittelbar Wirkendes
als seiend anzunehmen ist, oder aber das später Hervortretende
als ein ganz neues und causal nicht genügend verknüpftes er-
scheint Es beharrt also das Dilemma, entweder sich auf "den
Moment zu beschränken, oder die reine Unmittelbarkeit des Er-
kennens aufzugeben, und es bleibt ungelöst jenes alte Problem des
Verhältnisses von Geschichte und Ewigkeit.
Nach dem allen ergibt sich leicht, wie über die heute wieder
mit verstärktem Naclidruck geltend gemachte Forderung einer
immanenten Erklärung der Welt zu urtheilen sei. Dieselbe ent-
hält eine Wahrheit, welche ihrem allgemeinen Inhalt nach vor
allem Streit und Zweifel anzuerkennen ist: nur was sich als
wirkend bezeugt, darf als seiend anerkannt werden, und die Er-
94 Immanent (kosmisch).
klärung hat die Aufgabe, alles was Gegenstand der Erfahrung
ist, auf solche wirkend bezeugte Kräfte zurückzuführen. Dass
wir dieses fest im Bewusstsein halten und daher nichts als seiend
anerkennen, was sich nicht in streng causaler Verknüpfung von
jenem Ausgangspunkte her gewinnen lässt, das macht unsern
gemeinsamen Unterschied von andern Zeiten, namentlich vom
Mittelalter, aus. Aber alsbald entsteht die Frage, wie weit das
Denken über das unmittelbar Vorliegende hinauszugehen gezwungen
werde, um das letzthin und selbstständig Wirkende zu ergreifen
und so statt zu einer blossen Umschreibung zu einer wirklichen
Erklärung zu gelangen ; und dieser Frage gegenüber ist jede Ant-
wort eine ganz bestimmte These, die sorgfältig begründet werden
muss und sich keineswegs als durch jene allgemeine Wahrheit
gedeckt ansehen darf.
Wenn immanente Welterklärung hier soviel besagt, dass bei
dem unmittelbar in der äusseren Natur Gegebenen Halt zu machen
sei, so bleibt auf dem eigenen Gebiete, wie wir sahen, die ge-
sammte wissenschaftliche Arbeit der Neuzeit, und überhaupt Ge-
setz und Form, sodann aber alles Geistesleben unbegriflfen; und
wenn hier der Physiker den anfänglichen Fehler leicht in der
concreten Arbeit verbessert, so ist hingegen der Physikant geneigt,
den Irrthum zu steigern und immanente Welterklärung gerade
das Gegentheil von dem zu nennen, was der Ausdruck besagt.
Er spricht von Immanenz, wo es sich um rein äusserliche Be-
zieÜUngen handelt, von Welt, wo die Idee eines Weltganzen vor
der überwältigenden Macht der zerstreuten Erscheinungen aufge-
geben ist, von Erklärung, wo nur ein Nebeneinanderstellen äusserer
Geschehnisse vorgeht. Soll aber die Forderung immanenter Welt-
erklärung ausdrücken, dass das in Natur und Greist Vorliegende
unmittelbar so, wie es sich gibt, das Mass der Wahrheit sei, so
bleibt die Thätigkeit des Geistes und im Besondern die von ihr
in der Neuzeit ausgehende Umgestaltung des Weltbildes ausser
Acht. Wird endlich die Thätigkeit anerkannt, aber auf eine blos
formelle Umbildung des „Gegebenen" eingeschränkt, so fragt es
Immanent (kosmisch). 95
sich, ob eine solche nicht nothwendig auch materiell weiter führe
und der Welt des Denkens einen reichem Inhalt gebe als der
Welt der Erscheinung.
Solche Probleme und Schwierigkeiten, in die wir von Schritt
zu Schritt mehr hineingerathen , dürfen natürlich das allgemeine
Postulat immanenter Erklärung nicht abschwächen, aber die Frage
scheint gerechtfertigt, ob der bestimmte Weg und die ganze Art
der Behandlung, welche die neuere Wissenschaft eingeschlagen
hat, zum Ziele hinreichen ; ob nicht weitere Ausgangspunkte ver-
sucht, andere concreto Bestimmungen des Wirkenden mit heran-
gezogen, andere Methoden dem entsprechend ausgebildet werden
müssen, um vielleicht einen Schritt weiter zu kommen. Doch
solchen Fragen thut man Unrecht, wenn man sie nur im Fluge
streift.
Monismus — Dualismus.
Ich behaupte, dass einen wirklichen
Gegensatz in seiner ganzen Schärfe
darstellen ebenso vortheilhaft für die
Wissenschaft ist als seine Identität
darstellen.
Schellin g.
Da eine Hauptschwierigkeit flir einen universalen Weltbegriff
und eine immanente Erklärung in dem Unterschiede körperlichen
und geistigen Seins , bestand , so müssen alle Versuche , diesen
Unterschied zu vermindern oder aufzuheben, erhebliche Folgen
für die gesammte wissenschaftliche Arbeit haben; und es darf
darum der naturwissenschaftliche Monismus der Gegenwart allge-
meiner Beachtung sicher sein.
Dem Ausdruck nach ist Dualismus älter als Monismus. Jenes'
findet sich zuerst bei Thomas Hyde in der Schrift de religione
veterum Persarum zur Bezeichnung eines religiösen Systems, worin
neben dem guten Princip ein böses gesetzt wird, und es ward in
diesem Sinne das Wort durch Bayle (s. den Art Zoroastre) und
Leibnitz (s. Theodicee II, 144, 199) weiteren Kreisen vermittelt*)
Den Gregensatz von Monismus und Dualismus bildet zuerst Wolff^
aber nicht in der Religionsphilosophie, sondern der Metaphysik.
Monisten heissen ihm nämlich diejenigen Denker, welche nur ein
*) S. z. B. Brucker (ed. II) I, 176: ex ratione systematis quod vocari
ita seiet dualistici.
Monismus — Dualisiuas. 97
Princip, sei es geistiger, sei es körperlicher Art, annehmen, so
dass sowohl die „Idealisten" wie die „Materialisten"*) darunter
befasst werden, während Dualisten diejenigen sind, welche Körper
und Geist als von' einander unabhängige Substanzen beti*achten.
Ihnen wollte sich Wolflf selbst zugerechnet wissen. Das Wort
Dualist gelangte in dieser Verwendung zu ziemlicher Verbreitung,
(s. z, B. Kant, Kritik der reinen Vernunft, I. Aufl. (bei Harten-
stein in, 599), Fichte 11, 88 ; eine andere Bedeutung s. Kant VI,
360) ; Monismus dagegen fristete in philosophischen Wörterbüchern
ein kümnierliches Dasein**), bis es als Bezeichnung der hegel-
sehen Philosophie (s. z. B. Göscheis Monismus des Gedankens
1832) zu weitester Verbreitung gelangte. Es war wieder einiger-
massen zurückgetreten , als es von der neuem Naturphilosophie
aufgenommen und zum Losungswort einer Lehre gemacht wurde,
der Geistiges und Körperliches nicht als etwas getrenntes und auch
nicht als von einander abgeleitetes, sondern als etwas in einem
wesentlichen und unzertrennlichen Zusammenhange stehendes gelten.
Die Materie erhält als ursprüngliche Bestimmtheit ein geistiges
Merkmal, das im Lauf der Gestaltung sich bis zu vollbewusster
Thätigkeit steigert. Der G^ist fällt dabei in den allgemeinen
Weltprocess hinein und wird durch die physikalisch-mechanischen
Gesetze desselben beherrscht. Wie demnach der Terminus Monis-
mus so ziemlich in das Gregentheil der anfänglichen Bedeutung
übergegangen ist, so ist auch die Werthschätzung umgeschlagen :
während die Wolffianer sich gegen den Monismus nicht genugsam
glaubten verwahren zu können, wird jetzt jene natui'philosophische
Lehre fast nur bekämpft, um eine andere Form des Monismus
dafür einzusetzen. Ein solcher Umschwung dürfte wohl als Zeichen
dafür gedeutet werden, dass bei dem vorliegenden Problem ver-
schiedene Gesichtspunkte möglich sind und verschiedene Motive
*) üeber Idealismns s. nuten ansführliches , „Materialist'' finde ich
znerst bei Boyle (so in der 1674 erschienenen Schrift the excellence and
grounds of the mechanical phiiosophy).
**) Bei Fichte II, 88 findet sich als Gegenstück von Dualismus Unitismus«
Eacken, Geschichte und Kritik. 7 .
9 g Monismns — Daalismns.
sich durchkreuzen, und das finden wir bei näherer Prüfung voll-
auf bestätigt.
Schon für die erste Betrachtung, noch mehr aber für die
wissenschaftliche Forschung ist das Geistige mit dem Körper-
lichen so eng verbunden, dass jedes Auseinanderreissen als ein
gewaltsames erscheint, dazu verlangt die Metaphysik Einheit des
letzten Principes, und endlich will die ästhetische Anschauung
sinnliches und geistiges nicht auseinanderfallen lassen. Dagegen
scheint zunächst als gleichwiegender Grund nicht aufkommen zu
können, wenn das Selbstgefühl des Geistes, das Bewusstsein eines
einzigartigen Lebensinhaltes zu dem Anspruch auf eine gesonderte
und ausgezeichnete Stellung in der Welt führt, aber ein solches
Verlangen erhält eine Stütze durch die Analyse des specifischen
Inhaltes beider Gebiete, die so tiefgehende Unterschiede heraus-
stellt, dass eine einfache Verbindung oder Gleichsetzung unmög-
lich zu werden scheint. So steht das Eine gegen das Andere,
jedwedes stark genug sieh zu behaupten, aber zu schwach, das
Andere endgültig zu unterwerfen.
Bei den Griechen überwogen die Motive des Monismus, aber
derselbe durchläuft bei ihnen sehr verschiedene Formen. Zu
Anfang ist das Geistige dem Körperlichen nur als ein Merkmal
beigesellt, bis mit Anaxagoras jene Scheidung eintritt, welche die
Vorbedingung der sokratischen Schule ausmacht. Nachdem hier
Plato dem Geistigen den Vorrang erstritten hatte, ward in der
aristotelischen Philosophie ein speculativer Monismus ausgebildet,
der beide Seiten zu umfassen sucht und der trotz mancher
Schwankungen in der Ausführung als Höhepunkt griechisclien
Denkens angesehen werden darf. Auch die spätem Schulen hielten
am Monismus fest, nur ist darin, dass er bei den Stoikern ab-
strakter, bei den Epicureern roher wird, ein Sinken unverkennbar.
Die allgemeine Empfindung kam dem Dualismus entgegen, der
theils an Plato anknüpfend, theils orientalische Einflüsse auf-
nehmend, den Gegensatz von Geistigem und Körperlichem dem
des Guten und Bösen annäherte, diesen aber aufs schärfste aus-
Monisrnns — DaaliBmns. 99
prägte.*) Jedoch dagegen erhob sich noch einmal der Drang des
^ griechischen Geistes nach einer einheitlichen Weltbegreifung und
schuf in der Lehre des Plotin ein System, worin das Körperliche
dem geistig -intellectuellen Leben als eine Erscheinungsform und
Stufe eingefügt wird. Aber diesen Gedanken eines spirituali-
stischen Monismus kräftig durchzufahren, war eine absterbende
Zeit nicht mehr fähig : eben bei dem Versuch, den G^ensatz des
Geistigen und Körperlichen zu tiberwinden, bricht die Welt in
eine ideelle und sinnlich - erscheinende auseinander und der Stoff
drängt sich doch wieder als eine positive Macht, ja als die Macht
des Bösen ein. Immerhin aber gelangte die griechische Philo-
sophie gerade am Gegentheil dessen an, von dem sie ausgegangen
war. Der zuerst in das natürliche Geschehen versenkte Geist
hatte sich nach und nach zur Selbstständigkeit und Freiheit her-
^ausgearbeitet und hielt daran unbeirrt fest; aber um in dem
Kampfe diese Stellung zu behaupten, ward er immer mehr dahin
gedrängt, die erscheinende Welt herabzusetzen, ja aufzugeben, bis
sie sich endlich zu einem blossen Gleichnisse des wahren Seins
umgewandelt hatte. Wenn irgend, so bewährte sich darin der
Idealismus griechischen Wesens, eher die vorliegende Welt als
die Bealität geistigen Lebens aufzuopfern, wie die speculative
Kraft sich dadurch vielleicht am meisten bezeugt, dass trotz des
ungeheuren Druckes, der damals auf dem Denken lastete, es doch
nicht mit einer zwiespältigen Welt abschliessen wollte und in
jsich selbst die letzte Einheit suchte.
Dem Ghristenthum dürfte, insofern es den Geist als freie
Persönlichkeit zur Quelle alles Seins macht, ein absoluter Monis-
mus zugeschrieben werden; aber hier wie an manchen andern
Punkten wird die allgemeine Ueberzeugung mehr durch die uns
unmittelbar berührende Erscheinung als durch ihren letzten Grund
bestimmt. In jener aber schien der Abstand des Körperlichen
und Geistigen so gross, dass gewöhnlich der Mensch geradezu
*) Plutarch, Isis und Osiris 45 (Ausg. von Parthey): del ykvhow \$inv
jcal aQX^y M<fn€Q aya^ov xal xaxov rriy q>v0iy ex^^t^»
7*
i
100 Monismus — Daalismns.
als ein Zusammengesetztes {avvxB&kv^ compositum) bezeichnet
wird. Es sehloss eben die Werthschätzung des ethisch-religiösen
Inhaltes des Geisteslebens nicht nur ein Herabziehen desselben
in ein blosses Naturgeschehen aus, sondern verbot auch eine zu
enge Verknüpfung beider. Daneben gingen freilich manche
Strömungen her. Auf TertuUian's Materialismus konnte sich ein
Hobbes berufen, während für Augustin*) und die Mystiker allein
das Greistige ein letzthin Seiendes bildete.
Den Höhepunkt erreichte die Behandlung des Problemes aber
in der Neuzeit. Für jedwede Richtung traten hier mächtige An-
triebe neu ein und steigerten Heftigkeit wie Fruchtbarkeit des
Kampfes. Der Monismus hatte dabei gewöhnlich einen Schritt
voraus. Für ihn wirkte vor allem das Streben nach einer im-
manenten Weltbegreif ung, wodurch die Anforderungen an Einheit
und Zusammenhang des Universums so gesteigert wurden, dass
zwei verschiedene Grundkräfte nicht neben einander ertragen
werden konnten; es kam hinzu die wachsende Erkenntniss der
Abhängigkeit geistigen Lebens von körperlichen Functionen, die
Einsicht in die Verwandtschaft des menschlichen Lebens mit
niederen Formen, die vom Stofflichen abhängig zu sein scheinen,,
der Gredanke der Entwicklung, vor dem ein isolirtes Sein sich
nicht behaupten kann. — Zunächst glaubte man nun durch
einfache Verbindung das Problem Iqsen zu können, und es wai*
schon im 16. Jahrhundert eine Auffassung in wissenschaftlichen
Kreisen verbreitet, die manche Züge mit dem heutigen Monismus
theilt. Allem Körperlichen sollte ein inneres Leben beigelegt und
in allen natürlichen Vorgängen eine Analogie mit seelischer Thätig-
keit angenommen werden. Paracelsus z. B. wollte in allen Dingen .
eine Seele oder doch etwas, das „gleichförmig der Seel" **), er-
*) S. Aagustin I, 254 D: intellectos in quo universa sunt vei ipse
potius' universa. Vi, 96 C: colligitur non esse causas efficientes omnium
quae fiunt, nisi voluntarias, illius naturae scilicet quae Spiritus vitae est.
"**) Phil, ad Ath. 116: Zum mehrerem Verstand, was ein Element sey,
ist ein Element nichts änderst dann ein Seel. Wiewol nit, dass sein Wesen
sey wie ein Seel, sondern gleichförmig der Seel. Dann ein Underscheid
• • • • ••" • •
Monismas — DaaliBmas. 101
kennen, and der eigentliche Apostel dieser neuen Naturphilosophie,
Jordano Bruno, verkündete mit Begeisterung, dass auch das kleinste
Körperchen. Seelisches in sich enthalte, und dass Körperliches und
Geistiges auf eine einzige Wurzel zurückkämen.*)
Gegen ein Beharren auf diesem Standpunkt wirkten indessen
gewichtige wissenschaftliche Gründe, zunächst in der Physik, dann
auch in der Philosophie. Die ganze exacte Naturerklärung hatte
zur unerlässlichen Voraussetzung die Befreiung des Körperlichen
von jenen inneren Merkmalen, die von dem scholastischen Aristo-
telismus eingemengt wurden. Eben weil hier alles Wi^en auf
innere Kräfte zurückkam und fortwährend die Eigenthümlichkeiten
geistigen Lebens in die Natur hineingetragen wurden, konnte von
einer wissenschaftlichen Erkenntniss im Sinne der Neuzeit keine
Bede sein; die Grundgesetze dieses Erkennens gelten nur inso-
fern, als alles Innere aufgegeben und die Natur als ein seelen-
loses betrachtet wird. Um aber das durchzuführen, ist viel
mühevolle Arbeit nöthig gewesen ; Männer wie Nicolaus Taurellus,
Kepler, Galilei u. A. haben alle Mühe darauf verwenden müssen
und sind nur Schritt für Schritt dem Ziel näher gekommen. Der
menschliche Geist musste hier die Natur von sich entfernen und
auf unmittelbare Verbindung mit ihr verzichten, welches Entsagen
eine Kraft und Aufopferung verlangt, die wir verehrungsvoll zu
bewundem haben.
Es fügte sich nun, dass eben als in der Physik die analytische
Arbeit in Galilei zu einem ersten Abschluss gekommen war, sie
durch Cartesius auf die Philosophie überging. Bei ihm zuerst
ward Körperliches und Geistiges principiell von einander ge-
schieden, Bewusstthätiges und Ausgedehntes konnten, wenn auch
im Wirken eng und gesetzlich verbunden, doch nicht auf ein
ist zwischen der Seel des Elements und zwischen der ewigen Seel : die Seel
der Element ist das Leben aller Geschöpff.
*) Della causa II: spirto si trova in tntte le cose, e non ^ minimo
corpusciüO; che non contegna cotal porzione in s^, che non inanimi. III,
gegen Schlnss: in somma l'una e Taltra si ridnca ad uno essere et nna
radice.
102 Monismus — Dualismus.
Wesen zurüekgefQhrt werden, so dass nicht eine Einheit der Natur
(unitas naturae), sondern nur eine Einheit der Zusammensetzung
(unitas compositionis) hier behauptet werden konnte. Descartes
musste so urtheilen, wenn er der Grundüberzeugung seiner Philo-
sophie treu bleiben wollte. Denn wenn darnach die Substanz nur
aus dem Wirken erschlossen oder vielmehr zu ihm hinzugedacht
wird, so kann ein Sein mit zwei ganz verschiedenen Kräften
nicht ertragen werden. — Aber freilich konnte man andererseits
in dem Zuge nach einheitlicher immanenter Weltbegreifung nicht
wohl z^ei Kräfte im Wesen unverbunden stehen lassen, so dass
nun die -mächtigsten Strebungen der neuem Philosophie mit ein-
ander in Widerspruch geriethen. Jedenfalls war der naive Monis-
mus des 16. Jahrhunderts zerstört und das Problem so gesteigert,
dass nur von einer speculativen Umbildung des Erscheinenden>
ein Fortschritt erhofft werden konnte.
Unter den Lösungen stehen für uns die Spinoza's und
Leibnitzens voran. Indem jener die Begriffe von Körper und Geist
gegen Descartes fast unverändeii; liess, suchte er durch die Art,
wie er ihre Stellung zu einander und zur Substanz bestimmte,
die Schwierigkeiten zu heben. Sein Gedanke, Körper und Geist
innerhalb des Weltbegriflfes wesentlich zu verbinden, ist dem all-
gemeinen Gehalte nach so nothwendig und überzeugend, dass
darüber das Verfehlte der Durchführung oft übersehen wurde.
Für uns genügt es, daran zu erinnern, dass principielle Auffassung
und eingehende Entwicklung nicht übereinstimmen. Nach jener
hätte Spinoza das Geistige auf die absolute Substanz als Bewusst-
seinsinhalt beziehen müssen, wodurch allerdings seine Philosophie
Mystik geworden und die Verwandtschaft seines Substanzbegriffes
mit dem mittelalterlichen klar hervorgetreten wäre; wenn sich
dagegen in Wirklickeit jenem absoluten Sein die Körperwelt
unterschiebt, so ist damit freilich ein concreter Inhalt gewonnen
und eine Stellung auf dem Boden neuer Wissenschaft gesichert,
aber das Cteistige ist seinem specifischen Wesen nach aufgeopfert*),
Namentlich bezeichnend ist dafür, dass das Trägheitsgesetz als
Monismns — Dualismus. 103
und die gesammte Philosophie des Spinoza wird Naturalismus, ja
Materialismus auf dem Grunde eines Mysticismus. Zum äussern
Erfolge hat freilich diese anscheinende Versöhnung von Unverein-
barem nicht wenig beigetragen.
Leibnitzens Versuch steht schon deswegen über dem Spii^oza's,
weil hier der Inhalt der Begriffe nicht einfach von einem andern
Denker aufgenommen wird, sondern auf Grund selbstständiger
Analyse weitere Bestimmungen erhält. Beim Köi-perlichen trat
vor die Ausdehnung das Merkmal der Kraft, der Begriff des
Geistigen aber ward so erweitert, dass er auch die unbewusste
Thätigkeit mit umfasste. Und nun ward versucht, das Materielle
als eine gesetzlich vorgehende Erscheinungsart des geistigen Seins,
ein phaenomenon bene fundatum, zu fassen, die ganze äussere
Welt als eine dem endlichen und darum verworren erkennenden
Geiste sich darstellende Spieglung des geistigen Kosmos zu be-
greifen. Damit werden alle physischen Bestimmungen den geistigen
untergeordnet, selbst die Grundgesetze der Bewegung sollen aus
der Idee der vollkommensten Welt abgeleitet werden. *) — Gegen
diesen gigantischen Versuch spricht weniger die Unmöglichkeit
den Ursprung des Sinnlichen aus dem Geistigen vorstellbar zu
machen, denn es wird nie einer Theorie möglich sein, das
unter wesentlich verschiedenen Bedingungen dem Erkennen Ge-
gebene in eine einfache Eeihe zu bringen**), als dieses da-
gegen entscheidet, dass bei solchem Versuche, das Geistige zur
Grundgesetz alles Seins, auch des geistigen, aufgestellt wird, s. tract. tbeol.
pol. XVI, '4: lex summa naturae est, ut unaquaeque res in suo statu,
quantum in se est, conetur perseverare, idque nulla alterius, sed tantum
sul habita ratione; eth. III, prop. 6.
*) t>b2 b meint er : physicam necessitatem. sie explicui , ut sit conse-
quens moralis.
**) Die Widersinnigkeit einer solchen Forderung hat Leibnitz selbst
klar ins Licht gestellt; s. 358b: vouloir que ces phant6mes confus de-
meurent et que cependant on y d^m^le les ingrMiens par la phantaisie
uieme, c'est se contredire, c*est vouloir avoir le plaisir d'etre tromp6 par
une agr6able perspective et vouloir qu'en m^me tems Toeil voie la trom-
perie, ce qui serait la gäter.
104 Monismus — Dtialismns.
alleinigen Weltmacht zu erheben, das Specifische seines Inhaltes
verloren geht. Die Monaden sind schliesslich nach dem eignen
Ausdruck des Philosophen nur „metaphysische Punkte", aber
nicht mehr geistige Wesen ; die Vorstellung mit ihrem Zusammen-
fassen der Vielheit in einer Einheit . ist nicht mehr ein psycho-
logischer, sondern ein ontologischer Begriff. *) Hatte also Spinoza
den concreten Inhalt des Geistigen der Natur untergeordnet und
dajnit zerstört, so opferte Leibnitz Geist und Natur ontologisch-
mathematischen Bestimmungen,* und wenn Spinoza's Begriffe dem
Geistigen geradezu widersprachen, so trafen die leibnitzischen
nur fßr eine abstrakte Fassung zu, von welcher der Weg zu den
concreten Beschaffenheiten nicht zurückzufinden war. Darin dass
Spinoza's Lehre bei ihrer Einseitigkeit einen bestimmt ausge-
prägten Inhalt hatte, lag es zum guten Theil begründet, dass sie
weit mehr einwirkte und den Gedanken des Monismus kräftiger
zu vertreten schien. Denn das Concrete ist mit allen Irrthümem
immer das geschichtlich Mächtige und Siegreiche. — Dazu kam,
dass die Schule Leibnitzens, alleimeist die fliessenden und leben-
digen Gedanken des Meisters erstarrend, aus seinem Monismus
einen so geistlosen Dualismus machte, dass demgegenüber freiere
und tieferdringende Geister den gleichsam wiederentdeckten, darum
aber wie neu aufti-etenden und einer idealistischen Umdeutung
zugänglichen Spinozismus als eine Erlösung begrüssen konnten.
Wissenschaftliche und künstlerische Motive wirkten zusammen,
eine innerste Abneigung gegen „das infame Zwei in der Welt"
(s. Lichtenberg, verm. Schriften VIII, 151) hervorzubringen.
Aber die Synthese , von der man sich, tiberzeugt hielt , war
mehr erfordert als erwiesen, in der systematischen Philosophie
blieb vielmehr das Bewusstsein zunächst durch das Misslingen
der monistischen Versuche Spinoza's und Leibnitzens beherrscht.
Die Hervorkehrung des specifischen Unterschiedes von Körper-
*) Der Vorwurf Kant's (III, 231), Leibnitz habe die Erscheinungen
intellectnirt, beruht auf einer mehr äosserlichen Auffassung desselben. Viel-
mehr sind bei ihm letzthin Geist und Natur einem dritten unterworfen.
Monismus — Daalismiui. 105
lichem und Greistigem, ron Sinnlichkeit und Verstand, und die
Erkenntniss der Unmöglichkeit, dieselben auf einander zurück-
zuführen, hat die Gestaltung der kantisehen Philosophie in weitem
Masse bestimmt Wenn sich ihm die Welt, wie sie als erscheinende
gegeben ist, aus den beiden Factoren, als dem letzten uns zu-
gänglichen, zusammensetzt, so ist damit freilich über deren reales
Verhältniss endgültig nichts entschieden, aber da diese Frage für
uns schlechthin transscendent war, so blieb die Differenz stehen,
und die bewunderungswürdige Kraft, mit dem sie im Systeme
durchgeführt war, musste alle bisherigen Formen des naiven wie
des speculativen Monismus innerhalb der Wissenschaft zeratören
und die Frage in ein drittes Stadium bringen.
Aber es liegt einmal in unserer Natur begründet, dass die
Analyse immer nur neue Versuche der Synthese hervorruft. Und
eine Synthese ward nun von den deutschen Philosophen in
külmster Weise unternommen, wobei sie darin übereinstimmten, das
Materielle von einem Geistigen als dem letzthin Seienden und die
{Jrscheinungswelt Hervorbringenden abzuleiten, während sie sonst
weit auseinandergingen und an verschiedene Punkte derVergangeur
heit Anschluss suchten. Wie man aber auch über die Ergebnisse
dieser Bestrebungen urtheilen mag, thatsäehlich sind sie mit in
die Krise der Philosophie hineingezogen und in ihrer Wirkung
auf das allgemeine Bewusstsein gelähmt. Eine solche Lage kam
dem Materialismus zu Gute, der, jeder wissenschaftlichen Philo-
sophie gegenüber ohnmächtig, in der Zeit speculativer Ermattung
stets sofort hervortritt,- eine Fülle von Erscheinungen für sich
verwerthet und leicht damit einen Einfluss auf weite Kreise
gewinnt
Der gegenwärtige Monismus darf schon als eine Fortbewegung
darüber hinaus betrachtet werden. Die Unmögliißhkeit klar er-
kennend, aus der Materie, und sei sie noch so fein genommen,
das Seelische durch Zusammensetzung hervorzubringen, will er
ein geistiges Merkmal als allem Sein wesentlich anerkennen
und führt dies näher dahin aus, der Materie überhaupt die Fähig-
keit von Empfindung und Bewusstsein zuzusprechen, nach dieser
V
106 MoniBmuB — Dnalismiui.
Erweiterung des Begriffes aber die Gesetze des materiellen Seins
zu Weltgesetzen zu erheben. Dieser neue Monismus hat es nicht
so sehr unternommen, in grossem historisohen Zusammenhange
und nach kritisch- systematischer Methode die Begriffe des Mate-
riellen und Geistigen einer neuen Analyse zu unterziehen, die
allgemeinen Bedingungen, unter denen uns das Sein als körper-
liches oder geistiges gegeben ist, zu erörtern, und erst in Verbin-
dung damit alle jetzt vorliegenden Daten zusammenfassend zu
verwenden, sondern für ihn sind bestimmend Gruppen und Zu-
sammenhänge von philosophisch unbearbeiteten Erscheinungen,
die einzeln meist schon früher bekannt und benutzt, nun durch
eine Art von darwinistischer Weltansicht zur Verknüpfung ujid
damit zu einer Gesammtwirkung gekommen sind.
Voran steht hier die Erkenntniss des Gebundenseins der
psychischen Vorgänge an physische. Die bequeme Vorstellung
früherer Zeiten, das Körperliche nur als Werkzeug des Geistes
zu betrachten, so dass dieser freischwebend seine Thätigkeit rein
von innen heraus gestalte*), ist durch die Ergebnisse der Wissen-
schaft hinfällig geworden. Mehr und mehr haben dieselben zu
der Auffassung hingedrängt, dass für den Process, den das naive
Bewusstsein als einen lediglich geistigen ansieht, das Körperliche
von eingreifender Bedeutung sei, indem es vorkommenden Falls
nicht bloss seinen Dienst versage, sondern auch positiv hemme,
ja von sich aus (wie z. B. in Geisteskrankheiten erweislich) das
Geistige in bestimmte Bahnen dränge. Und dabei fallt besonders
in's Gewicht, dass nicht nur ein allgemeiner Zusammenhang fest-
gestellt, sondern auch eine Abhängigkeit bestimmter geistiger
Leistungen von körperlichen Functionen, wenn auch bis jetzt nur
an einigen Punkten ermittelt, so doch weit darüber hinaus wahr-
scheinlich gemacht ist. Darnach erweist sich das scheinbar Ein-
fache und Selbstständige als zusammengesetzt und mannigfach
*) Man könnte übrigens diejenigen , welche gern der Philosophie über-
haupt diese Vorstellung zuschieben, ersuchen, einen einzigen bedeutenden
Denker zu nennen, der mit derselben sich begnügt habe.
Monisrnns — DnaJismas. 107
bedingt, das Eigne und Innere tritt einen Schritt zurück, das
Leben erseheint nicht als Darstellung eines im wesentlichen
Fertigen, sondern als Bildungsprocess zu neuer Gestaltung.
Dazu kam eine Aenderung der Stellung des menschlichen
Geistes, im Ganzen und im Einzelnen. Die vornehme Isolirung
Hess sich, nachdem mehr und mehr die Verwandtschaft mit niedem
Stufen erkannt und gewisse Grundformen als allem Lebenden
gemeinsam erwiesen waren, nicht länger aufrecht erhalten; die
immer mehr beachteten Thatsachen der Vererbung stellten auch
das Individuum in einen weitreichenden Zusammenhang und
machten es dadurch abhängig*); wobei denn die „Entwicklungs-
lehre" geneigt war, solche Auffassungen in das Universum hin-
einzutragen und alles Höhere nicht nur als in causalem Zusammen-
hang mit dem Niedem entstanden, sondern sogar als genetisch
daraus entsprungen vorzustellen.
Das alles birgt noch unendlich viel problematisches, Hypo-
thesen und Beobachtungen gehen oft in fast unzertrennlicher Ver-
mengung durcheinander, und der Wunsch eilt den Ergebnissen
ni6ht nur weit voraus, sondern bringt sie von vom herein in sehr
fragliche Zusammenhänge, aber trotzdem dtlrfen wir in dem
Ganzen einen grossen und berechtigten Zug wissenschaftlicher
Forschung nicht verkennen. Zu der begrifflichen Verwirrung
haben nicht am wenigsten jene Idealisten beigetragen, die, wesent-
lic*he und ewige Wahrheiten an enge und zufällige geschichtliche
Gestaltungen knüpfend, diese Wahrheiten durch die geschilderten
wissenschaftlichen Bestrebungen in den Grundlagen bedroht
wähnten und nun jener Bichtung einzelnes zu bestreiten und
gewissermassen abzudingen suchten. Oder aber sie hielten sich
an die in solcher Forschung unvermeidlichen Lücken und riefen,
*) Die Verwerthung der VererbungBerscheinungen für eine materia-
listisch-monistische Theorie reicht bis anf die Stoa znrück, s. Eleanthes
(Zeller, III, 1 [2. Anil.], S. 180): ov fjiovoy 6f4oioi xols yorsvai ytvofjts&a
Ttata 70 (füifjia, aXka xai xctta rijy ^v^^y» toU' nä&eai^, xoig ijS-sai, xais
&nx^iatffiv' <f<6fittT0ff (f£ ro ofAoiov ntn avofjioiov , ov^l (^f d<f(Ofjiarov' atofAU
108 MonismuB — Daalismus.
also sich an das Dunkle klammernd, das ganze Interesse der
theoretischen Vernunft gegen sich wach. Jeder Fortschritt in der
Bewegung, welche die Wissenschaft nun einmal verfolgt, war ein
Sehlag für solche Tendenzen und erhielt dadurch scheinbar eine
principielle Bedeutung, die in dem thatsächlichen Gehalt keines-
wegs begründet war.*)
Dem gegenüber sind sowohl die einzelnen Untersuchungen
wie die Gesammtrichtung der monistischen Bewegung rückhaltlos
anzuerkennen, das alte Verlangen, Körper und Geist in einen
innigeren Zusammenhang zu bringen, als es der landläufigen An-
sicht dünkt, ist durch mannigfache Gründe so gesteigert, dass es
nothwendig auch in der Philosophie Ausdruck gewinnen und zu
neuen Gestaltungen führen muss. Aber in dem Augenblick, wo
die Frage als eine philosophische gestellt wird, muss i^ch die
ganze Behandlung der Sache ändern. Denn wo es sich um eine
Feststellung erfahrungsmässiger Vorgänge handelt, mag es geboten
sein, das Erscheinende möglichst einfach .zusammenzufassen; wo
aber eine Begreifung des Grundgeschehens angestrebt wird, kann
die Erörterung nur im systematischen Zusammenhange der Philo-
sophie vorwärts schreiten. Es ist ein anderes, für den gesetz-
mässigen Zusammenhang körperlichen und geistigen Wirkens ein-
zutreten, ein anderes, die Grundkräfte letzthin von einander abzu-
leiten oder in ein wesentliches begriffliches Verhältniss zu bringen;
jenes ist Problem der Naturwissenschaft und empirischen Psycho-
logie, dieses dagegen der systematischeQ Philosophie. Auf jenem
G«biet sind die Verdienste des Monismus unverkennbar, auf diesem
jedenfalls fraglich. Die letzte Verbindung beider Betrachtungen
ist unleugbares Postulat, die Yermengung ein offenbarer Fehler.
Es ist einmal nicht selbstverständlich, die Verhältnisse des Er-
scheinenden ohne weiteres auf das Wesen zu übertragen, da alles
*) Wie aus manchen in Rede stehenden Erscheinungen in einem andern
Zusammenhange ganz anderes erschlossen werden kann, als heute oft ge-
schieht, zeigt z. B. Origenes c. Geis. IV, 84: oaa nXsiova Xiysi xtav aXoytay
jCifoty lyxoifÄta, joCovtf^ nXsloy {»ay fi^ ^i^jn) avlec t6 tov nayra xoöfA^-
oayrog Xoyov iqyov.
Monismus — Dnalismns. 109
Erscheinende an Bedingungen und Thätigkeiten unserer Natur
geknüpft ist, und das Gegebene daher rielleicht umgebildet werden
muss, um abschliessend anerkannt zu werden. Dieses trifft nun
in hohem Grade den Begriff der Materie, da er, wenn auch inner-
halb gewisser Schranken einfach aussehend, genauer betrachtet
und geprüft sich offenbar als Erzeugniss geistiger Thätigkeit aus
Erscheinungen des geistigen Lebens herausstellt. Und dabei treten
in ihm Probleme, ja Widersprüche hervor, die zu einer Umwand-
lung und damit über alles unmittelbar Vorliegende hinaus in das
Gebiöt der Metaphysik treiben.
Wer aber diese letzte Frage zunächst bei Seite lassen möchte,
der müsste vom neuesten Monismus als philosophischer Lehre
wenigstens das verlangen, dass er den nächstliegenden Fortschritt
machte, sonst getrennte Gebiete in eine engere wesentliche Ver-
bindung zu bringen und dadurch eine einheitliche Auffassung der
Welt anzunähern. Es müssten also gemeinsame Begriffe gefunden
werden, denen sich das Besondere unterordnete, oder es müsste
doch eine innere Verknüpfung der verschiedenen Merkmale ange-
bahnt werden, wenn über eine Zusammenfassung des Vorgehenden
hinaus etwas für die philosophische Weltbegreifung gewonnen
sein sollte. Nothwendige Vorbedingung dazu wäre eine neue
eindringende Analyse der einzelnen Gebiete und eine Zurück-
ftihrung des Mannigfachen auf durchgehende Wirkformen ; ja wie
die Art der Synthese wesentlich durch die vorangehende Analyse
bedingt ist, so bemisst sich die Bedeutung des Monismus zum
guten Theile nach dem Dualismus, den er zu überwinden unter-
nimmt.
Aber eine scharfe Erfassung der Eigenthümlichkeit der
Gebiete wird gewöhnlich bei den heutigen Monisten vergeblich
gesucht ; für viele von ihnen scheinen sich die Begriffe von Geist
und Materie in demselben Zustande des Ungeschiedenseins zu
befinden wie bei den jonischen Hylozoisten, andere stehen Jordano
Bruno nahe; wo am meisten Deutlichkeit der Begriffe herrscht,
könnte man sich etwa auf Spinoza berufen. In der That bildet
die spinozistische Theorie, losgelöst von dem speculativen Grund-
110 Monismus — Dnalismns.
gedanken Spinoza's, den philosophischen Gehalt des heutigen
Monismus, so dass derselbe von allen den Bedenken und Ein-
wendungen, welchen jene ausgesetzt ist, mitbetroffen wird.*) Da
wir diese Frage schon mehrfach berührten, so möge hier nur noch
auf das eine hingewiesen sein, dass die innere Welt der äusseren
gegenüber so eigenartige, ja widersprechende Grundformen und
Wirkgesetze hat, dass sie zu einer blossen Copie oder zu einer
Parallele nie und nimmer gemacht werden kann, sobald über-
haupt der specifische Inhalt gebührende Beachtung findet. Dort
durchgehend ein Nebeneinander und Zusammengesetztes, hier ein
Miteinander und innerlich Verbundenes, dort in einem gegebenen
System alle Umgestaltung von aussen kommend, hier ein ziel-
mässiges Streben, das im Lauf der Entwicklung Selbstständigkeit
und Innerlichkeit gewinnt**), dort alles sich quantitativ abstufend,
hier selbst bei den niedersten Formen Contrastempfindungen un-
verkennbar ; — wie kann man so verscliiedenes einfach mit einander
verknüpfen? Es genügt daniach nicht, den Geist so nebenbei
anzuhängen, sondern der Inhalt der Gebiete ist umzuarbeiten,
wenn der Monismus einen philosophischen Charakter erhalten soll.
Einer solchen Forderung lässt sich nicht dadurch ^tgehen,
dass das Geistige als möglich klein und fast verschwindend gesetzt
wird; denn es bleibt bei aller Verschiedenheit immer etwas
Eigenartiges, das alle Formen gleichmässig durchzieht Ueber
jenes Verfahren ist demnach ähnlich zu urtheilen, wie über das
mancher Materialisten, wenn sie gerade umgekehrt das Sinnliche
möglichst subtil nahmen und nun endlich das Feinsinnliche in
ein Geistiges umsetzten ; der Unterschied mag für die Einbildungs-
kraft vermindert sein, für den Begriff beharrt er unerschüttert.
Der Sprung vom Geist zur Materie ist hier ebenso gross wie von
der Materie zum Geist, der Geist bleibt für diese Stufe der Betrach
tung nach Schellings Ausdruck gleichmässig eine „ewige Insel".
*) Es entgeht uns nicht, dass von einzelnen Forschem eine tiefere
Fassung des Monismus erstrebt wird, in der Gesammtbewegung aber, die
wir betrachten, tritt das vor den dargelegten Gestaltungen zurück.
**) Pythagoreer nannten die Seele aQi&fÄos^ kavrov al^tav.
Monismus — Dnalismas. Hl
Aber nebendem gedenken wir nicht, auf die Anerkennung
des besondern Inhaltes der höhern Formen zu verzichten. Dass
ttberhaupt das geistige Leben sich zu einer solchen Innerlichkeit
und Kraftfttlle aufzuschwingen vermag, wie es thatsächlich inner-
halb der Menschheit der Fall ist, das allein genügt, um die
naturalistisch - empiristische Form des Monismus zu widerlegen.
Wie immer sieh dies gebildet haben mag, an wie viele Be-
dingungen es geknüpft sei, und wie sehr es für unsere Betrach-
tung im Universum verschwinde, wenn eine solche innere Welt
auch nur an einem Punkte und in einem Momente des üniversal-
lebens hervorgetreten wäre, so würde schon das gegen eine
Theorie entscheiden, die das Geistige zu einem blossen Anhange
des natürlichen Geschehens macht. — Die angestrebte Ausgleichung
wird dazu auf einem solchen Wege keinenfalls erreicht. Denn
wenn die Gesetze des mechanischen Geschehens sich, alles andere
ausschliessend, zu Weltgesetzen erweitern, so ist im Wesentlichen
alles das zugegeben, was nur immer der Materialismus verlangen
kann. Denn nicht darauf kommt es an , irgend ein Geistiges in
der Welt gelten zu lassen, sondern es in seinen Lebens- und
Wirkformen zur Anerkennung zu bringen; werden dieselben
preisgegeben, so ist das eine Glied des Gegensatzes dem andern
einfach aufgeopfert.
Wenn femer aber Bewusstsein und Empfindung (im weitesten
Sinne genommen) der Materie als einem Ausgedehnten und Be-
wegten hinzugefügt wird, so darf man wohl fragen, ob dies denn
so einfach möglich sei? Es können doch nicht beliebig Be-
stimmungen zusammengeklebt werden; vielleicht widersprechen
sie sich in der vorliegenden Form oder sträuben sich wenigstens
gegen eine unmittelbare Verbindung, so dass eine Umgestaltung
durch philosophische Arbeit nöthig würde. Doch es wird uns
eingewandt, dass es gar nicht darauf ankomme, ob die Begriffe
uns widersprechend oder zusammenstimmend scheinen, da die
Erfahrung die Thatsache der Vereinigung aufzeige, und man
wirft etwa mit Lichtenberg (s. I, 54) die Frage auf: „Dürfen
wir schliessen, was unserer Meinung nach nicht durch Dinge
112 Monismus — Dualismus.
geschehen kann, die wir kennen, muss durch andere Dinge
geschehen als wir kennen?" Wir antworten: das keineswegs,
aber sie müssen durch die Dinge in einem andern Sinn und mit
anderer Bestimmung geschehen als sie sich ^ms zunächst darstellen.
Die Begriffe von Bewusstsein und Ausdehnung sind ja nichts
festes dem Denken gegenüber, sondern seine eignen Werke,
und es ist nur eine Selbstkritik, wenn im Fortgange des Er-
kennens die erste Gestaltung umgebildet wird, eine Selbstkritik,
die allein zu dem Zwecke angestellt wird, um zu den wirklichen
Thatsachen zu gelangen. Das ganze Problem, was seit Cartesius
die grössten Denker yollauf beschäftigte, das Verhältniss und
der scheinbare Widerspruch von ausgedehntem und bewusstem
Wirken, ist es Iieute plötzlich verschwunden, oder stossen wir
vielleicht nur deswegen nicht auf die Klippen, weil unser Schiflf
weniger tief geht?
Wir meinen, dass wenn die Bestimmungen so ruhig neben-
einander beharren, majx eben den Dualismus, der entfernt werden
sollte, wieder bekommt, nur ist er aus der Erscheinung in den
Begriff verlegt, also dahin, wo er für das philosophische Denken
am wenigsten erträglich ist."^) Jedenfalls wäre die ganze
Kategorienlehre der neuem Philosophie, die auch die Grundlage
der exaeten Naturwissenschaft ist, aufzugeben, wenn ein solcher
Begriff eines Seins mit zwei grundverschiedenen Kräften geduldet
werden sollte. Kurz, um das Merkmal des Bewusstseins aufzu-
nehmen, müsste der Begriff der Materie wesentlich umgestaltet
werden; damit aber wtfrden wir uns wiederum auf die Meta-
physik hingewiesen sehen.
Nebendem erregt auch der Umfang dieser monistischen
Theorie einiges Bedenken. Mit welchem Hecht soll aller Materie
Empfindung beigelegt werden? Aus naturwissenschaftlichen Gründen
wohl kaum, vom philosophischen Standpunkt aber würde die
Sache in ganz anderer Weise zu behandeln sein. Und was bleibt
*) Man könnte daher an das Wort denken: ro enayoQ&tof^d aot fAtl^oy
afjLaqtfifjia c/ee ^ o inayoQ^lg, (Plat. Protag. 340 D).
MoniBmuB — Dualisrnns. 113
bei einer solchen Ausdehnung über, das Gebiet des Lebendigen
hinaus vom Geistigen über? Wenn irgend etwas, so eine gewisse
Analogie mit der Empfindung, so dass wir wieder bei dem
paracelsischen „gleichförmig der Seel" angelangt w&ren; aber
mit welchem Becht darf man einen solchen Begriff als wirklich
setzen ? Und was leistet ein solcher Begriff für dieJ wissenschaft-
liche Arbeit? Wer wollte dem Forscher die Liberalität yerdenken,
allem Materiellen eine Seele zu schenken, so lange das nur
keinen Einfluss auf die Erklärung gewinnt; aber was nützt als-
dann eine solche Seele? Gegen einen solchen Einfluss aber
müssten Phy«iker und Metaphysiker gleichmäs^ig sich verwahren ;
jener, weil er die Grundprincipien seiner exacten Wissenschaft
gefährdet sähe, dieser, weil er die Frage von einem andern
Standpunkt aus, mit andern Mitteln, und nach andern Zielen hin
behandeln müsste.
Kurz wir gestehen, zu viele Fragen bei dieser Form des
Monismus unbeachtet und unbeantwortet zu finden, um von ihr
grosses für den Fortschritt der Welterkenntniss erwarten zu können.
Die letzte Principienfrage war gar nicht berührt, die specifische
Bestimmtheit geistigen Lebens gelangte nicht zur Geltung, inner-
halb der eignen Lehren aber zeigte sich ein Schwanken zwischen
Physik und Metaphysik, das keinen Theil fördert Damit werden
die exacten Untersuchungen, die dem Monismus als Ausgangs-
punkt dienen, ihrem Bestände wie ihrer Bedeutung nach in keiner
Weise angegriffen. Stärke und Verdienst der gesammten Sichtung
liegt darin, das erfahrungsmässig Geschehende festzustellen und
auf die daraus erwachsenden Probleme hinzuweisen ; hier hat sie
unleugbar eine wichtige und schwierige Aufgabe zu erfüllen. Aber
die Art, wie die Ergebnisse philosophisch verwerthet und die
Erscheinungen zu letzten Wahrheiten umgewandelt werden, muss,
wie wir sahen, den Widerspruch herausfordern. Denn statt einer
eindringenden und umfassenden Verarbeitung sehen wir ein, philo-
sophisch betrachtet, überrasches und an der Oberfläche haftendes
Verfahren: ein Bau wird errichtet ohne genügende Prüfung der
jGrundlagen, eine Synthese versucht, ehe die Analyse vollendet,
Euckeu, Geschichte und Kritik. 8
114 Monismiu ~ Dualismiift.
die einzelnen Erscheinungen werden raseh verbunden, ehe Be-
rechtigung und Bedingung solcher Verbindung erwiesen ist. Durch
einen Machtspruch soll das alte Problem gelöst werden, bei dem
so viele und verschiedenartige Erwägungen zusammentreffen.
Solcher Kithnheit aber folgen mannigfache Gefahren auf dem
Fusse. Das Ergebniss wagender Hypothese tritt auf mit dem An-
sprüche exacter Forschung, specifische Theorien gelten als that-
sächlich entschieden, wo doch sehr abweichende Deutungen mög-
lich sind; vor allem aber, es wird vermengt, was zunächst
auseinander 'ZU halten für Philosophie und Naturwissenschaft gleich
wichtig ist: erfahrungsmässiger Bestand und philosophische Deutung.
Der Wunsch erscheint als wohlberechtigt, dass* der Schritt von der
Erfahrung zur Metaphysik entweder gar nicht oder ganz gemacht
werde, denn halbdurchgeführte Richtungen haben von jeher, schon
wegen der dadurch entstehenden Verwirrung der Begriffe, mehr
geschadet als eigentliche Irrthttmer: veritas potius emergit ex
errore quam ex confusione.
Gesetz.
Wissen, dass man weiss, was man
weiss, und wissen, dass man nicht
weiss, was man nicht weiss, siehe,
das ist die wahre Wissenschaft.
Gonfncins.
Den Ausdruck „Gesetz" sehen wir von dem Gebiet des
Handelns auf das Naturgeschehen übergehen, hier eine ausge-
prägte neue Bedeutung gewinnen und in dieser die Verbreitung
nach allen Richtungen anstreben. Jener Uebergang. scheint erst
bei den Bömem stattgefunden zu haben, denn was die Griechen
an ähnlichen Ausdrücken besitzen (wie z. B. die Bezeichnung
Gottes als xoivog vofiog bei den Stoikern), triflft nur annähernd
zu. und drangt nicht in den allgemeinen Sprachgebrauch und das*
allgemeine Bewusstsein ein. Der oft verwandte Ausdruck Natur-
gesetz (6 (pvascog vofxog) aber bildet einfach den Gegensatz zum
positiven Rechte (o ygamog vofxog). Der allgemeine BegriflF des
Naturgesetzes ist freilich schon durch die vorsokratische Philo-
sophie klar zum Bewusstsein gekommen und wird von Plato wie
Aristoteles als selbstverständlich vorausgesetzt; was später mit
Gesetz bezeichnet wird, ist hier in abstrakterer Fassung einfach
Noth wendigkeit (ai^ayxiy).*) Erst bei Lucrez finde ich den Aus-
*) Wenn z. B. Xenophon, Memor. I, 1, 11 unter den Problemen der
frühem Philosophen aufführt : Ti^ftv avayttnig %xa<fxa yiyvsxni raiv ovqavioyv,
so entspricht hier avayvtn unserem (Natur*) Gesetz. Aehnlich hat auch
8*
116 Gesetz.
druck foedera naturae, foedus naturae*) und in Verbindung damit
auch leges, welches letztere sich rasch einbürgerte und dauernd
fast unangefochten blieb. Der Begriff ist damit dem menschlichen
Verständniss unvergleichlich näher gerückt als durch das grie-
chische ävdyxfi, indem nun das Naturg^schehen als analog dem
Handeln des unter den Normen der Gremeinschaft stehenden
Menschen erscheint.
Wenn zu dem Begriffe die Wahrnehmung der Gleichmässig-
keit des Geschehens und der Beharrlichkeit sich folgender Er-
scheinungen äusserlich veranlassen mochte, so besagt doch „Noth-
wendigkeit" oder „Gesetz" unvergleichlich viel mehr. Denn dabei
wird jedes Geschehen als abhängig und bestimmt genommen und
alles Einzelne in einen umfassenden Zusammenhang gebracht Das
Nebeneinanderliegende erscheint als innerlich verbunden und da&
Augenblickliche als Vertreter des Wesens, so dass ein jedes ge-
Wissermassen als Function des Ganzen dasteht Da dies aber in
keiner Weise durch Erfahrung gegeben ist, sondern nur dem
Denken entstammen kann, so liegt dem Gesetzesbegriff ein ur-
sprüngliches Urtheil und ein Postulat zu Grunde, das Zeiten und
Denkern gemeinsam ist Aber die hier vorliegende Thätigkeit
der Vernunft lässt sehr verschiedene Gestaltungen zu, ja bei jedem
selbstständigen Denker hat Begriff und Verwendung des Gesetzes
etwas eigenartiges, so dass sich die Aussicht in eine reiche Ge-
schichte eröflftiet
So wenig bei den Griechen, wie wir sahen, der Terminus^
Gesetz hervortritt, so war für ihre Weltauffassung der allgemeine
Inhalt des Begriffes von hervorragender Bedeutung.**) Denn indem
Plato den Plural, s. leges 967 A, wo der Gregensatz dudyxaig — ^layoiais^
ßovXf'ianüg gebildet wird. Aristoteles scheint den Plural in dieser Bedeutung
nicht zu haben, während der Singular sehr oft vorkommt.
*) Foedera naturae I, 586, II, 302, V, 310, foedus naturae V, 924,
VI, 9ub, foedus und leges nebeneinander V, 57 flf. Auch Vergil hat leges
und foedera so zusammen.
**) Am meisten tritt der Begriff des Gesetzes in dem stoischen Systeme,
hervor, hier zuerst finden sich seine Consequenzen vollständig entwickelt.
Gesetz. 117
sie das Universum als ein Ganzes und das Geschehen als einen
Oesammtprocess ansahen, femer aber dies Geschehen als Dar-
stellung eines ewigen und wesentlich unveränderlichen Seins be-
stimmten, musste eine Nothwendigkeit mit festliegenden Normen
alles einzelne umfassen und beherrschen. Wie dem Volksglauben
das Fatum über den Göttern, so steht dem wissenschaftlichen
Bewusstsein der Process vor der That, die Natur vor dem freien
Handeln. Das Gesetz ist ihnen darnach etwas der Welt im-
manentes, dem Wesen der Dinge unmittelbar anhangendes. Aber
bei dem allen kann von einer gesetzlichen Begreifung der Natur
im Sinne der neuem Wissenschaft nicht die Rede sein ; abgesehen
von allen aus der Lage der einzelnen Wissenschaften entspringen-
den Hemmnissen traten dem zwei allgemeine Gründe entgegen:
die synthetische Auffassung der Natur, die zu kleinsten Kräften
und ursprünglichen Wirkformen nicht durchdrang*), sowie die
organische Anschauung vom Kosmos, welche jedem Punkte eine
specifische Bedeutung beizulegen geneigt war und damit eine
volle Gleichmässigkeit und üebereinstimmung des einzelnen Ge-
schehens ausschloss. Es ist nicht zufällig, dass in dem Systeme
des Aristoteles, wo jene beiden Tendenzen ihren classischen
Ausdruck finden, ein bestimmter Begriff des Naturgesetzes so
wenig hervortritt. Von Gesetzen, welche alles Vorgehen gleich-
massig beherrschen, ist hier keine Rede, an mathematische For-
mulimng kann gar nicht gedacht werden, und der Einfluss von
platonischem Dualismus zeigt sich darin, dass der Forscher
nicht selten sich damit begnügt, wenn die Normen nur annähernd
zutreffen.
Im Christenthum erhielt der Begriff des Gesetzes eine ganz
*) Wie unerreichbar den Griechen die Aufgabe erschien, welche die
neuere Physik auf ihrem Grebiete thatsächlich gelöst hat, s. z. B. Plato
Timaens 68 D : e^ &i jig rovrar 1^^^ cttonov^EVog ßaaayov Xafißdyoi, z6 r^g
€iyd-^(anipr}S xai d-ticcg ffvaitag ^yvorjXMg av tiri Sidfpoqov, oti d-sog [aIv t« noX-
Xä iig ?r ^vyytEQayvvvai xai ndXiv f| kvog dg noXXd &iaXv€iy IxavMg Iniffrd-
fXEVog ccfjtcc xai dvvccrog, dvd-Q(6n(ov dl ov&eig ov6ixiqa rovtiaP txavog ovrs iffti
vvv oit eiaav&ig nax iffrai.
1 1 g Gesetz.
andere Stellung, Indem hier der Inhalt des Weltgeschehens ein
ethisch-religiöser wird, tritt die freie That für den Process ein
und mit der causalen Nothwendigkeit des Geschehens wird die
Gesetzlichkeit aufgegeben. Die über das Geschick der Welt ent-
scheidenden Thaten : Schöpfung, Sündenfall, Erlösung, Weltgericht,
als gesetzlich bestimmt zu erweisen, hat in richtiger Consequenz
innerhalb des Christenthums stets für anstössig gegolten, und
ist, wo immer aus dem unauslöschlichen Durst nach eausaler Be*
greifung gewagt, als ein vermessenes Unternehmen zurückge-
wiesen. Luther kann nicht genug gegen das „enthusiastische",
das „teuflische" „Quare" eifern, aber auch wenn er es uns nicht
ausdrücklich verriethe, würde die leidenschaftliche Heftigkeit
dieses Eifers uns hinreichend kundthun, wie schwer es ihm wurde
die Ansprüche vernünftigen Erkennens abzuweisen. Freilich ent-
stand der Conflict nicht eigentlich daraus, dass die freie That
überhaupt vor dem Gesetz stand, denn wenn jene auf die Welt
als Totalität bezogen und als sie innerlich durchdringend gefasst
wurde, so konnte ein eausaler und innerer Zusammenhang ganz
wohl aufrecht erhalten werden; aber das freie Handeln ward
einmal als ein in die Welt hineinkommendes, unter ihre Formen
fallendes und in ihre Bestimmungen eingreifendes gesetzt, und
damit war allerdings sowohl der Zusammenhang durchbrochen,
als die Wesentlichkeit und innere Zugehörigkeit des Gesetzes
aufgegeben. Nach strenger Auffassung erscheinen die Naturgesetze
als eine blosse Gewohnheit des göttlichen Handelns, und nach-
dem also ihre Ursprünglichkeit und Innerlichkeit zerstört, können
Ausnahmen im Dienste höherer Zwecke nicht weiter befremden.
Aber es zeigt freilich die Zulassung solcher Ausnahmen, wie sie
in dem gewöhnlichen WunderbegriflF vorliegt, den positiven und
zufälligen Charakter der Naturgesetze in einer so schroffen Form,
dass an diesem Punkte nothwendig die gesammte neue Wissen-
schaft den Kampf aufnehmen musste.
Der Neuzeit stand zunächst fest, dass das Denken nur mit
einer einzigen wesentlichen Welt zu thun habe, weswegen jeder
Eingriff von aussen abzuweisen sei. Dazu musste die Ueber-
Gesetz. 119
zeuguBg, dass wir überall nur ein Wirken ergreifen und das
Wesen in das Wirken aufgeht, die Bedeutung der Farmen und
Zusammenhänge des Geschehens in hohem Grade steigern. Am
wichtigsten aber war die Lehre, dass die vorliegende Welt ein
Ergebniss einfacher Kräfte bilde und als solches zu begreifen sei,
denn daraus erwuchs die Forderung, die ursprünglichen und
durchgehenden Formen jener Kräfte zu ermitteln, sorgfältigst
festzustellen und dann zum Yerständniss der Mannigfaltigkeit zu
verwenden. Da diese ursprünglichen Wirkformen aber nichts
anders als die Gesetze sind, so ist ihre Erforschung eine hervor-
ragende, ja die entscheidende Aufgabe des Erkennens. Das Gksetz
ist der Punkt, worauf die Analyse hinweist, und wovon die Ent-
wicklung ausgeht, und damit recht eigentlich Mittelpunkt der
Wissenschaft Erst durch das Gesetz wird die erscheinende Welt
auf die wesentliche zurückgeführt und das Mannigfache in Einheit
und Zusammenhang verbunden. Der Forderung der neuem Wissen-
schaft, die Vielheit als System zu begreifen, wird gentigt, indem
jedes Einzelne sich als Ausdruck von Gesetzen herausstellt und
die Gesetze selbst wieder einer umfassenden Einheit zustreben.
Man darf daher sagen, dass was für Plato die Ideen, das der
neuem Weltauffassung die Gesetze sind.
Mit solcher principiellen Umbildung wird auch die Stellung
des Gesetzes zu dem einzelnen Geschehen eine andre. Die Gesetze
sind nicht Begeln, nach denen sich dasselbe nur im grossen und
ganzen zu richten habe, sie wirken nicht an oder neben einem
Stoffe, dadurch bedingt oder beschränkt, sondern sie drücken
unmittelbar und schlechthin die Form des Wirkens auch in jedem
einzelnen aus, so dass nicht der mindeste unerklärte Best bleiben
darf."^) Wir sehen damit den Gegensatz des Allgemeinen und
Einzelnen sich in den des Ursprünglichen und Abgeleiteten um-
wandeln. Gegen das Allgemeine als ein durch Abstraction vom
Einzelnen aus gewonnenes und ihm gegenüber sich geltend
*) Sofort bei Nikolaus von Kues tritt das in dem immer wiederholten
Verlangen der praecisio hervor.
120 Gesetz.
machendes, richtet sich der Kampf der Denker schon vor dem
Höhepunkt der neuem Philosophie übereinstimmend: etwas in
den Dingen wirkendes und sie ganz in sich aufnehmendes soll
vielmehr erwiesen werden. Indem also für die Methodenlehre
an die Stelle des Gegensatzes der Induction und Deduction der-
jenige der Analyse und Synthese tritt, macht sich für den Gtesetzes-
begriff eine wichtige Forderung zuerst mit principieller Schärfe
geltend: das Verlangen einer bestimmten Formel. Denn nur
dadurch wird es möglich, das Mannigfache den ursprünglichen
Wirkformen zu unterwerfen und das Gegebene vollständig zu
begreifen.
Es war nach dem allen natürlich, dass die Denker den
Begriff aufs höchste schätzten, obschon die reflectirende Be-
trachtung in geradezu merkwürdiger Weise vernachlässigt wurde.
Nachdem Cartesius durch seine gesammte Forschung die neue
Auffassung zum Durchbruch gebracht und namentlich durch den
Hinweis auf einfache Grundkräfte mit festen Wirkformen die neue
Art des Gesetzesbegriffes gesichert hatte, trat Spinoza für die
principielle Bedeutung des Neuen gegenüber den alten Gestaltungen
mit der grössten Energie ein, während für Leibnitz das Verdienst
in Anspruch genommen werden darf, den Begriff am weitesten
ausgedehnt, ihn auf geistigem Gebiet unter Anerkennung des
hier Specifischen vertreten und ihn endlich auch den indivi-
duellen Kräften vindicirt zu haben. Weil ihm bei dem Gesetze
das Merkmal der Wesentlichkeit und Ursprünglichkeit voranstand,
so lag das Entscheidende nicht in der Bestimmung des ümfanges,
und es konnte auch das Einzelne, insofern es nicht blos als
erscheinendes und zusammengesetztes, sondern als grundhaftes und
einfaches galt, seine selbsteignen Wirkformen besitzen, üeber-
haupt bringt es die ganze Stellung des Gesetzes in der neuem
Wissenschaft mit sich, dass seine Ausdehnung und Einschränkung
von dem ürtheil über das letzthin Wesentliche in Geschehen und
Sein abhängt. — Die Durchführung des Gesetzesbegriffes be-
zeichnet nun aber den Gang der neuern Forschung, wobei das-
jenige, dessen principielle Wahrheit und Bedeutung schon dem
Gresete J21
17. Jahrhundert vollständig klar war, sich erst selir allmählig in
die einzelnen Gebiete hineingearbeitet hat*) und fortwährend neue
Anforderungen an unö heranbringt. Die Verwei-thung des schon
Gefundenen, die Ermittlung neuer Einsichten, die Verbindung des
Zerstreuten und die letzte Richtung auf ein Ziel, alles das gibt
der Forschung immer neue und stets fortschreitende Aufgaben.
Aber es mtisste eigenthümlich zugehen, wenn ein so wichtiger
und fruchtbarer Begriff nicht auch wieder neue Probleme hervor-
riefe, und wenn er nicht manchen Missverständnissen ausgesetzt
wäre. Zu letzteren verlockte von Anfang an der Ausdruck.
Denn es ist unverkennbar, dÄss für den Begriff, den die neuere
Wissenschaft bezeiclinen will, der Terminus Gesetz nicht recht
zutrifft. Den Ausschluss der Willkür in dem Geschehen mag er
richtig bezeichnen, aber die Ursprtinglichkeit und Wesentlichkeit
gelangt gar nicht zur Geltung, und die Nothwendigkeit erhält
eine schiefe Darstellung. Denn das Gesetz erscheint als eine vor
und über dem Einzelnen fertige Norm, der sich alles besondere
Geschehen fügen müsse, während es doch nur etwas in dem
Einzelnen ist und dessen eigne Natur vertritt. Von einer äusser-
lioh herankommenden Nothwendigkeit, einem Zwange, kann daher
gar nicht die Rede sein, so dass die gewöhnliche schroffe Ent-
gegenstellung von Gesetz und Freiheit (im Sinne von innerer
Selbstständigkeit) sich als aus begrifflicher Verwirrung ent-
sprungen erweist. Im grossen Ganzen aber ist das Gesetz etwas
der Welt immanentes, in und mit ihr, nicht über und vor ihr
sich erzeigendes ; weder steht es ^als allgemeines dem Einzelnen,
noch als vorzeitiges dem in der Zeit Gegebenen voran, sondern
zeitlos wirkt es in allem und durch alles hindurch. Demnach ist
das Gesetz nur gültig als Form des Geschehens, nicht des
Sollens. Es wirkt entweder einfach aus dem Wesen heraus oder
gar nicht, während jede dazwischen liegende Ansicht den Fehler
unserer Vorstellung bekundet, einzelnes und allgemeines gegen
*) Man denke nur an das Gebiet des organischen Lebens , die Grenz-
gebiete von Physik und Psychik, die Sprachwissenschaft u. s. w.
122 Gesetz.
einander zu isoliren. Und dieser Fehler wird nun durch den
Terminus Gesetz, der immer die Analogie der Verhältnisse auf
praktischem Gebiete nahe legt, gesteigert und gefestigt.
Schon in der Uebergangszeit bemerken wir solche Missver-
ständnissow Das Gesetz erscheint als eine unabhängig von den
Dingen über der Welt wirkende Macht und als etwas absolut
seiendes, ja es ist nahe daran, personificirt und Gegenstand einer
andächtigen Verehrung zu werden. Jordano Bruno möchte auf dem
Naturgesetze eine Art von ßeligion gründen*), eine ähnliche
Vorstellung beherrscht das Denken Spinoza's, und auch in
der Gegenwart werden die Naturgesetze oft wie eine Gott-
heit gläubig hochgehalten. Namentlich wird nicht selten aus
dem blossen Geschehen eine Norm für das Handeln abgeleitet,
was doch nur durch Einschiebung eines Willens in jenes
möglich wäre.
Gegenüber dem allen muss daran erinnert werden, dass
sowohl der Gesammtinhalt der Gesetze als die Form der Gesetz-
lichkeit selber äusserlich betrachtet nur als ein thatsächliches,
nicht als ein nothwendiges hingestellt werden darf. Gewiss kann
man dabei nicht stehen bleiben, aber eine Vertiefung kann nur
in dem Masse gelingen , als die Stellung der Vernunft in der
Welt anerkannt wird, während jetzt eben diejenigen am meisten
Wesens von dem Begriff des Gesetzes zu machen pflegen, die
seine Bedeutung am wenigsten rechtfertigen können.
Auch insofern ist alle Erkenntniss mittelst Gesetze beschränkt^
als die Kraft, deren WirkforiQen sie bilden, stets vorausgesetzt
werden muss, so dass jene ganze Erklärung letzthin einen
hypothetischen Charakter behält Wie weit es fördern könne^
die Grundbedingung der Kraft in die Erörterung hineinzuziehen,
mag nach den verschiedenen Gebieten und Aufgaben der Forschung
verschiedene Beantwortung finden, vergessen werden darf diese
*) S. z. B. de universo et immenso 653. Das Höchste soll gesucht
werden: in inviolabili intemerabilique naturae lege, in bene ad eandem
legem instituti animi religione etc.
Gesetz. 123
Schranke nie. Mit Keolit hat Fichte (V, 108) auf den Unter-
schied einer Erklärung nach Naturgesetzen und aus Naturgesetzen
gedrungen, aber trotz aller Mahnung hat die Verwirrung immer
weiter gegriflFen. Auf den verschiedensten Gebieten, wie z. *B,
dem der Ethik, des politisch -gesellschaftlichen Lebens, der
ästhetischen Auffassung u. s. w. wird die durchgehende und
wesentliche Form manchmal der letzten Sacherklärung gleich-
gehalten; was stets in bestimmten Formen sich vollzieht, soll in
dieselben aufgehen. Das allgemeine Leben steigert, wie gewöhn-
lich, die Einseitigkeit der Wissenschaft zur vollen Irrung, so dass
dort der Gtewinn einer Formel die letzten Probleme zu lösen
scheint und namentlich die Frage wegen der Kraft zurückdrängt.
Mag aber in der Natur, wo dieselbe als eine gegebene und be-
harrende gelten darf, die Erkenntniss des Gesetzes gentigen, um uns
die Macht über die Dinge zu geben; auf dem Gebiete geistigen
Lebens liegt eben in der Aufbietung der Kraft das schwerste
Problem.
Wenn also der Begriff des Gesetzes manche Frage her-
vorruft, so vergessen wir andrerseits bisweilen, dass er selbst
eine schwere Aufgabe stellt, welche die Forschung nur in all-
mähliger Annäherung lösen kann. Denn ein anderes ist die
Ueberzeugung von der Gesetzmässigkeit alles Geschehens, d. h.
der ßückführbarkeit aller Erscheinungen anf ursprüngliche Wirk-
formen von Grundkräften ) ein anderes die Erkenntniss der Be-
stimmtheit dieser Wirkformen. Für dieses ist sowohl das Durch-
dringen zu einem Primären wie die Aufstellung einer leitenden
Fonnel unerlässlich.' Als höchstes Ziel winkt hier natürlich die
exacte Begreifung aller Mannigfaltigkeit als Ausdruck eines Welt-
gesetzes, aber wenn wir uns dem auch nur sehr allmählig nähern
können, so darf wenigstens von der Forderung, innerhalb der
einzelnen Gebiete zu dem Einfachsten zu gelangen, nicht nach-
gelassen werden, und auf keinen Fall darf sich eine blos
empirische Verbindung oder Aufeinanderfolge vielleicht sehr ver-
wickelter Erscheinungen den Begriff des Gesetzes zueignen.
Indem die Forschung hier mannigfache Stufen zu durchlaufen
124 ' besetz.
hat, ist es ron erheblicher Bedeutung, Ansprüche und Leistungen
stets im Gleichgewicht zu halten.
Alle diese Schwierigkeiten und Probleme steigern sich nun
dadurch, dass auch bei dieser Frage innerhalb der neuem Welt
sich eine Zweiheit geltend macht, da vom Geist wie von der
Natur aus eine gesetzmässige Begreifung des Universums ange-
strebt ist Dort scheint die Welt aus der schöpferischen Thätigkeit
des Geistes hervorzuwachsen, alles mannigfa(3he stellt sich als
Stufe eines geistigen Processes heraus, das Gesetz bestimmt in
erster Linie den Gang dieses Processes und ist damit, um den
nicht ganz zutreffenden Ausdruck zu verwenden, Entwicklungs-
gesetz. Eine solche Auffassung, die in frtlhem Perioden manche
Anknüpfung findet, tritt in den entscheidenden Umrissen schon
bei Nikolaus von Kues hervor, ihren Höhepunkt hat sie aber
in dem Systeme Hegels erreicht, wo sie in der dialektischen
Methode auch eine allumfassende Formel gewonnen hat.
Diese Richtung hat namentlich die Auffassung des intellec-
tuellen Lebens bestimmt und insofern einen allgemeinen Einfluss
gewonnen, als von hier aus die principielle Werthschätzung des
Gesetzesbegriffes überallhin entlehnt wurde. Hier, wo die Vernunft
schaffend und massgebend vor die Welt trat, konnte am ersten
der Begriff des Gesetzes in strenger Fassung rechtfertigt werden.
Aber auf die concreto Arbeit wirkte ohne Frage stärker der von der
Naturwissenschaft ausgebildete und von ihr aus sich verbreitende
Gesetzesbegriff. Nach der hier vorhandenen Grundauffassung sind
zahllose einfache und gleichartige Einzelkräfte in dem Zusammen-
sein der Welt nebeneinander gegeben. Ihre Wirkformen gelten
gleichmässig in Zeit und Raum oder vielmehr zeit- und raumlos,
weswegen nicht blos, wie früher, behauptet wird, dass unter
gleichen Umständen stets ein gleiches geschehe, sondern auch,
dass diese Gleichheit der Umstände durchgehend vorhanden sei.
Die scheinbare Mannigfaltigkeit des Gegebenen fügt sich dem ein,
indem dasselbe als ein Zusammengesetztes begriffen und in seine
Elemente zerlegt wird. Um solcher Gedanken Durchführung zu
ennöglichen, musste die organische Naturauffassung der Alten
i
Gesetz. 125
durch eine mechanische ersetzt werden, in der alles Gesammt-
wesen als Zusammensetzung erschien.
In enger Verbindung damit steht, dass die Formel des Gesetzes
hier als eine specifisch mathematische bestimmt wurde, was
natürlich nur unter der Voraussetzung möglich ist, dass alle
Mannigfaltigkeit des Naturgeschehens als auf rein quantitative
Unterschiede zurückftlhrbar, nicht blos angenommen, sondern
exact erwiesen sei. Für jenes trat schon Roger Baco ein, aber
noch Nikolaus von Runs hielt eine bestimmte Einsicht in die
mathematischen Verhältnisse des Universums für schlechterdings
unzugänglich, und erst Kepler und Galilei haben Naturgesetze
im strengen Sinne aufgestellt, bis dann als Endergebniss der
hiehergehörigen Kämpfe des 17. Jahrhunderts Newton die Auf-
gabe stellen konnte: missis formis substantialibus et quali-
tatibus occultis phaenomena naturae ad leges mathematicas revo-
care. Mit Aufstellung eines solchen Zieles aber musste sich die
ganze Art der Naturforschung umwandeln. Vor allem war das zu-
nächst Vorliegende begrifflich umzugestalten, um als Ausdruck einer
einzigen Kraft angesehen werden zu können, und so hängt die
mathematische Naturbegreifung aufs engste mit einer analytisch-
systematischen Philosophie zusammen*), dann aber wurden auf
jedem einzelnen Punkte der Forschung neue und grössere Auf-
gaben gestellt. Was wir den exacten**) Charakter der neuern
Naturwissenschaft zu nennen pflegen, beruht vor allem auf dieser
mathematischen Bestimmtheit der Erkenntniss. Hier ist das
Einzelne so vollständig in das Gesetz aufgenommen, dass es
lediglich als Fall desselben gelten darf, eben damit aber erhält
es als Mittel der Ergrtindung des Gesetzes für die Forschung
einen ungemein gesteigerten Werth. Der Gegensatz des Einzelnen
und Allgemeinen ist hier, soweit es überhaupt möglich ist, zur Aus-
gleichung gelangt, es steht kein Allgemeines neben dem Einzelnen.
*) Am deutlichsten tritt dies bei Cartesius hervor.
**) Der Ausdruck „exact" ward im Mittelalter und namentlich in der
üebergangszeit oft verwandt. In die neuem Sprachen ist er von Frank-
reich aus gekommen.
126 Gesetz.
und kein Einzelnes ausser dem Allgemeinen; wo immer wir
uns befinden mögen, arbeiten wir im Ganzen und für das Ganze,
80 dass es kein Kleines mehr gibt und ein jeder Punkt sieh
zum Unendlichen erweitem kann. Demnach darf in gewisser
Hinsicht diese Art der Erkenntniss als Höhepunkt wissenschaft-
licher Forschung und systematischer Begreifung überhaupt er-
achtet werden.
So sehen wir den G^setzesbegriflf sich im Lauf der Geschieht«
immer schärfer ausprägen, immer bestimmtere Voraussetzungen
stellen, immer grössere Anforderungen an die Forschung richten;
gleichzeitig aber sich nach yerschiedenen ßichtungen verzweigen
und auf den besondem Gebieten eigenthtimlich bestimmen. Alle
die verschiedenen Gestaltungen wirken nun aber neben einander
fort und erzeugen dadurch mannigfache Verwirrung. Der all-
gemeine Begriff der Gesetzmässigkeit des Geschehens, die speci-
fische Fassung der Neuzeit und die nähern Bestimmungen inner-
halb dieser Fassung verschlingen sich in dem heutigen Gebrauch
zu fast unauflösbarem Gewebe.
Auf naturwissenschaftlichem Gebiet ward schon im 17. Jahr-
hundert der Gesetzesbegriff weit über das ihm sicher erkämpfte
Gebiet ausgedehnt, aber die Forscher hielten deswegen doch die
Forderungen aufrecht, welche der Begriff stellt, und nur das kann
bedenklich erscheinen, dass sie der Erfüllung derselben zu nahe
zu sein glaubten; dann aber ward nach und nach der Begriff
laxer verwandt, zunächst nicht so sehr in der eigentlichen Arbeit
der Forschung, als in der Zusammenstellung und Verwendung
ihrer Ergebnisse, heute aber ist es namentlich bei manchen An-
hängern Darwins (nicht bei Darwin selber) üblich geworden, blos
empirisch festgestellte Zusammenhänge von Erscheinungen Ge-
setze zu nennen (Gesetze der Vererbung, Anpassung u. s. w.).
Hierüber und damit um Worte zu streiten, scheint nun
freilich pedantisch, aber die dabei naheliegende Gefahr ist zu
gross als dass ein solcher Anschein vom Widerspruch abhalten
dürfte. Bei der centralen Bedeutung des Gesetzesbegriffes für
die neuere Forschung hat jede Laxheit in seiner Verwendung
Gesetz. 127
schwerwiegende Folgen, es ist sofort die Gefahr da, Problematisches
und GewisBCB, Zusammengesetztes und Einfaches, Erscheinung
und Erklämng zu vennengen, damit aber etwas in Fluss Be-
griffenes zu verfestigen und das G^sammtbild des Zustandes der
Wissenschaft zu entstellen. In ganz merkwürdiger Weisen scheint
dabei der Name des Gesetzes zu blenden und auch den be-
gründetsten Zweifel niederzuschlagen, als wirkte die autoritative
Stellung, welche dem Gesetze auf praktischem Gebiete zukommt,
hier fort. Es ist oft bemerkt, dass die Annahme falscher That-
sachen den Fortschritt der Wissenschaften weit- mehr hemme
als die Aufstellung falscher Theorien, aber am schädlichsten wirkt
wohl die fälschliche Behauptung von Gesetzen, da hier die Festig-
keit der Thatsache mit der Ausdehnung der Theorie sich verbindet.
V Weitere Verwirrung entstand dadurch, dass der specifische
Inhalt des Begriffes Naturgesetz als typisch für den Begriff des
Gesetzes überhaupt hingestellt und damit die Aufgabe der wissen-
schaftlichen Arbeit der andern Gebiete genau so wie bei der
Naturforschung bestimmt wurde. Für eine solche Richtung ist
bezeichnend das Streben, die Mathematik zum Werkzeug aller
und jeder Erkenntniss zu erheben und selbst die Logik von ihr
abhängen zu lassen. Von Roger Baco durch Nicolaus von Kues, •
Kepler und Hobbes bis zu Leibnitz lässt sich hier eine fort-
schreitende Bewegung verfolgen. Was Baco*) und Nicolaus von
Kues dem Umriss nach aussprachen, ist bei Kepler**) und
Hobbes***) schon genauer entwickelt und bei Leibnitz mit klarem
Bewusstsein aller Bedingungen und Consequenzen durchgeführt.
Er hat alles Mannigfache und scheinbar Entgegengesetzte als
*) Specula mathem. 1,2: omnia praedicamenta dependent ex co-
gnitione quantitatis , de qna est mathematica , et ideo virtus tota logicae
dependet ex mathematica.
**) I, 31: nt oculuB ad colores, auris ad sonos, ita mens hominis
non ad quaevis, sed ad quanta intelligenda condita est. Die Zurückführung
der Denkthätigkeit anf mathematische Operationen, s. VIII, 157 ff. Diese
Stellen sind der Ansdrack einer Ueberzeugung , auf der das ganze philo-
sophische System Kepler's ruht.
***) S. z. B. Leviathan, cp. V.
1 28 Gesetz.
Stufen einer Reihe zu begreifen gesucht, und wo eine Vermittlung
unmöglich schien, lieber zu dem Htiifsbegriff des Unendlichen*)
seine Zuflucht genommen, als dass er sich in dem Grundgedanken
erschtitterh liess. Und da er femer mit der Vorstellung zu
einer uaiyersalen Grundkraft gelangt und alle Verschiedenheit auf
Grade der Entwicklung der Vorstellung zurückführt, so scheint
es möglieh, die Philosophie in eine derartige Mathematik zu ver-
wandeln, wie sie dem Gedanken einer charakteristisehen Sprache
zu Grunde liegt. Mit der leibnitzischen Philosophie ist freilich
dieses kühne Unternehmen zurückgetreten, aber der Einfluss des
Grundgedankens auf die einzelnen Disciplinen ist dadurch nicht
gebrochen.
Zu Gesetzen nach Art der eigentlichen Naturgesetze zu ge-
langen, erscheint noch immer manchen als höchstes Ziel, während
doch vor allem ausgemacht sein müsste, dass die besondere
Beschaffenheit der Gebiete die Aufstellung eines solchen Zieles
gestattet. Ja wenn es sicher wäre, dass sich überall das Vor-
liegende als ein Zusammengesetztes fassen und vollständig in
einzelne Elemente auflösen Hesse, dass das Gegebene als ein
System beharrender Kräfte anzusehen wäre, dass alle Unterschiede
letzthin quantitativer Art seien, und wenn wir dazu hoflfen dürften,
dieses alles auch erfahrungsmässig feststellen zu können, dann
wäre es freilich Aufgabe, eigentliche Naturgesetze anzustreben ;
wo aber die Bedingungen nicht erfüllt oder uns wenigstens noch
nicht herstellbar sind, oder auch wo geradezu andere Voraus-
setzungen vorliegen,* da wird die aufgewandte Mühe nicht den
entsprechenden Erfolg haben. Mögen einzelne Grenzgebiete von
Geist und Natur solcher Betrachtung sich zugänglicher erwiesen
haben, als man früher meinte, die Versuche, auch das Gebiet des
eigentlich Seelischen dafür zu gewinnen, scheinen uns die
principiell entgegenstehenden Bedenken keineswegs überwunden
zu haben.
*) Die Gegensätze verschwinden, sobald ein Glied nnendlich und zwar
bei Leibnitz gewöhnlich nnendlich klein genommen wird.
Gesetz. 129
Man kann aber liier manche Bedenken haben, ohne des-
wegen an der sti'engen Gesetzmässigkeit alles geistigen Ge-
schehens irgendwie zu zweifeln*), nur das steht in Frage, ob
der specifische Inhalt des Naturgesetzes Anwendung finde, und
weiter auch, ob selbst die allgemeine Fassung des neuem Gesetzes-
begriflFes der hier vorliegenden Eigenart Gentige leiste. Denn
wenn auch dem Gesetzesbegriflf ein ursprüngliches und beharrendes
Handeln der Veniunft zu Grunde liegt, so dürfen damit nicht die
bestimmten geschichtlichen Fassungen gestützt werden, da sie
einer specifischen Theorie von der Welt entspringen, nicht weiter
gelten, als sie Aussicht auf Bestätigung haben, und daher einer
hinreichend begründeten Ergänzung oder umbildenden Einfügung
in ein grösseres Ganze sich nicht widersetzen dürfen. Wir müssen
auch hier zu der Ueberzeugung stehen, dass die ganze Art der neuern
wissenschaftlichen Arbeit nicht etwas selbstverständliches und aus-
schliessend wahres, sondern nur eins unter anderen möglichen sei.
Diese Probleme und Schwierigkeiten, welche der Gesetzesbegriflf
auf psychischem Gebiete mit sich führt, treten in den Grundzügen
schon im individuellen Leben hervor, in dem gesellschaftlichen
imd geschichtlichen aber erhalten sie durch weitere Verbindungen
und- Verwicklungen eine Steigerung. Der allgemeine Gedanke
gesetzlichen Geschehens musste freilich auch hier geltend gemacht
werden, und es lag darin schon ein nicht unerheblicher Fortschritt,
aber der Weg von diesem Gedanken bis zur Eraiittelung be-
stimmter Gesetze im eigentlichen Sinne war hier ein besonders
weiter. Mögen in dem Zusammenwirken vieler Kräfte Massen-
erscheinungen hervortreten, die eine gesonderte und relativ ab-
schliessende Feststellung zulassen ; sobald man das Augenmerk
auf das lebendige Ganze und auf die letzten Gründe richtet,
wachsen die Schwierigkeiten in einem Masse, dass an eine For-
mulirung von Gesetzen- zunächst noch gar nicht gedacht werden
*) Namentlich darf nicht damit abgeschlossen werden, dass wir hier
nur Kegeln, nicht Gesetze erkennen könnten, denn die Rßgel bedeutet nur
eine Art und ein Stadium unserer Auffassung, während es in Wirklichkeit
für die Wissenschaft keine Regeln, sondern nur Gesetze gibt.
Eucken. Geschichte und Kritik. \)
130 G«8etB.
kann. — Indem im besondern das Gebiet des socialen Lebens
einer Gesetze anstrebenden Betraehtnng unterworfen wurde, ge-
staltete sich schon durch die Aufstellung dieses Zieles die An-
sicht wesentlich um und Aufgabe wie Inhalt der Forschung ward
überall gehoben, aber die Wahrnehmung, dass auch in dem zu-
nächst zufällig und willkürlich scheinenden eine erstaunliche
Gleichmässigkeit walte, dass scheinbar unabhängige Vorgange in
bleibenden Verbindungen stehen, und dass durchgehend die
Constanz mit der Erweiterung des Bepbachtungsgebietes zunehme,
diese Wahrnehmung schien manche Forscher fast berauscht zu
haben. Bein empirische Daten wurden als nothwendige Wahr-
heiten, äusserst zusammengesetzte Voigai^e als einfache Grund-
formen, der Durclischnitt als ein jedem Individuum wesentlich
zukommendes verkündet; überall lag der Begriff des Gesetzes
zu» Anwendung bereit, und nicht selten wurden bei umsichtsloser
Verfolgung einzelner Betrachtungsreihen bestimmte Formeln mit
einer Kühnheit aufgestellt, die sich fast nur nach dem Satze
erklären lässt : in rebus dubiis plurima est audacia. Die mannig-
fache Verwirrung näher zu beleuchten, zu welcher derartige Ver-
suche, und im besondem das sog. Gesetz der grossen Zahl, gefbhrt
haben, ist um so weniger Veranlassung, als die Sache für die
Wissenschaft durch hervorragende Forscher vollkommen richtig
gestellt ist*); aber freilich gehen die Irrthümer im allgemeinen
Leben darum unbekümmert weiter und bringen hier ernstliche
Gefahren mit sich.
Auf den andern geistigen Gebieten gibt namentlich die Ver-
wendung der vergleichenden Methode zu manchen Bedenken
AnlasH. Seit Beginn der Neuzeit hat jene der Erkenntniss der
Gesetze die grössten Dienste geleistet, indem sie durch Abstreifung
des Zufälligen und Hervorhebung des Beharrenden zur Aufdeckung
der Grundformen in geradezu unersetzlicher Weise beigetragen
hat. Namentlich wo die Verwendung des Naturgesetzes Boden
*) S. z. B. RUmelin: ^ lieber den Begriff eines socialen Gesezes" und
Lexis „Zur Theorie der Massenerscheinnngen.'*
Gesetz. 131
gewinnt, sehen wir auch die vergleichende Methode alsbald ver-
wandt, so dass es eine anziehende Aufgabe wäre, die allmählige
Ausbreitung derselben zu verfolgen. Aber es fragt sich, ob das,
was sie zu leisten vermag, auf rein geistigem Gebiet nicht
vielleicht nur eine nebengeordnete Bedeutung hat, oder doch nur
nach Erfüllung von Vorbedingungen Förderung gewähren kann.
Denn hier verursacht es schon nicht geringe Schwierigkeit, das
Feld des zu vergleichenden überhaupt nur gegen scheinbar ver-
wandtes abzustecken, wenn auch mancher kühn zu vergleichen
beginnt, ohne sich klar gemacht zu haben, was denn eigentlich
verglichen werden soll; dann aber steht hier jede einzelne Ge-
staltung in Verbindung mit einem Gesammtgeschehen, woraus sie
loszulösen ist, ehe sie gewürdigt und für eine wirkliche Er-
klärung verwandt werden kann; denn so wie das einzelne vor-
liegt, kann sehr leicht äusserlich Uebereinstimmendes aus ganz
andern Motiven hervorgegangen sein und umgekehrt scheinbar
Abweichendes sich innerlich und wesentlich nahe stehen. Das
blosse Herausheben eines Gemeinsamen gentigt hier also nicht,
um einfache Grundformen zu erhalten, vielmehr ist dafür ein-
dringende Analyse erforderlich, die eine stets begleitende syste-
matische Denkarbeit verlangt. Nur in dem Masse, als dies ge-
leistet wird, kann die Herantragung neuen Stoffes der Erkenntniss
erhebliche Förderung bringen, und können wir dem Vorwurfe
entgehen, nur deswegen den Blick auf die Fülle des Aeussem
zu richten, um dem Hinabsteigen in die Tiefe zu entgehen.
An diesem Punkte aber wie an den andern kommt die laxe
Verwendung des Gesetzesbegriflfes weniger der Forschung inner-
halb der einzelnen Gebiete als der nach aussen blickenden Zu-
sammenstellung und Verwendung der Ergebnisse zu Schulden.
Dort wird der eindringende Irrthum rasch entdeckt und die Auf-
gabe in ihrer Reinheit hergestellt, hier schlägt die Verwirrung
feste Wurzel, was höchstes Ziel ist, wird rasch vorweggenommen,
und so kommt es, dass wir oft in dem Masse kühner mit dem
GesetzesbegriflF umgehen, als wir den Dingen femer sind.
9*
Entwicklung.
Xiyeiy, ntag ^xaaroy yivead-ai nicpvxB fifd-
koy ^ ntag lariv.
Aristoteles.
Der Begriff der Entwicklung stellt einer gelegentlichen Be-
trachtung geradezu unüberwindliche Schwierigkeiten entgegen.
Dass die Menschheit in einer geschichtlichen Bewegung begriffen
sei, scheint freilich unläugbar, ein Fortschreiten wird gern und
leicht geglaubt, der Blick dehnt sich dann auf das Weltall aus,
und auch hier ein Vorwärtsgehen aufzuweisen scheint nicht zu
kühn. Aber wie viel Probleme stellt eine solche Idee , wenn sie
genau bestimmt, wissenschaftlich durchgeführt und philosophisch
rechtfertigt werden soll? Dazu fliesst in die Motive, welche die
Behandlung bestimmen, das Verschiedenartigste ein: Postulate der
Vernunft und specielle Erkenntnisse, bleibende Strebungen und
vorübergehende Stimmungen, die ganze Richtung der Interessen
und Arbeiten, alles wirkt zu dem mit, was sich schliesslich als
Urtheil und üeberzeugung herausstellt. Da aber dies alles auch
nur zu berühren die unserer Erörterung gesetzten Schranken weit
übersteigen würde, so begnügen wir uns einige wenige Punkte
hervorzuheben, die namentlich für di^ Arbeit der Gegenwart in
Betracht kommen.
Zunächst möge es unserer Gewolmheit entsprechend gestattet
sein, dem Ursprung der Bezeichnungen nachzugehen. Einen be-
Entwicklung. 133
stimmten Terminus für Entwicklung scheint erst die neue Philo-
sophie ausgebildet zu haben, und dass sie dies sofort zu Beginn
mit voller Entschiedenheit thut, ist bezeichnend für die Bedeutung
des Begriffes in ihr. Explicatio in dem philosophischen Sinne
einer realen, nicht blos logischen Entwicklung ist ein Lieblings-
ausdruck des Nikolaus^ von Kues, complicatio steht entgegen,
wofttr Jordano Bruno, der Schüler des Nikolaus, meist implicatio
setzt. Bei Nikolaus findet sich gleichgeltend, aber viel seltener
auch evolutio, das in dieser Bedeutung scheinbar neu auftritt*);
evolvi ftlr die Entwicklung der Vorstellungen hat wohl zuerst
Kepler.**) Leibnitz setzt dann evolutio und involutio entgegen,
in den französischen Werken ttberwiegt enveloppement und de-
veloppement. Evolution ward, nachdem C. F. Wolff in der theoria
generationis die Lehre der Epigenesis begründet hatte, specifische
Bezeichnung der „Einschachtelungstheorie."
Auswicklung und sich auswickeln tritt uns in philosophischer
Verwendung zuerst bei Jacob Böhme***) entgegen; entwickeln soll
nach Grimm zuerst bei Stieler vorkommen f), Baumgarten spricht
von einem Entwickelt - und Eingewickeltwerden der Vorstellungen,
überhaupt überwiegt zunächst die active Bedeutung, und nament-
lich findet sich oft so Entwicklung eines Begriffes, Beweises,
*) I, 89 a: linea est pancti evolutio. — Quomodo intelligis lineam
pnncti evolutionem ? — Evolntionem id est explicationem. üebrigens konunt
complicatio neben replicatio, femer involutus und convolutus auch bei
Scotus Erigena vor. Im logischen Sinne findet sich der Gegensatz von
involvere und evolvere schon bei den lateinischen Classikern; s. z. B.
Cicero Top. 9: tum definitio adhibetur quae quasi involutum evolvLt id
de quo quaeritur.
♦*) V, 229: sensiones perceptionesque aliae naturales — opus habent
motu, quo intercedente omnia, quae quantitatis causa confusae essent, per
tempora succedentia evolvantur, ut singula sola sensibus accidant.
*♦*) Die bemerkenswerthesten Stellen finden sich im 8. Kapitel der
Schrift von der Gnadenwahl.
t) Stieler, der deutschen Sprache Stammbaum 2530, führt nach Aus-
wickeln (involutum evolvere) Herauswickeln (expedire se) an und setzt
dann hinzu: Entwickeln idem est.
I
i
134 Entwicklung.
Lehrsatzes u. s. w. Die unserm Gebrauch gleichkommende Ver-
wendung kann ich in weitenn Umfange zuerst bei dem Jüngern
Kant nachweisen, er scheint freilich öfter Auswicklung als Ent-
wicklung zu haben, dagegen zieht er entwickeln und auch six^h
entwickeln (s. z. B. I, 212) vor. Durch Herder, der das Wort
mit Bewusstsein und Vorliebe gebrauchte, und Tetens, der es
wohl zuerst auf dem Titel eines Buches verwandte*), kam es
in die allgemeine Eede und ist im 19. Jahrhundert so weit aus-
gedehnt, dass es ziemlich abgenutzt und in der Wissenschaft, ab-
gesehen von genau bestimmten Gebieten, fast un verwendbar ge-
worden ist.
Auch lässt sich nicht verkennen, dass der Ausdruck streng
genommen gar nicht dem Begriff entspricht, den die Neuzeit be-
zeichnet haben möchte. Denn bei Entwicklung wird im Grunde an
ein von Anfang an mit bestimmten Eigenschaften und Kräften Aus-
gestattetes gedacht, so dass das Spätere sich wie aus einem orga-
nischen Keime herausentfaltet. Daher war es ganz angemessen,
dass in jenen Zeiten, wo der Sinn des Wortes noch deutlicher
vorgestellt wurde, der Entwicklung (Auswicklung) durchgehend
eine Einwicklung entgegenstand. Die neue Zeit möchte aber die
specifische Gestaltung eben nicht als fertig vorhanden und das
Geschehen nicht nur als ein blosses Nachaussentreten fassen,
sondern die Gestaltung soll sich ursprünglich und letzthin in dem
Processe selber vollziehen. Die „Entwicklung" in diesem Sinne
macht das Bindeglied zwischen dem vorliegenden Weltbestande
und den einfachen Grundkräften aus und ermöglicht es, jenen von
diesen aus zu verstehen.
Eine solche Auffassung ist freilich erst nach und nach zur
vollen Durchführung gelangt; die früheren Ausdrücke und Vor-
stellungsbilder hafteten sich an das Neue, und wo sie es nicht
innerlich hemmten, stöi-ten sie es doch in der Wirkung^*); dazu
*) Sein Hauptzweck heisst : Philosophische Vessnehe über die mensch-
liche Natur und ihre Entwickelung, 1777,
**) Es gilt das namentlich von Leibnitz, der, exoterisch betrachteti
ganz auf dem Standpunkt vergangener Zeiten steht, während schon evaß
j
Entwicklung. 135
drängte sich immei* die uns unablegbare Vorstellung ein, als wäre
das Entstandene schon vorher irgendwie versteckt vorhanden
gewesen*); kurz die reinen Formen brechen sich langsam durch,
aber sie sind, doch unverkennbar das Treibende in der Bewegung
und sie bestimmen namentlich die Eigenthtimlichkeit der. wissen-
schaftlichen Methode.
Die genetische Methode ist allerdings ihrem allgemeinen
Inhalt nach nichts neues, da sie von den griechischen Denkern
aller Bichtungen verwandt und namentlich von Aristoteles auch
der principiellen Bedeutung nach vollauf gewürdigt ist.**) Seine
Politik wie die Schrift über die Entstehung der Thiere dürfen
als mustergültiges Beispiel antiker genetischer Methode erachtet
werden. Aber eben hier tritt der wesentliche Unterschied von
der neuern Wissenschaft greifbar hervor. Im Anschluss an die
platonische Auffassung steht das Sein vor dem Werden, der
Typus ist ursprünglich und zeitlos vorhanden und bestimmt von
Anfang an die Gestaltung***); das Ganze geht den Theilen voran,
Richtigstellung seines Begriffes der Vorstellung gentigt, um ihn in anderm
Licht erscheinen zu lassen. Wie wenig berechtigt die gewöhnlichen Vor-
würfe gegen seine Entwicklungslehre sind , geht auch darau» hervor, dass
er zuerst die Möglichkeit des einheitlichen Ursprunges der Arten einer
Gattung aufgestellt hat, s. 317 a: peut-Stre que dans quelque tems ou dans
quelque lieu de Tunivers les esp^ces des animaux sont ou etaient ou seront
plus Sujets ä changer, qu'elles ne «out presentement parml nous, et plusieurs
animaux qui ont quelque chose du chat, comme le lion, le tigre et le lynx,
pourraient avoir ^t^ d'une m^me race et pourront ^tre maintenant comme
des Bousdivisions nouvelles de Tancienne esp6ce des chats.
*) S. Goethe 23, 269: „Der Begriff vom Entstehen ist uns ganz und
gar versagt; daher wir, wenn wir etwas werden sehen, denken, dass es
schon dagewesen sei. Desshalb das System der Einschachtelung kommt uns
begreiflich vor."
**) S. z. Bi polit. 1 252 a, 24 : «t drj xis «I «^/^i* i"« n^ay^uta (pvo/Ä^ya
ßXi^fUv, foant^ iy rolff aXXo«^, Kai iy xovjois Kctkhaz «y ovtm d-^ioqiiiSBUv.
Genetisch-causale Deünitioiien verlangt er de anima 413a, 13: ov fxoyov x6
ort d(t Toy o^iajixoy Xoyoy d^Xovy, dXXd xcci t^y ahiccy £yvndQj[€iy r.ai
i/n(paiytad-ai ff.
*♦*) S. namentlich de part. anim. 640 a, 18: ^ yiyeaig eysxa r^f ovata^
\ :56 Entwieklimg.
und die liöhere Stufe, als das normale, lehrt die niedere Ter-
stehen, die als gehemmtes und noch nieht zur reinen Gestalt
durchgedrungenes gilt
An einer solehen Auffassung hat fiberwi^end das spatere
Alterthum, die altchristliehe Zeit und das Mittelalter fes^ehalten,
soweit sie sich überhaupt in speeulatiy-systematiseher Weise mit
dem Problem beschäftigten.^) Daneben fehlt es freilich nieht an
abweichenden Ansichten, im Mittelalter ist namentlich Abälard
durch die Aufstellung des Satzes, dass alles Einfache ron Natur
früher sei als das Vielfache**), und die Folgerungen, welche er
daraus f&r die geschichtsphilosophische Auffassung von Ethik
und Religion zieht, bemerkenswerth, aber erst nachdem die neue
Philosophie das Wirken vor das Sein gestellt hatte, ward es mög-
lich, die Methode, welche vom Werden aus begreift, als leitende
zu erkennen und nach allen Seiten hin zu verwenden.***) Sie
totiv , oaX ovx h ovaia tyexa Tijg yeyiatüjg, b, 1: intl d'iaji roiorroy, Tt^y
yiyeaiy todl xai xoiavrny avfißaiyeiy dyayxäioy.
*) Unter den Kirchenvätern hat namentlich Angnstin demselben ein-
gehende Beachtung zugewandt, er vergleicht, und zwar vielleicht znerst,
das gesammte Weltgeschehen mit der Entwicklung eines Baumes, s. z, B.
III, 148 D. Die Auffassung der gewöhnlichen Orthodoxie dagegen vertritt
Lactanz, wenn er sagt (Institut. II, 11): nihil potest esse in hoc mundo
quod neu sie permaneat ut coepit. — Die Ueberzeugung, dass das Höhere
das ursprüngliche Ziel der Bewegung sei und daher den Massstab für das
Niedere bilde, tritt namentlich bei den platonisirenden und mystischen
Denkern hervor. S. z. B. Eckhart 104, 32: Alles kornes natüre meinet
weizen, alles Schatzes natüre golt, alliu geberunge meinet mensche. Hin-
sichtlich der Con Sequenzen für die Erkenntnisslehre vergl. Boethius de cons.
philos. V, 131.
**) Dialogus inter philos. etc. cp. 4 : omne simplicius naturaliter prins
est multipliciori.
***) Es war neben Spinoza namentlich Tschirnhausen, der auf gene-
tische Definitionen drang, s. medic. mentis pag. 67, 68 : omnis saue legitima
seu bona definitio includet generationem. Was den Ausdruck anbelangt,
so sprach man zunächst in der wolffischen Schule (s. z. B. Wolff, Ontolog.
§ 263 ff.) von genetischen Definitionen, erst in der zweiten Hälfte des
vorigen Jahrhunderts (z. B. bei Herder) scheint genetisch für die reale Er-
klärunf^ aus dem Werden verwandt zu sein.
Entwicklung. 137
zeigt hier den Weg, das Vorliegende, welches als ein aus einfachen
Kräften gestaltetes erscheint, auf seine Elemente hinzuführen und
es dadurch begreiflich zu machen. Freilich kommt man hier zu
letzten Punkten, die einer weitem Zerlegung widerstreben, aber
als solche dürfen nur Kräfte angesehen werden, die sich fort-
während lebendig bezeigen und deren Wirkformen tiberall er-
griffen und jeden Augenblick erwiesen werden können. Das
Dunkle und Geheimnissvolle schwindet also aus der Welt, oder
wird wenigstens so weit wie möglich zurückverlegt; in allem
erkennen wir wieder, was uns fortwährend umgibt. Wird damit
einmal die Geschichte ein Mittel causaler Erkenntniss, so gewinnt
sie selbst, indem sie alles fremde und starre abstreift, uns auf
allen Stufen unser eignes wiederfinden lässt und damit einer syste-
matischen Behandlung zugänglich wird. Ja, indem ^ich überall
herausstellt, dass „das Alte neu und das Neue alt^ sei, scheint es,
als ob der Gegensatz des Geschichtlichen und Ewigen hier, so
weit es überhaupt erreichbar, überwunden sei.
Wo immer eine solche Methode auf ein wissenschaftliches
Gebiet tibertragen wurde, musste sie eine tiefeingreifende Um-
wandlung hervorbringen. Das Nebeneinanderstehende trat in innem
Zusammenhang und die gesetzmässige Erkenntniss bemächtigte
sich des gesammten Stoffes; das Gegebene erwies sich als Stufe
eines fortgehenden Geschehens und das scheinbar Todte erwachte
zu vollem Leben. Da also die verschiedenen Grundtendenzen der
neuem Wissenschaft hier erst ihre Bewährung und Bestätigung
finden, so zeigt die gelingende Durchführung der genetischen
Methode recht eigentlich den Sieg der specifisch neuern Forschimg
an. Den ersten voUbewussten und systematischen Versuch bildet
hier die Physik von Descartes*) ; im allgemeinen hat die Methode
*) Claubei'g, op. philos. 755 beschreibt die von jenem verwandte Methode
im ganzen zutreffend also: Hanc methodum Cartesiana physica tenens —
considerat omnes res naturales non statim quales sunt in statu perfectionis
8uae absolnto (nt vnlgo fieri solet ab aliis), sed prius agit de quibnsdam
eanindem principiis valde siroplicibus et facilibus, deinde explicat, qnomodo
paulatim ex illis principiis, suprema causa certis legibus opus dirigente.
13S Entwicklung.
ihre Bahn naturgemäss vom Aeussem zum Innem und vom Grossen
zum Kleinen genommen. In der Naturerklärung hat sie von den
kosmologischen und astronomischen Problemen den Weg bis in die
Geheimnisse des organischen Lebens zu finden gewusst, und ähnlich
waren es auf geistigem Gebiet zuerst die grossen Gestaltungen,
die man aus dem Werden zu begreifen suchte, bis dann auch
das Einzelleben in solche Betrachtung hineingezogen wurde.*)
Je mehr sich aber diese Bichtung in das Einzelne hinein-
arbeitete, desto weniger traten ihre allgemeinen Voraussetzungen
in's Bewusstsein, so dass am Ende als selbstverständlich angesehen
wurde, was doch auf einer specifischen Theorie von der Welt und
unserer Stellung zu ihr beruht. Das Vorliegende muss sich verein-
fachen und auf Grundkräfte zurückführen lassen, dieselben müssen"
in gleichmässigen Wirkformen alle Gestaltungen hervorbringen,
diese Gestaltungen müssen in eine einzige Beihe fallen, und dazu
muss das alles von uns in dem offenliegenden Geschehen der Welt
voll und ganz ergriffen werden können. Dies zusammen aber ist nicht
so selbstverständlich, sondern müsste auf jedem Gebiete besonders
erwiesen werden. Keinenfalls genüg-t es, irgend welche weniger
verwickelte Formen aufzuzeigen und eine empirisch-geschichtliche
Gestaltung von ihnen aus zu verfolgen, denn es ist nicht im
mindesten ausgemacht, dass das Anfängliche mit. dem Ursprüng-
lichen, die erste Erscheinung mit der Grundkraft zusammenfalle,
und ebensowenig, dass in dem empirischen Geschehen die gesetz-
liehe Gestaltung rein hervortrete. Denn in dem Vorliegenden
haben wir ja ein Zusammensein anzuerkennen, in ganz bestimmten
Verbindungen sind die Kräfte gegeben, wobei sie sich durch-
dringen und durchkreuzen, hemmen und neubestimmen, dabei alle
Ergebnisse früheren Geschehens fortführend und demnach ein so
verschlungenes Ganze bildend, dass ursprüngliches Entstehen und
oriantar et fiant, aut carte oriri aut fieri possint, donec tandem tales eva-
dant, qnales esse experimnr dum consummatae et absolutae sunt.
^) S. z. B. Beneke, pragm, Psychologie 41 : Es gibt unter den FormeB,
die wir in der ausgebildeten Seele finden, keine einzige, die nicht erst ge-
worden und durch eine längere Reihe von Entwickelnngen geworden wäre.
Entwicklung. 139
erstes Hervortreten vielleicht weit auseinander fällt und das ein-
fache und wesentliche Geschehen vielleicht sich tief hinter dem
verbirgt, was sich uns als nächstes gibt. Das empirisch Vor-
gehende mag daKer als Ausgangspunkt der Untersuchung dienen,
sowohl die wissenschaftliche Strenge der Forschung tlberhaupt,
als der Werth genetischer Methode, würde aufs schwerste er-
schüttert, wenn man dabei ohne weitere Prüfung abschlösse und
die Dinge durch Feststellung ihrer Reihenfolge begriffen zu haben
glaubte. Bei einer solchen unkritischen Gleichsetzung der ersten
und letzten Beschaffenheit der Dinge würden die wichtigsten Auf-
gaben neuerer Wissenschaft : eindringende Analyse und Ermittlung
des Gesetzes in ernstliche Gefahr gerathen. Die blosse Kunde
und Schilderung der „Entwicklung" darf nicht so alles Sinnen
und Denken gefangen nehmen, dass darüber zu fragen vergessen
wird, was sich denn entwickelt, und wie und wohin es sich
entwickelt.
Ferner dürfen wir nicht übersehen, dass die genetische Methode,
wie sie alle die Probleme einschliesst, welche sich an den Begriff der
Entwicklung knüpfen, so auch allen verschiedenen Formen, welche
derselbe angenommen hat, zugänglich ist. Aus der bunten Mannig-
faltigkeit der Neuzeit hebt sich hier namentlich ein Gegensatz deut-
licher hervor. Auf der einen Seite lässt man die Welt aus der
ursprünglichen Thätigkeit einer Grundkraft entspringen und setzt
alles Einzelne als von der Einheit her gesetzlich bestimmt; auf
der andern dagegen nimmt man viele nebeneinander wirkende
Kräfte an, in deren Zusammensein sich erst allmählig die Gestaltung
auspräge. Dort denkt man in erster Reihe an ein geistiges, hier
an ein materielles Sein; dort geht man von der Einheit zur
Vielheit, hier von dem Einfachen zum Zusammengesetzten ; dort
haben wir eine Bildung von innen heraus*), hier dagegen eine
*) S. Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte V, 2 : „— so, dünkt
mich, spricht man uneigentlich, wenn man von Keimen^ die nur entwickelt
würden, oder von einer Epigenesis redet, nach der die Glieder von aussen
zuwüchsen. Bildung (genesis) ist's, eine Wirkung innerer Kräfte ff."
1 40 Entwicklung.
Zusammenfügung aus dem Aeussera*) ; dort ist das grosse Mittel
der Fortbewegung der Gegensatz, hier scheint sie sieh in ein-
fachem Aufsteigen zu vollziehen.
Jene Auffassung ist seit Nikolaus von Kues namentlich von
der speculativen Philosophie ausgebildet und hat bei Hegel, der
alles Sein aus der Bewegung des Begriflfes hervorgehen lässt,
ihren Höhepunkt erreicht; diese dagegen ist in klarer Gestalt
zuerst von Cartesius**) vertreten und hat in neuester Zeit in einer
specifischen Form durch die darwinsche Theorie allseitigen Ein-
fluss erlangt. Ja diese Theorie beherrscht so sehr die Gedanken
der Gegenwart, dass auf sie zunächst der Begriff der Entwicklungs-
lehre im allgemeinen Sinn übertragen zu werden pflegt.
Dieser Name ist, als begriffliche Verwirrung erweckend, vor
allem zurückzuweisen. Denn wenn bei demselben etwas bestimmtes
gedacht werden soll, so triflPt er selbst für den allgemeinen Begriflf
der neuern Gestaltungslehre, wie wir sahen, nicht recht zu, sollte
er aber auf eine specifische Theorie übertragen werden, so würde
die speculative Fassung weit eher Anspruch auf ihn haben. In
einer darwinistischen Philosophie aber könnte von einem innem
*) Damit ist freilich noch nicht gesagt, dass in der Zusammenfügung
nicht ursprüngliche und gesetzliche Dispositionen zum Ausdruck kommen
könnten. Die Lengnung dessen würde jedenfalls der Theorie eine weit
engere Fassung geben.
*♦) So stellt er, freilich mit aller Vorsicht, princ. philos. Ili, 58 die
Meinung auf, dass auch bei Annahme eines anfänglichen Chaos die £r-
kläruDg des Vorliegenden möglich sei: vix aliquid supponi potest, ex quo
non idem effectus (quamquam fortasse operosius) per easdem naturae leges
deduci possit, cum enim illarum ope materia formas omnes quarum est
capax, successive assumat, si formas istas ordine consideremus , tandem
ad illam quae est hujus mundi, poterimas devenire; femer de methodo 24
u. 25 : ut sine ulla in creationis miraculum injuria credi possit, eo solo res
omnes pure materiales cum tempore quales nunc esse videmus effici potuisse.
Charakteristisch ist hier neben anderm die Bedeutung, die der Zeit beige-
legt wird. Leibnitz wandte sich entschieden dagegen (s. 144) und be-
zichtigte deswegen Descartes des Naturalismus, s. r^fntation in^dite de
Spinoza, p. 4S: Spinoza incipit ubi Cartesius desinit: in naturalismo.
EntwicklUDg. 141
Grestalten und einem fest gerichteten Fortschreiten nach ursprüng-
lichen Dispositionen doch nicht wohl die Rede sein.
Auf jene Theorie ihrem thatsächlichen Gehalt nach einzu-
gehen, fällt ganz aus unserer Aufgabe hinaus, nur die Begriffe,
namentlich sofern sie als universelle und philosophische gelten
wollen, dürfen nicht übergangen werden. Die Stärke der Lehre
liegt auch für die rein begriffliche Betrachtung ohne Frage
darin, dass der Gedanke, die Grestaltung aus dem Zusammensein
der Kräfte zu erklären, hier zur consequenten Durchführung kommt.
Ein solcher Versuch gewährt auf dem naturwissenschaftlichen
Gebiet den grossen Vortheil, dass nun eine genaue Feststellung
und Prüfung der in Frage kommenden Erscheinungen möglich
wird, während die Annahme innerer Kräfte auf diesem Felde in
ein Dunkel verweist und von den Principien der neuern Natur-
philosophie nicht umfasst werden kann. Es hat daher die Theorie
schon deswegen, weil sie dem Streben nach causaler Erkenntniss
mehr gewährt und sich leichter gesicherten Einsichten anschliesst,
die Präsumption für sich, und die gewöhnlichen Vorurtheile sind,
als meist auf einer nicht eben wissenschaftlichen Consequenz-
macherei beruhend, zurückzuweisen.
Aber natürlich wird die Theorie von all den Schranken und
Gefahren des neueni Begriffes der Entwicklung mitbetroffen, ja
aÄ einzelnen Stellen wird sie wegen ihres eigenthümlichen Ge-
haltes in besonders hohem Grade getroffen. Die genetische
Erklärung der Neuzeit hat, wie wir sahen, nur insofern wissen-
schaftlichen Werth, als sie einen causalen Inhalt gewinnt, während
die blosse Feststellung der Beihenfolge und die Schilderung der
sich aufnehmenden Begebenheiten eine nothwendige Vorbedingung
des Erkennens sein mag, aber ausschliessend hingestellt kaum nocli
der strengern Wissenschaft angehört. Diese Gefahr ist nun aber
hier, wo es sich um ein von aussen entgegentretendes handelt,
besonders naheliegend. Um so mehr muss an der unerlässlichen
Forderung festgehalten werden, auf jedem einzelnen Punkt wie
in dem Gange der Gestaltung eine Gesetzmässigkeit zu erweisen,
d. h. das vorliegende Geschehen als Ausdruck ursprünglicher
142 Entwicklung.
Wirkformen der Grundkräfte zu begreifen. Da aber die Gesetz-
mässigkeit sich auf diesem Gebiet näher als eine mechanische*)
bestimmt, so erwächst die Aufgabe, die genetische Erklärung
in engster Verbindung mit der mechanischen zu halten und sie
auf keinen Fall dieselbe verdrängen zu lassen. Eine solche
Forderung aber bleibt manchmal ausser Acht.
Zunächst wird nicht selten die neue Gestaltung als etwas
eingeführt, das wie unversehens auf den Schauplatz tritt, während
es nothwendig causal begründet sein muss. Mag die Polemik
gegen jene alten Lehren, wonach das Neugeschehende als schon
vorher versteckt vorhanden erschien, noch so berechtigt sein, es
wird damit nicht die Auffassung mitbetroflfen, welche die neue
Form aus dem Wesen der Grundkräfte ursprünglich hervorgehen
lässt. Es ist das nicht zu entbehren, wenn anders wir nicht in
eine Theorie des absoluten Werdens hineingerathen wollen, welche
alle exacte Erkenntniss aufhebt. Nicht ein der Zeit nach voran-
gehendes, wohl aber ein zeitloses ist einer wissenschaftlichen
Begreifung der Welt nothwendig; ohne zu der aristotelischen
Lehre, dass das Sein dem Geschehen vorangehe, zurückzukehren,
muss man darauf bestehen, dass ursprüngliche Wirkformen in
jedem einzelnen Vorgehen als sich bezeugend eiwiesen und dass
insofern alles Wirkliche als ein Mögliches begriffen werde. -^
Daher muss Punkt für Punkt neben einer genetischen Unter-
suchung, welche die Entstehung der bestimmten Gombinationen
einsehen lehrt, eine mechanische Erklärung hergehen, welche
dies Entstehen aus dem wesentlichen Wirken ableitet und das jedes-
mal Geschehende als Ganzes für sich würdigt. Beide Aufgaben
mögen sich mannigfach unterstützen, keine kann die andere er-
setzen oder gar tiberflüssig machen.
Was aber so von den einzelnen Punkten gilt, dehnt sich auf
die Gestaltung als Ganzes aus. So wenig nach dieser Lehre von An-
fang an eine innere Richtung auf ein bestimmtes Ziel angenommen
wird, so muss doch nach allgemeinen Gesetzen das, was geschieht, in
*) lieber den Begriff des Mechanischen s. den besondern Abschnitt.
Entwicklnng. 143
einer zusammenhängenden Folge und causalen Verknüpfung stehen.
Man könnte als Anhänger dieser Lehre sagen, dass das wirkliche
Geschehen nicht alle Möglichkeiten erschöpfe, und daes dasselbe
nicht einfach aus den allgemeinen Eigenschaften der Grundkräfte
erschlossen werden könne, sondern immer auf den geschichtlichen
Process selber hinweise; aber daraus folgt doch nicht, dass das,
was geschieht, nicht an ursprüngliche und wesentliche Formen
gebunden sei. Es hat einen Grundgedajiken der neuem Wissen-
schaft für sich, wenn man sich dagegen sträubt, die Gesammt-
bewegung von Anfang an in eine specifische Richtung zu bringen,
aber es wird darüber wohl vergessen, dass sich aus dem Allge-
meinen selber Richtungen und ^ine Gesammtrichtung gesetzmässig
gestalten müssen.
Auch dadurch bringt eine nicht hinreichend strenge Behand-
lung der Erscheinungen Verwirrung mit sich, dass sie die Frage
nach dem Beharren und Sicherhalten des einmal Gewonnenen
ungemein leicht nimmt. Auf Grund bestimmter Ursachen sind
die Kräfte in Verbindungen gebracht, worin sie neue Formen
bilden; sind dieselben nur einmal da, so scheint manchen die
Aufgabe der Forschung gelöst, und man glaubt die Dinge sich
ruhig überlassen zu können. Wenn aber, wie man annimmt,
bestimmte Gestaltungen letzthin durch gelegentliche Einwirkungen
entstehen, wie ist es da begreiflich, dass sie über diese Ein-
wirkungen hinaus sich erhalten? Wird durch das Aeussere nicht
ein ursprüngliches und wesentliches zum Wirken gebracht, so
müsste im strengsten Sinne der Satz gelten : cessante causa cessat
eflfectus, und wir müssten nur flüchtige und vorübergehende
Formen im Naturgeschehen vorfinden.*) Da aber -die Dinge
anders liegen, so müssen die treibenden Kräfte .entweder fort-
wirken oder durch andere ersetzt sein, da ein bestimmter Zustand
nur auf Grund des Beharrens der Kräfte sich erhalten kann,
nicht aber etwas, wie es einmal ist, nun ohne Kraftaufwand
*) Sobald man nnr den Begriff des Typus anwendet, ist jene Gelegen-
heitslehre verlassen y wie sie an der ganzen Morphologie eine Schranke findet.
144 Entwicklang«
bleibt. Es steigern sich solche Probleme bei der Betrachtung des
Wechsels individueller Bildungen, ja sie bieten der ganzen
mechanischen Erklärung erhebliche Schwierigkeiten, und doch
setzen sich manche einfach darüber hinweg, indem sie sich an
den Begriff der Erblichkeit anklammern, als ob derselbe nicht
alle Probleme in sich trüge.
Diese ganze Geringachtung streng causaler Begreifung, die
natürlich nicht so sehr den eigentlichen Forschem als den Gelegen-
heitsdenkem zu Schulden kommt, stört ferner die Auffassung und
Werthschätzung des Weltprocesses selber. Wenn das formbildende
Geschehen nicht in einem gesetzlichen Zusammenhange erfasst
wird, so ist alle Gestaltung etwas den Grundkräften zufälliges,
nebensächliches und vorübergehend anhaftendes, so dass allein die
einfachen Elemente unabhängig von aller Verbindung etwas
Wesentliches in der Welt bedeuten, das gesammte Ergebniss des
Processes aber als oberflächlich und letzthin nichtig dasteht. Ja
je weiter die Bewegung fortschreitet, desto mehr entfernt sie sich
von dem eigentlich Bealen, desto mehr zufälliges nimmt sie auf,
so dass eben die hohem Stufen als am wenigsten ursprünglich
und damit auch als am wenigsten wissenschaftlich begreifbar
gelten müssen. Die „Entwicklung" würde also zur Wirklichkeit
und Wahrheit nicht hinführen, sondern von ihr entfemen. — Der
Grund von dem allen liegt aber darin, dass das causale Denken
nicht hinreichende Kraft hat, das Geschehen zu umspannen und
niederes und höheres in den einen Weltprocess zu beschliessen ;
die einzelnen Theile brechen auseinander, und wir erhalten ein
blosses Nebeneinander, wo die Wissenschaft auf systematische Ver-
bindung nicht verzichten darf.
Alle diese Bedenken steigern sich nun in dem Masse, wie
das ursprüngliche Gebiet der Forschung überschritten und eine
philosophische Ansicht von der Welt versucht wird. Aber diese
Versuche sind den Pflichten, welche die wesentlich veränderte
Aufgabe bringt, zu wenig nachgekommen, als dass sich ein
näheres Eingehen auf sie rechtfertigen Hesse : die entscheidenden
Probleme finden sich kaum gestreift, das Weltbild der naiven
£n twicklnng. 145
Aaschauimg wird ungeprüft aufgenommen und die ganze Philo-
sophie geht sehliesslieh darin auf, dass Ergebnissen und Methoden
der Naturwissenschaften ohne weitere Rechtfertigung AUgemein-
gtiltigkeit beigelegt wird. Von dem allen darf nur die Art, wie
dieselben auf das specifisch geistige Gebiet übertragen werden, nicht
unbeachtet bleiben, da hier eine charakteristische und nach der
Zeitlage nicht machtlose Strömung anzuerkennen ist.
Vor allem freilich steht das ausser Zweifel, dass durch An-
regung jener naturwissenschaftlichen Forschungen .auch auf
geistigem Gebiete manches in ein neues oder doch helleres Licht
getreten ist. Die Erkenntniss der Veränderlichkeit von Gestal-
tungen, die das naive Bewusstsein als fest gegeben ansieht, sowie
die höhere Werthschätzung des Geschehens überhaupt und der
äussern Factoren. im besondem musste die Grundauffassung vom
Geistigen insofern ändern , als es nun nicht mehr als ein anfäng-
lich vollständig bestimmtes und auf ein festes Ziel unablenkbar
gerichtetes angesehen werden konnte. Die Bedeutung des Kampfes,
für die freilich schon Heraclit, dann aber J.Böhme und Hegel einge-
treten waren, ward nun durch concretere Fassung dem allgemeinen
Bewusstsein näher gerückt als je; der in Zusammenhang damit ver-
theidigte allmählige und langsame Fortschritt des geistigen Lebens
fand mannigfache Bestätigung durch eingehende Specialforschungen,
und von diesen und anderen Punkten eröffneten sieh manche
Fernblicke, die über das jetzt schon deutlich übersehbare weit
hinausreichen.
Aber ein anderes ist es, innerhalb der Eigenthümlichkeit
geistigen Lebens solche Gedanken zur Anerkennung zu bringen,
ein anderes, dasselbe seiner wesentlichen Beschaffenheit nach von
hier aus zu bestimmen. Für solche Versuche, seiner Auffassung die
Analogie des Naturgeschehens zur alleinigen Bichtschnur zu geben,
ist namentlich bezeichnend die Lehre, dass dem Innern aller
Gehalt von aussen komme. Der Geist erscheint als leere Tafel^
welcher die Aussen weit gewisse Züge mittheilt; mag das nun
plötzlich oder allmählig geschehen, letzthin hat alles denselben
Eucken, Geschichte und Kritik. ]0
146 Entwicklang.
Ursprung, und selbst solches, whä als wesentlich zu gelten be-
sonders berechtigt scheint, wie z. B. die Formen der Anschauung
und des Denkens, soll von verschwindenden Anfängen aus durch
gelegentliche kleine Weiterschiebungen zu der (}estalt gelangt
sein, die uns jetzt vorliegt.
Um solche Lehren begi-eiflich zu machen und im einzelnen
durchzuführen, ist nicht geringer Scharfsinn verwandt worden.
Zu einer causalen Betrachtung, meint man z. B., «gelangten wir
dadurch, dass die Erscheinungen in gleichmässigen Zusammen-
hängen und Folgen auftreten ; die Verknüpfung wird zur Gewohn-
heit, diese wirkt über die einzelnen Fälle hinaus, imd die
unbewusst gewordene Thätigkeit gilt endlieh für ein ursprüng-
liches Gesetz des Geistes. Aehnlich werden die moralischen
Strebungen und Empfindungen von aussen her zu begreifen gesucht.
Der Trieb, welcher im Grunde nur auf Selbsterhaltung geht,
kennt allein das NützHehe, aber im'Zusammenleben tritt die Noth-
wendigkeit ein, viele Wesen zu erhalten und deshalb dem
einzelnen eine Schranke zu setzen. An dieser Stelle wird dann
entweder ein Instinct eingeführt und damit die Frage nur zurück-
geschoben, oder man macht geltend, dass Erziehung, Strafgesetze
u. s. w. das Nothwendige in der Form eines an sich Guten
geben, der Mensch sich an eine solche Betrachtung gewöhne und
endlich wie aus innern Drange thue, was ihm doch nur von
aussen beigebracht ist. Die Methode der Erklärung kommt also
hier und in andern Fällen darauf hinaus, dass die Wirkung des
Aeussem auf das Innere sich über den unmittelbaren Anlass hinaus
behauptet und nach und nach solche Festigkeit gewinnt, dass sie
als ursprüngliche Grundform geistigen Lebens erscheint.
Aber es fragt sich, ob eine solche Argumentation, die einzelne
zu blenden scheint, nicht verschiedene Lücken und angreifbare
Stellen habe, ob femer nicht selbst die Analogie des natürlichen
Geschehens andere Auffassungen nahe lege. Ist vor allem nicht
ein thätigkeitsloses Ding, wie der Geist als leere Tafel, etwas
begrifflich unerträgliches? Denn wie kann von einem Sein ge-
Entwicklung. 147
sprochen werden, ohne ihm ursprüngliche Kräfte beizulegen?*)
Kann ferner ein leeres und thätigkeitsloses eine Wirkung von aussen
empfangen, und ist eine Wirkung ohne Gegenwirkung und damit
ein Ergebniss, das nur einseitig bestimmt ist, überhaupt mög-
lich?**) Wenn femer im Innern unleugbar eine wesentliche Um-
wandlung des Yon aussen herankommenden vorgeht, so verlangt
dieselbe eine wirkliche Erklärung und lässt sich nicht durch
blosses Zurückschieben abthun. Wie der Inhalt eines Buches
einmal nicht dadurcli * begriffen wird, dass man es bis iji's Un-
übersehbare von einem andern abgeschrieben sein lässt, so kann
auch an dieser Stelle von der Annahme eines ursprünglichen
Geschehens durchaus nicht abgesehen werden. Mag ein solches
unter mannigfachen Vermittlungen und Bedingungen in die Er-
scheinung treten : dass der Geist irgend einmal etwas ganz anderes
aus den Dingen macht, als sie dem äussern Blick bieten, das
eben ist das Entscheidende, denn damit wird die Anerkennung
eines wesentlichen und eigenai-tigen Thuns unerlässlich. Es sind
nichts anderes als stete Zirkelschlüsse, welche diese Nothwendigkeit
verkennen lassen. Bei der Causalität z. B. kann zunächst gefragt
werden, ob nicht schon die psychischen Processe, . welche die
Gewohnheit hervorbringen, eine gewisse ursacliliche Verknüpfung
voraussetzen, jedenfalls wäre die bei uns geschehende Umbildung
in einen noth wendigen Zusammenhang gar nicht möglich, wenm
nicht auf das gewohnheitsmässig Aufgenommene selbst die caiu-
sale Betrachtung Anwendung fände, wenn nicht die Gewohnheit
selber als Problem ergriflfen und innerlich zu erklären versucht
würde. Warum bleibt denn der Mensch nicht einfach bei ilir
stehen wie das Thier? Nie und nimmer könnte der Geist, auch
*) Leibnitz nannte den Begriff einer substantia incompleta ein mon-
stmm in philosophia. S. ferner 223b: les puiBsances v^ritables ne sont
jaraais des simples possibilitös.
**) Allen solchen Einsendungen kann man freilich dadurch entgehen,
dass man sich auf den Standpunkt des vollen Materialismus stellt, aber es
fragt sich, ob dann nicht von anderer Seite gleichgrosse Schwierigkeiten
erwachsen.
10*
148 Entwicklung.
nur irrthümlich, darauf kommen, Gä«wohnheit in eausale Ver-
bindung umzusetzen, wenn das nicht in seiner eignen Natur
wesentlich begründet wäre.
Aehniich verhält es sich mit den Werthurtheilen. Der Be-
griff eines an sicli Werthvollen muss doch gegenüber dem Nütz-
lichen überhaupt einmal ursprünglich gebildet sein, um an den
einzelnen Menschen herangebracht werden zu können, und dasselbe
muss irgend welchen Boden in seiner Natur finden, wenn es ihm
nur eingeredet werden soll, ja es muss immer wieder neu ent-
stehen können, um beharrend fortzuwirken. Aller Missbrauch,
der sich an solche Ideen knüpfen mag, weist doch immer auf
die Macht hin, welche sie von Natur für uns besitzen, und der
Schein ist auch hier nur unter Voraussetzung einer Wirklichkeit
verständlich.
Mag überall noch so viel von aussen gekommen sein, das
Problem der Einwärtswendung ist damit nicht gelöst Wie ist es
möglich, dass das Fremde zu einer selbstständigen innem Macht
wird, dass es sich von allen zufälligen Verbindungen ablöst und
eine Herrschaft über das Ganze anstrebt? Wie oft oder selten das
geschehen mag, ist für das Hauptproblem gleichgültig, dadui'ch
dass es ein einziges Mal geschähe, wäre über eine Lehre, die
das Innere schlechthin vom Aeussem abhängig macht, das Urtheil
gesprochen. Auch das ist nebensächlich, wie viel dabei bewusst
oder unbewusst (besser vielleicht unreflectirt) wirkenden Kräften
zukomme, denn darin liegt der Kern, ob es im Geist geschehe
oder nicht Die Vorliebe für das Unbewusste hängt oft mit dem
Streben zusammen, die Sache möglich aus dem Gesichtsfelde zu
bringen, und es scheint dabei fast die Ansicht zu herrschen, dass
das, was wir nicht mehr beachten, überhaupt nicht mehr vor-
handen und daher auch für die Wissenschaft kein Problem mehr
sei. £in Problem los werden und es lösen würde darnach ziemlich
gleichbedeutend sein. Wie viel Bedenken aber überhaupt eine
solche Erklärung aus dem Dunkel, ein ix vvxTog yervär nach
dem Ausdruck des Aiistoteles , mit sich bringt, das gehört nicht
in diese Betrachtung.
V -
Entwicklung. 1 49
Doch wir scheinen etwas zu übersehen, was für die richtige
Beurtheilung dieser ganzen Erklärungsart wesentlich ist, den Um-
stand, dass dieselbe die psychischen Gebilde in kleine Factoren
zerlegt und damit für das, was als Ganzes ihr freilieh unzugäng-
lich wäre, Ansatzpunkte gewinnt. Scheint hierbei der Anfang als
ein verschwindender leicht zu erklären, so ergibt sich der Fort-
schritt durch Hinzutreten neuer Theilchen und durch allmählige
Zusammenftigung ; gewissermassen durch Addition wird schliess-
lich das Ergebniss erreicht, was nun vorliegt. Gegen diese Auf-
fassung selber aber erheben sich wiederum manche Bedenken,
nicht so sehr hinsichtlich der behaupteten Thatsache, dass in einem
langsamen Aufsteigen von kleinen Anfängen her der gegenwärtige
Zustand erreicht sei, als aus der Art, wie dies Thatsächliche
letzthin begriffen wird.
Ein Kleines oder Vereinzeltes wird zu Anfang gesetzt, — ist
damit das Problem im Grunde auch nur irgendwie verändert?
Dass überhaupt Erscheinungen wie causale Verknüpfung und
Werthurtheile auf irgend einem Punkte und in irgend welcher
Ausdehnung möglich sind, lässt uns sofort in eine neue Welt ein-
treten und führt einen wesentlichen Umschwung der ganzen Auf-
fassung herbei. Es mag ein unvermeidlicher Fehler unserer Vor-
stellung sein, ein Kleines für leichter begreiflich zu halten als
ein Grosses, soll dieser Fehler zur Grundlage einer sachlichen
Erklärung dienen? Dazu wird jeder, welcher der specifischen
Natur menschlich-geistigen Lebens eingedenk ist, stets daran fest-
halten, dass die vereinzelten Erscheinungen, wenn auch zunächst
isolirt auftretend, doch in dem Ganzen ihre Wurzel haben und
im Lauf der Gestaltung auch sich *in das Ganze auszudehnen
streben.
Und dieser Lauf der Gestaltung, — ist er wirklich so einfach
zu begreifen, dass das eine zum andern hinzutrete und dadurch
das Ganze vorwärts geschoben werde? Ist nicht, damit sich das
viele verbinde, eine synthetische Thätigkeit nothwendig, und muss
nicht diese der Geist selbst leisten, wenn anders nicht alles nur
an ihm, nichts in ihm vorgehen soll? W'er immer das geistige
150 Entwicklung.
Leben auf jeder Stufe als einen Gesammtprocess und ein Ftir-
sichsein begreift, in dem sich das einzelne gegenseitig durchdringt
und das eine Zusammenhang mit dem andern sucht, der mag
bereitwillig anerkennen, dass der ganze Process sich erst im
Leben vollziehe, aber er wird darauf dringen, dass das Mannig-
fache, damit sich jenes vollziehen könne, in eine wesentliche
Einheit hineinfallen müsse. vVird aber dieses festgehalten, so
fragt es sich doch, ob der geistige Fortschritt auch endgültig so
zu begreifen sei, wie er sich zunächst äusserlich darstellt, ob hier
nicht innere Gesetze aufzudecken und statt eines blossen lang-
samen Anwachsens eigenthümliche Wendepunkte der Bewegung
anzuerkennen seien. Von der Beantwortung aller dieser Fragen
wird es abhängen, wie man die Gestaltung und das Gesammt-
ergebniss geistigen Lebens beurtheilt. Wer Ursprünglichkeit und
Gesetzlichkeit, in dem allen festhält, der wird die allmählige
Bildung keineswegs für ein Zeichen einer geringeren Bedeutung
im Weltgeschehen erachten. Das was vorgeht mag weniger
staunenswerthes und seltsames für das naive Bewusstsein haben,
der Wissenschaft wächst es in jener Auffassung.
Dass aber bei diesen Problemen das Ziel mancher Unter-
suchungen kein anderes ist, als die Sache dem gemeinen Ver-
stände möglichst fasslich zu machen, das tritt namentlicli in
der Methode hervor, die bisweilen durch den Namen der ana-
lytischen ausgezeichnet wird. Ein Verfahren, das diesen Namen
verdient, setzt umfassende Denkarbeit voraus, denn um die Er-
scheinungen zerlegen zu können, muss man sich über leitende
Gesichtspunkte, Richtungen, ja Kategorien vergewissert haben,
und bis man dazu gelangt, muss viel durch systematische Thätig-
keit geleistet sein. Jetzt aber wird nicht selten einfach das Ganze
in die empirisch hervortretenden Theile auseinandergelegt, diese
in ihrem Nacheinander aufgezeigt, zusammengesetzt, und damit
glaubt man die Sache begriffen zu haben; das grosse Problem
der Denker und Zeiten ist fast zu einem Kunststück, einer Sache
der Geschicklichkeit und Geschwindigkeit geworden. Ob eine
solche Auflösung in einzelne Elemente wissenscliaftlich möglich
Entwicklung. - 151
sei, ob diese angeblichen Elemente wirklieh selbstständige Grund-
kräfte bilden, und ob durch ein blosses Zusammensein das Ganze
geschaffen werden könne, darüber wird leicht hinweggegangen.
Was in der Erscheinung zuerst hervortritt, gilt als treibende Kraft,
was hier sich als einzelnes gibt, als schlechthin einfach, Be-
stimmungen, die aus dem Ganzen entspringen, werden schon den
Theilen beigelegt, und da die fertige Gestalt immer das Augen-
merk richtet, so scheint alles ungemein einfach. Von causaler
Begreifung und streng wissenschaftlicher Leistung ist also überall
nicht die Rede, die Forschung hört eben an dem Punkte auf,
wo das Problem anfängt ein wissenschaftlich - philosophisches zu
werden.
Ja insofern dem geistigen Leben alle Ursprünglichkeit und
innere Gesetzlichkeit abgesprochen wird, kann von systematischer
und causalev Begreifung der Innenwelt consequenter Weise über-
haupt nicht mehr die Rede sein ; denn der Geist nimmt ja nui*
als Behältniss auf, was von aussen hineinkommt, und ist von
einem Geschehen abhängig, in dem nichts sein eigeju ist. Auf
wirkliche Einheit und durchgehenden Zusammenhang geistigen
Lebens, auf gegenseitiges Verständniss der Individuen und Zeiten,
auf ewige Wahrheiten müsste damit verzichtet werden , womit
auch die causale Bedeutung der genetischen Methode selbst ein-
fach aufgehoben wäre.
Dabei könnte, wenn nichts anderes, so doch dieses nach-
denklich machen, dass mit der Gesetzmässigkeit des Innenlebens
auch die der Erkenntnissformen zerstört und dadurch die Wissen-
schaft selber mit ihrem gesammten Inhalt als Wissenschaft ver-
nichtet wird. Denn da sie einmal in den Geist hineinfällt, so
muss sie sein Schicksal theilen. — Natürlich würden in solches
Schicksal auch die praktischen Aufgaben hineingezogen werden.
Das von aussen in. den Geist Hineingekommene dürfte eine weitere
Macht als die des psychischen Zwanges nicht beanspruchen, und
diese Macht müsste als ein erschlichenes von der auf Wahrheit
dringenden Forschung möglichst zerstört werden. Freilich würde
1 52 Etttwieklmig.
darin immittelbar ein Widerepmeh liegen, aber jedenfalls ist es
widersinnig, an Aufgaben der Yemunfi festznfaalten, nachdem die
Vemiinfi selber als wesentliches und arsprfingliches aus der Welt
entfernt ist.
Es fftUt uns freilieh nicht ein, für solche Yerirrungen ein-
zelner Philosophanten in ii^end einer Wdse die darwinsehe
Theorie und ihre Anhänger verantwortlich zu machen. Vielmehr
bildet sie bei jenen nur die Einkleidung alter Lehren, die wir
ihrem Keim nach bis zu den Sophisten zurilckYerfolgen können,
die ihren mustergültigen Ausdruck aber in dem französischen
Materialismus und Sensualismus des 18. Jahrhunderts gefunden
haben. Wer alles inneres auf äusseres, alles ursprüngliche auf
abgeleitetes, alles Ganze auf Theile und alles WerthyoUe auf
blosse Naturtriebe in scharfsinniger und lebendiger Weise zurück-
geführt sehen möchte, der wende sich zu jenen Mänuern; aber
er möge dabei nicht vergessen, dass sowohl in Frankreich selbst
die Bewegung über solche Gedanken hinausgegangen ist, als dass
der grosse geistige Aufschwung Deutschlands in geradem Gegen-
satz dazu erfolgt ist. Nicht irgend welche sonderartige Schul-
theorien, sondern das ganze Bewusstsein einer geistig kräftigen
und ursprünglich schaffenden Zeit hat sieh gegen jene Lehren
gewandt, und eben die leitenden Persönlichkeiten haben dem
(Gegensatz *den schärfsten Ausdruck verliehen.
Für uns stehen hier obenan Kant und G^>ethe. Kant hat
gegenüber jener Seheinanalyse eine Analyse, die diesen Namen
wahrhaft verdient, zur Geltung gebracht; für ihn, der nicht des-
wegen schon etwas als einfach anerkannte, weil es die erste
Empirie als solches bietet, der vielmehr alles Gegebene und die
Erfahrung selber in systematischer Forschung zerlegend prüfte,
stellte sich heraus, dass eine ursprüngliche geistige Thätigkeit
überall angenommen werden müsse, um das zu ermögliche^, was
oberflächlich angesehen als einfaches und letztes gelten mochte.'
Goethe aber hat die Nothwendigkeit einer innern und
synthetischen Thätigkeit überall vertreten, wobei er die Hemmnisse
£ntwicklaiig. 153
hervorhob, die aus jener atomistiseh • sensualistischen Richtung
selbst für den sprachlichen Ausdrack entstünden^), und die
Schwierigkeiten und Widersprüche, worin sie sich verwickle, in
seiner treffenden und anschaulichen Weise zeichnete. Wie un-
mittelbar fttr die Gegenwart bestimmt erscheinen die Worte, mit
denen er die Art jener Franzosen schildeit (s. Briefwechsel mit
Schiller IV, 127): „Sie begreifen gar nicht, dass etwas im
Menschen sey, wenn es nicht von aussen in ihn hineingekommen
ist. So versicherte mir Meunier neulich: das Ideal sev etwas
aus verschiedenen schönen Theilen Zusammengesetztes. Da ich
nun denn fragte: woher denn der Begriff von den schönen
Theilen käme? und wie denn der Mensch dazu käme ein schönes
Ganze zu fordern? und ob nicht für die Operation des Genie's,
indem es sich der Erfahrungselemente bedient, der Ausdruck zu-
sammensetzen zu niedrig sey? so hatte er für alle diese Fragen
Antworten aus seiner Sprache, indem er versicherte, dass man
dem Genie schon lange une sorte de cr^ation zugeschrieben
habe. — Und so sind alle ihre Discurse; sie gehen immer ganz
entscheidend von einem Verstandesbegriff aus und wenn man
die Frage in eine höhere Region spielt, so zeigen sie, dass
sie für dieses Verhältniss auch allenfalls ein Wort haben, ohne
sich zu bekümmern ob es ihrer ersten Assertion widerspreche
oder nicht."
Es ist ein deutliches Zeichen, wie wenig tief die Gedanken
solcher Männer in das geistige Leben eingedrungen sind, wenn
das, was sie nicht so sehr bekämpften als weit xmter sich
liegend glaubten, nun wieder anspruchsvoll hervortritt und statt
sofort allgemeine Zurückweisung zu finden, von nicht wenigen
als ein neues und grosses gepriesen wird. - Das oft Widerlegte
*) 50 y 244 : Wir glauben hier im Einzelnen , so wie im Ganzen , die
Nachwirkung jener Epoche, zu sehen, wo die Nation dem SensnaliBmus
hingegeben war, gewohnt sich materieller, mechanischer, atomistischer Aus-
drücke zu bedienen; da denn der forterbende Sprachgebrauch zwar im
gemeinen Dialog hinreicht, sobald aber die Unterhaltung sich in's Geistige
erhebt, den höheren Ansichten vorzüglicher Männer offenbar widerstrebt.
154 Entwicklung.
aber immer wieder zu bekämpfen, thut vor allem Noth im
Interesse der Idee der Entwicklung selber. Wenn die strengere
wissenschaftliche Fassung bei ihr aufgegeben wird, und wenn enge
Formen gewaltsam überall die Herrschaft an sich reissen, so wird
sie nicht nur in ihrem segensreichen £influss auf die gesammte
wissenschaftliche Forschung gehemmt, sondein auch innerlich aufs
schwerste erschüttert. So erscheint es als Aufgabe aller derer,
die sich auf den Boden der neuern Wissenschaft stellen, gegen
die Gefährdung jenes Grundbegriffes aufzutreten.
Causale Grundbegriffe.
^ Nihil veritati praejudicare, sed
hoc obtinere quod ipsins rei in-
ducit natura.
Cod. Justin.
So sehr die causale Verknüpfung ein ursprüngliches und
durchgehendes Handeln des Greistes bekundet, so hat doch die
wissenschaftliche Ergründung der Welt zu verschiedenen Zeiten
eine sehr verschiedene Richtung gehabt, und sind ferner die
hierhergehörenden Begriffe erst nach und nach zu einer festen
Ausprägung gekommen.*) Obwohl beides durch den Lauf der
Zeiten eingehend zu verfolgen, eine wichtige und anziehende Auf-
gabe wäre, so dürfen wir hier natürlich auf die geschichtliche
*) Von den causalen Begriffdwörtern ist am ältesten dg^rj (principium,
Quelle bei Wolff), indem sich dasselbe schon in dem ersten philosophischen
Werke unserer Culturwelt, der Schrift des Anaximander tisqI ^qtv^eiog, fand,
ahia tritt uns, nachdem es von Pindar u. a. verwandt war, in streng
wissenschaftlicher Fassung zuerst bei Plato entgegen. Aristoteles schied
dann bekanntlich die vier Arten der Ursache, während die Stoiker zuerst
einen Terminus für Wirkung und Folge aufstellten (dxokovd^ia, InaxoXovd^ti-
aig) und den Ausdruck ahmdrjg schufen, den die Lateiner, und zwar in
diesem specifischen Sinne namentlich Augustin, mit causalis übersetzten.
Causalitas findet sich erst auf dem Höhepunkt der Scholastik, z. B. bei
Thomas von Aquino. Grund und Ursache, die schon bei Eckhart neben-
einander vorkommen, werden zuerst von Wolff dahin unterschieden (s. z. B.
deutsche Metaphysik I, § 29, II, § 13), dass Grund ratio, Ursache causa
ausdrücken soll.
156 Mechanisch — Organisch.
Bewegung nur insofern hinweisen als dieselbe für das Verständ-
niss der gegenwärtigen Lage nothwendig ist. Demgemäss werden
wir uns damit begnügen, den BegriflFen des Mechanischen und
Organischen, sowie der Teleologie in ihren Gescliicken einiger-
massen naclizugehen.
Mechaniscli — Organisch. .
Der Ausdruck fi7i%avix6g (klug, erfindungsreich, listig), der
z. B. bei Xenophon vorkommt, tritt bei Aristoteles wie ein festes
Kunstwort auf, die Mechanik ist eine abgegrenzte Disciplin, deren
Aufgabe in der unter seinem Namen gehenden Schrift Jiäher er-
örtert wird.*) Das Wort ward von den spätem Lateinern auf-
genommen und erhielt sich das Mittelalter hindurch, in unserer
Sprache finde ich es zuerst bei Paracelsus verwandt
Eine Erweiterung der Bedeutung nach der philosophischen
Seite hiü hat erst Baco unternommen, indem er die Bewegung,
welche bis dahin als gewaltsame (motus violentus) bezeichnet
war, eine mechanische nannte. Cartesius aber bediente sich zur
Kennzeichnung seiner Naturbegreifung gern der Analogie der
Mechanik, verwendet aber den Ausdruck mechanisch im weitem
Sinne nur an vereinzelten Stellen.**) In den allgemeinen Ge-
brauch ist derselbe namentlich durch Boyle gekommen, der eine
besondere Vorliebe für ihn hatte und ihn gern an die Spitze
seiner Werke stellte.
Das Wort organisch stammt von Aristoteles und bedeutet bei
ihm zunächst nichts anderes als werkzeuglich. Es wird dabei
namentlich an eine Verbindung verschiedenartiger Theile zu einer
Grcsammtleistung gedacht, und wenn von einem organischen Körper
*) Diese Schrift ist freilich wohl nicht acht, aber der Sprachgebrauch
ist dnrch Stellen aus unbezwei feiten Schriften hinreichend bezeugt.
♦*) Z. B. epist. 1, 67 wird das mechanicnm et corporeura dem Incor-
porenm entgegengestellt.
Mechanisch -— Organisch. 157
gesproclien wird, so ist damit so wenig ein inneres Lebensprincip
bezeichnet, «dass eine neue Bestimmung hinzugefügt werden muss,
um dies auszudrücken. *) Von einem Gegensatz des Mechanischen
und Organischen kann daher keine Bede sein. Dieser aristotelische
Sprachgebrauch erhielt sich im wesentlichen unverändert durch
Alterthum und Mittelalter.**) Auch bei Cartesius stehen sich
organicus und Instrumentalis einfach gleich, erst bei Leibnitz tritt
organisch und Organismus dgenthümlicher hervor, aber nicht um
das dem Lebendigen wesentliche „innere Principe, sondern um
die ihm zukommende bis in's Unendliche gehende Gliederung zu
bezeichnen. Das Organische wird von dem Begriff des Mecha-
nischen umfasst, der Organismus ist eine natürliche Maschine,
die sich nur quantitativ von den künstlichen unterscheidet. Bei
solcher Bestimmung blieb das 18. Jahrhundert zunächst stehen,
durchgehend finden wir organische (natürliche) und Kunstmaschinen
nebengeordnet, und noch unmittelbar vor der durch Kant eintreten-
den Umwälzung steht Tetens zu dem leibnitzischen Gedanken,
indem er sagt (Philos. Versuche über die menschl. Natur flf. II,
475): „Die Organisation ist ein unendlich zusammengesetzter
Mechanismus. Allein dieser Unterschied , so unendlich gross er
ist, kann doch als ein Unterschied von Grösse und Vielheit be-
trachtet werden."
Auch in den früheren Schriften Kant's ist dieser Standpunkt
noch nicht verlassen, und es darf nicht vergessen werden, dass
ehe er die entscheidende Umgestaltung herbeiführte, auch von
anderer Seite das Eigenartige des Organischen hervorgehoben war.
So sagte z. B. Jacobi (Hume 172): „Um die Möglichkeit eines
*) In der bekannten Definition der Seele, als ipteUxBia r, nquitri cia-
iU«7oc (fvaixov oQyccvixov wird das innere Leben durch das (pvoixor bezeichnet.
**) Innerhalb der Scholastik pflegten organische Theile (partes or-
ganicae) definirt zu werden als partes compositae heterogeneae, Suarez sagt
de anima I, 2, 6 : dicitnr corpus organicum, quod ex partibus dissimilaribns
componitur. Organische Thätigkeiten sind solche, welche an bestimmte
Organe geknüpft sind.
158 Mechanisch — Organisch.
organischen Wesens zu denken, wird es nothwendig sein, dasjenige
was seine Einheit ausmacht zuerst: das Ganze vor den Theilen
zu denken." Aber freilich blieb es Kant vorbehalten, den Gegen-
satz in seiner ganzen Schärfe heiTorzukehren und das bis dahin
graduell unterschiedene specifisch gegen einander abzusondern, da
nun beim Organismus die gegenseitige Zusammengehörigkeit der
Theile und damit die Selbstständigkeit und Innerlichkeit des
Ganzen hervortrat.*) Durch die constructiven Philosophen, vor
allem durch Schelling, ist dem also bestimmten Terminus die
weiteste Verwendung gegeben, und es gelangte von hier der Gegen-
satz des Organischen und Mechanischen in den allgemeinen Sprach-
gebrauch**), durch welchen namentlich der Ausdruck organisch
bei uns bis zu einer den Inhalt fast verflüchtigenden Ausbreitung
gekommen ist.
Es haben also die anfangs sich ganz nahe stehenden Aus-
drücke im Lauf der Geschichte sich immer weiter von einander
entfernt, bis sie endlich nach der Umwandlung des graduellen
Unterschiedes in einen specifischen als Losungsworte eines wesent-
lichen und uralten begrifflichen Gegensatzes gelten durften. Denn
von dem Kampf dessen, was wir jetzt mechanische und organische
Weltansicht nennen, weiss schon die alte Philosophie viel zu be-
richten, und was die letzten Jahrhunderte hier neues gebracht
haben, liegt nur in einer specifischen Fassung und ihrer exacten
Durchführung. Da aber eben dadurch die Begriflfe eine Bedeutung
für die wissenschaftliche Arbeit erhalten, so werden wir uns für
unsem Zweck mit der Betrachtung der neuem Gestaltungen be-
gnügen dürfen.
Wenn Cartesius seine Begreifung der lebendigen Formen und
der Naturvorgänge überhaupt in eine Analogie mit der mecha-
nischen Kunstfertigkeit stellt, so sollte damit an erster Stelle aus-
*) V, 388: Ein organisirtes Prodnct der Natur ist das, in welchem
alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist.
♦♦) Unter den neuern Philosophen hat namentlich Trendelenburg einen
entscheidenden Gegensatz philosophischer Weltbegreifung durch jene Aus-
drücke bezeichnet, s. logische Untersuchungen (3. Aufl.) II, 142 ff.
Mechanisch — Organisch. 159
gedrückt sein, dass alle Mannigfaltigkeit der Natur aus der
Zusammensetzung gleichartiger bewegter Stoflftheilchen erklärt
werden könne. Der Unterschied der lebendigen Bildungen be-
stand nur in der unvergleichlich grössern Feinheit der Theile
und Verwicklung der Zusammensetzung, so dass das menschliche
und natürliche Formen in eine einzige Keihe fällt und der
Mensch von sich aus das Wirken der Natur verstehen kann.*)
Eine solche Lehre war vor altem gegen eine Erklärung aus
innem Kräften und realen Qualitäten gerichtet, wie sie im Mittel-
alter im Anschluss an Aristoteles üblich war. Darnach erschien
die Natur als „inneres Princip der Bewegung", das Lebendige
bestimmte die Gesammtauffassung der Welt, alle Bildung ent-
stammte einer geheimnissvollen und unfassbaren Tiefe. Die Natur
verliert nun diese Innerlichkeit und das in unmittelbarer Auf-
fassung wie künstlerischer Anschauung als Eins Ergriffene löst
sich dem schärfer eindringenden Blick in ein vieles auf, aber
erst durch eine solche Entseelung und Zerlegung wird eine streng-
wissenschaftliche Begreifung möglich und erhält zugleich der
Mensch Ansatzpunkte und Hebel, um das natürliche Geschehen
zu beherrschen und nach seinen Zwecken zu lenken.
Diese mechanische Naturbegreifung unterscheidet sich von
*) Um nur eine der hiehergehörigen Stellen anzuführen, s. z. B. princ.
phil. lY; 203: nuUum aliud inter ipsa (sc. arte facta) et corpora natnralia
discrimen agnosco, nisi quod arte factorum operationes ut plurimum per-
aguntur instrumentis adeo magnis, ut sensu facile percipi possint : hoc enim
requiritur, ut ab hominibus fabricari queant. Contra autem naturales effec-
tus fere semper dependent ab aliquibus organis adeo minutis, ut omnem
sensum effagiant. Et sane nnllae sunt in mechanica rationes, quae non
etiam ad physicam, cujus pars vel species est, pertineant: nee minus na-
turale est horologio, ex his vel Ulis rotis composito, ut horas indicet, quam
arbori ex hoc vel illo semine ortae, ut tales fructus producat. Quamobrem
ut ii qui in considerandis automatis sunt exercitati, cum alicujus machinae
usum sciunt et nonnullas ejus partes aspiciunt, facile ex istis, quo modo
aliae quas non vident sint factae, conjiciunt; ita ex sensilibus effectibus
et partibus corporum naturalium, quales sint eorum caussae et particulae
insensibiles, investigare conatus sum.
160 Mechanisch — Organisch.
dem Systeme Demokrits sowohl dadurch, dasssie deu in Beti-aeht
kommenden Faetoren nur eine relative Gültigkeit beilegt als da-
durch, dass sie die leitenden Gredanken zu einer alles Einzelne um-
fassenden exacten Durchführung bringt.*) Durch jenes weist sie
von Anfang an auf eine Ergänzung hin und bekundet sich mehr
als eine Art, die Naturerscheinungen in einfachster Weise zu
erklären, denn als eine Theorie ron der letzten Beschaffenheit
der Welt, durch dieses gewinnt sie eine unmittelbare Bedeutung
für die Arbeit der Wissenschaft,' von der sie denn auch raseh
aufgenommen und überallhin getragen, wurde. Für die äussere
Ausbreitung war namentlich Boyle thätig, der in der Zuspitzung
der mechanischen Theorie so weit ging, dass er selbst den Aus-
druck Natur verbannt und durch „kosmischer Mechanismus^
ersetzt wissen wollte**), die innere Befestigung des Begriffes
förderte vor allen Newton durch die stärkere Hervorkehrung des
Mathematischen. Auch an Gegnern fehlte es nicht, aber dieselben
vermochten den Zug der Wissenschaft nicht aufzuhalten.***)
*) Die wichtigste Stelle dafür findet sich princ. philos, IV, § 202:
(Democriti philosophandi ratio) rejecta est, primo quia illa corpuscnla in-
divlsibilia supponebat, quo noxqine etiam ego illam rejicio, deinde qnia
vacaum circa ipsa esse fingebat, qnod ego nullam dari posse demonstro;
tertio qnia gravitatem iisdem trihnebat, qnam ego nullam in nllo cor-
pomm cum solum spectatnr, sed tantnm quatenus ab aliomm corpomm
situ et motu dependet, atque ad illa refertur, intelligo; ac denique quia
non ostendebat, quo pacto res singulae ex solo corpusculorum concarsn
orirentur, vel si de aliquibus id ostenderet, non omnes ejus rationes inter
se cphaerebant, s^iltem quatemus judicare licet ex iis, quae de ipsius opi-
nionibus memoriae proditum est
**) Boyle schrieb eine nicht uninteressante Abhandlung: the excellesce
and grounds of the mechanical philosophy. Femer gibt es von Wolff eine
epistola gratulatoria in qua vera philosophiae mechanicae notio explicatoi';
deren Inhalt aber recht dürftig ist.
**^) Obenan steht hier Cudworth mit seiner Annahme einer plastischen
Natur, s. nam. the true intellectual System of the universe (1678) I, 3, 19.
In Deutschland trat u. a. Rüdiger für die Eigenthümlichkeit des Lebendigen
ein, 8. z. B. iDstitutiones eruditionis seu philosophia synthetica pg. 109:
physica vel me^hanica est vel vitalis.
Mechanisch — Organifich. 161
Von einem unmittelbaren Gegensatz der mechanisehen Er-
klärung zur teleologiscben ist zuerst gar keine Bede, denn der
Mechanismus bildet ursprtlnglicli nur die Form, nieht den Grund
des Geschehens*), Boyle hält sogar bei einer strengen Durch-
führung desselben eine nach Zwecken wirkende Ursache für
unumgänglich nothwendig **) ; erst bei Spinoza findet sich das
Mechanische in einem graden Gegensatz zum Uebematürlichen***),
so dass nun dasselbe nicht nur eine Form dps Geschehens aus-
drtlckt, sondern zugleich das Hineinfallen des Gruliides in eben
dies Geschehen anzeigt. Da bei ihm femer die mechanische Er-
klärung, wenn auch nicht dem Namen, so doch der Sache nach
auch auf das geistige Gebiet übertragen wird, so kann man sagen,
dass hier zuerst jene Sichtung eine absolute und universale Be-
deutung bekommt, f)
Gleichzeitig drang sie auch in der Arbeit der Wissenschaft
weiter vor. Schon bei Cartesius findet sich der Beginn einer
mechanischen Erklärung in der Psychologie, indem den Einzel-
vorgängen eine gewisse Selbstständigkeit und Festigkeit der Ver-
bindung zugeschrieben wird ff), und weim Spinoza und Leibnitz
in der Auffassung und Werthschätzung des Seelischen weit aus-
einander gehen mögen, schon der eine Umstand, dass sie beide
die Seele als einen VorstQllungsmechanismus betrachten und als
*) Mit Becht sagt Berkeley II, 457: the mechanical philosopher in-
qnires properly conceming the mle and modes of Operation alone, and
not conceming the cause.
**) S. namentlich an inqniry into the final causes of natural things;
erst nach und nach bildet sich der Grebrauch, den Finalursachen, denen
von Alters her die Wirkursachen (causae efficientes) entsprachen, das
Mechanische gegenzuordnen. Bei Leibnitz sind derartige Stellen noch ganz
vereinzelt (s. z. B. Foucher II, 356), wahrend bei Kant allerdings von
Anfang bis zu Ende Teleologie und Mechanismus einander entgegenstehen.
***) S. Eth. I, appehd. : mechanica — divina vel supernaturalis ars.
t) Nur das unterscheidet Spinoza von der später landläufigen mecha-
nischen Philosophie, dass er das ganze Geschehen mit der einen Substanz
umschliesst und also für Einheit und Zusammenhang Sorge trägt.
tt) S. z. B. de passionibus XLV.
Eucken, Geschichte und Kritik. \\
i
162 Mechanisch — Organisch.
automaton spirituale bezeichnen, bekundet die nahe Verwandt-
schaft beider. Spinoza hat dann freilich den Grundgedanken
ausgeprägter und einseitiger geltend gemacht, indem er das ganze
Seelenleben in einzelne Factoren auflöst, sie alle auf intellectuelle
Processe zurückführt und endlidi für die Cresammterklärung das
Trägheitsgesetz massgebend sein lässt.
Ueberall gewann die Analogie der mechanischen Natur-
erklärung um so leichtem Eingang- und grossem Einfluss, als
diese selbst 4o& einem allgemeinen Drange der neuen Wissenschaft
hervorgegangen war und daher überall das Feld schon bereitet
fand. Dies gilt namentlich von der Auffassung des menschlichen
Gesammtlebens, wo schon in der Uebergangszeit mannigfach die
Gesellschaftssysteme aus dem Zusammensein der Individuen, als
ursprünglicher und dem Wesen nach unveränderlicher Kraft», ab-
geleitet waren. Doch gewann nun jener Grundgedanke gesteigerte
Bedeutung und eingreifende Macht. Hier stehen die Engländer
voran. Locke streut die Gedanken aus, die von den andern er-
griffen und systematisch verwerthet werden. U.eberall soll das
Geschehen ausschliesslich aus dem in die Erscheinung hinein-
fallenden Wirken von Einzelkräften verstanden werden, alle innem
Zusammenhänge und dunklen Beziehungen schwinden, jegliche
Einheit ergibt sich von der Vielheit aus und erhält sich durch
sie. .Nach manchen Seiten wurden die Consequenzen dieser Lehre
entwickelt, ihre grossartigste Durchführung und concreteste Ver-
wendung bietet aber ohne Frage das System von A. Smith, wo-
durch sie recht eigentlich zu einer Weltmacht geworden ist.*)
Ueberall gewährte diese Erklärungsart eine Steigerung der
causalen Einsicht, das scheinbar als Ganzes Vorliegende löste sich
in einzelne und zwar uns vollbekannte Kräfte auf und ward,
indem es von ihnen aus begriffen wurde, in die Entwicklung hin-
eingezogen. Dazu gewann der Mensch eine weit grössere Macht
*) Der Gebrauch des Ausdruckes „mechanisch'' über das Grebiet der
Natur hinaus war übrigens jenen Zeiten fremd, jedenfalls war man sich bei
einer Erweiterung des Bildlichen bewnsst
Mechanisch — OrganiBch. 163
über die Verhältnisse, indem er an den einzelnen Punkten seine
Kraft einsetzen konnte. Aber trotz allen diesen Yortheilen konnte
es tief erblickenden Denkern nicht entgehen, wie yiel neue Pro-
bleme diese Lösung mit sich brachte und wie sehr dieselbe einer
Ergänzung von anderer Seite bedurfte.
Der erste Versuch, die mechanische Theorie, unter voller
Anerkennung ihrei^ ausschliessenden Greltung innerhalb eines be-
stimmten Gebietes, einem weitem Zusammenhange einzufügen, ist
von Leibnitz gemacht. Innerhalb der Natur soll der Mechanismus
in unbestrittener, auch die Formen des Lebendigen umfassender
Herrschaft bleiben, aber einmal verlangen die Principien des
Mechanismus selbst wieder Erklärung, welche nur von einer
metaphysischen Weltauffassung geleistet werden kann*); sodann
aber schien alle Zusammensetzung ein Einfaches, alle Beziehungen
ein Fürsichsein vorauszusetzen, so dass es nöthig wurde, überall
in der Welt Leben und damit ein immanentes Princip anzunehmen.
Dem Mechanischen steht also nicht als eine andere Form des
Naturgeschehens das Organische, sondern die über diesem liegende
Innenwelt entgegen, und nur insofern das Organische mit dieser
wesentlich und unzertrennlich verbunden ist, darf es einen Vorzug
in Anspruch nehmen. Wenn dadurch freilieh natürliches und
künstliches Gebilde eine ganz andere Art von Einheit erhielten
und der von Kant aufgedeckte Gegensatz schon ganz nahe lag**),
so fällt doch die Welt nicht in zwei Hälften auseinander, da nach
der leibnitzischen Lehre alles Sein beseelt und der gesammte Sto£P
bis in's Unendliche organisirt ist Das Mechanische stellt sich
*) S. 161: omnia in corporibns fieri mechanice, ipsa vero principia
mechaBiBmi ^eneralia ex altiore fönte proflnere, 155 a, Foncher II, 253.
**) Am bezeichnendsten ist hierfür die von Jacobi (Hnme 115) ange-
führte Stelle ans einem Briefe an Romond : l'nnit^ d'nne horloge dont vons
faites mention est tont antre chez moi qne celle d'nn animal: celni-ci pqn-
vant §tre nne snbstance doa6e d*nne vöritabie nnit^, comme ce qn*on
appelle Moi en nons, au lien qn* nne horloge n'est antre chose qn*nn assem-
blage. (Die Uhr ist das stehende Bild bei den Untersuchungen über die
Principien der mechanischen Erklärung).
11*
164 Mechanisch — OrganiBch.
letzthin überall als ein organisches heraus, so dass es sich bei
diesem Unterschiede nicht sowohl um getrennte Glebiete, als um
Stufen der Auffassung der Natur handelt
Inhalt und Stellung der Begriffe erhielt dann eine weitere
Umgestaltung durch Kant. Der Begriff mechanischer Verursachung
ward auf alle Vorgänge, welche in die Zeit hineinfallen und unter
dem Gesetze der Causalität stehen, ausgedehnt, so dass das
Psychische mit eingeschlossen und die ganze Erscheinungswelt an
jenes Gesetz gebunden wird.^) Aber mit dieser Ausdehnung ist
natürlich zugleich die Beschränkung gegeben, dass der Mechanis-
mus nicht auf die Dinge an sich übertragen werden darf, so dass
freier Platz für die transscendentale Freiheit bleibt. Diese äussere
Erweiterung des Begriffes ist in der Philosophie wie im allgemeinen
Leben durchgedrungen, und es gilt darnach als entscheidendes
Merkmal des Mechanischen die strenge Abhängigkeit der einzelnen
Erscheinungen von einander.**) Die Schranke, welche Kant einem
solchen Begriffe setzte, wird dabei oft aufgegeben, und auch durch
die Vermengung dieser weitem Fassung mit der engem physi-
kalischen erwachsen zahlreiche Missverständnisse.
Die specifische Bestimmung, welche der Begriff des Organischen
bei Kant erhielt, ward den constructiven Philosophen Veranlassung,
demselben die weiteste Verwendung zu geben. Nach dem Vor-
*) S. y, 101: „Eben am des willen kann man anch alle Noth wendig-
keit der Begebenheiten in der Zeit nach dem Naturgesetze der Causalität
den Mechanismus der Natur nennen, ob man gleich darunter nicht versteht,
dass Dinge, die ihm unterworfen sind, wirklich materielle Maschinen sein
müssten. Hier wird nnr anf die Noth wendigkeit der Verknüpfung der Be-
gebenheiten in einer Zeitreihe, so wie sie sich nach dem Naturgesetze ent-
wickelt, gesehen, man mag nun das Snbject, in welchem dieser Ablauf
geschieht, Automaton materiale, da das Maschinenwesen durch Materie, oder
mit Leibnitz spirituale, da es durch Vorstellungen betrieben wird, nennen'' ff.
^ ♦*) Für die weitere philosophische Verwendung auf dem Gebiet des
Innenlebens ist vor allen Herbart wichtig, ihm wird es Aufgabe (III, 255) :
„Den Organismus der Vernnnft aufzulösen in seine einfachen Fibern, die
Vorstellungsreihen, deren Entstehung nur aus der Mechanik des Geistes
konnte erklärt werden."
Mechanisch — Organisch. 165
gange Fichte's knüpfte namentlich Schelling alle tiefere Begreifung
an den Gedanken des Organischen, als des „unmittelbaren Ab-
bildes der absoluten Substanz^, und trat überall für die Ursprüng-
lichkeit und Ueberlegenheit des Organischen ein. Nicht nur für
die Natur entschied dasselbe über die Gesammtbegreifung, sondern
auch das geistige Leben ward ron hier aus zu verstehen gesucht.
Eine „organische^"'') Bechts-, Staats- und Geschichtsauffassung
ward hingestellt und konnte nicht genug gegenüber einer
mechanischen, als welche aus blos äusserer Zusammensetzung
erkläre, erhoben werden. Was man positiv wollte, ward mehr
dunkel empfunden und gelegentlich ausgeführt, als begrifflich
von vom herein festgestellt; vor allem war man geneigt, für die
Selbstständigkeit des Ganzen und die Innerlichkeit des Geschehens,
femer beim Staatssystem für die Eigenartigkeit der einzelnen
Glieder, in der geschichtlichen Gestaltung aber für eine allmählige
und gesetzliche Entwicklung nach Art des natürlichen. Wachs-
thums einzutreten. Dabei war freilich mehr der Name und
die bewusste Hervorkehrung des Gegensatzes neu als die Sache,
ja man könnte sogar sagen, dass streng genommen die Gesammt-
auffassung nur eine Bückkehr zu frühem Lebensformen bekundet,
denen die specifische Eigenthümlichkeit der Neuzeit geradezu
widerspricht.
Alle griechischen Philosophen der idealistischen Sichtung
sind darin einig, wie das Weltall, so zunächst den Staat, dann
aber die menschliche Gesellschaft nach Art eines organischen
Wesens vorzustellen, und es werden namentlich im spätem Alter-
thum aus dieser Vorstellung ganz ähnliche Folgerungen gezogen
wie bei den neuem Denkem.**) Auch im Christenthum ist,
namentlich in den ersten Jahrhunderten, die Auffassung der
Einzelnen als Glieder eines Organismus, den hier natürlich die
Kirche bildet, oft und kräftig geltend gemacht; in der Neuzeit
*) Yergl. für die organische Staatstheorie z. B. Schelling Vl^ 575 ff.
**) S. z. B. Mark Aurel 7, 13: fjiiko^ sifil xov ix r^v Xoyixdy avatfi-
fjiaros xtX.
|g5 Mecliaiiiseh — OrgaDiaeh.
dagegen hat das Individanm, als intelligibler Träger der Vemanft
and Keim nnendlichen Lebens, eine so überragende Bedentong^
daes es keiner Gresammtgestsdtnng der Erseheinongswelt unter-
geordnet werden kann. Das Individanm bringt alles ans sieb
faerror und bewahrt seinen Sehöpfnngen g^enüber stets die
Ueberlegenheit.
So sehr daher in dem Bilde des Organischen eine allgemeine
Wahrheit unbestreitbar anzuerkennen ist, nämlieh die Ablehnung
einer blossen Zusammensetzung aus Elementen, die gegen die
Verbindung innerlieh gleichgültig sind, so ist das Specifische,
wenn es überhaupt klar entwickelt ist, als ein antikisirender
Bückschritt aufs entschiedenste abzulehnen.^) Auch die Auf-
fassung des geschichtlichen Lebens als eines ruhigen Heryoi^ehens
und mühelosen Sichentfaltens wird, so sehr auch hier eine
berechtigte Opposition anzuerkennen ist, dem positiven Grehalt
nach nicht mehr aufrecht erhalten werden können. Jene Auf-
fassung mag der unmittelbaren Empfindung sich empfehlen, die
eingehende Forschung zeigt überall eine mannigfache Complication,
ein Hervortreten des Einzelnen und begrifflich Zufalligen, harte
Kämpfe im Auf- und Abwogen.
Dazu ist der von Anfang an unklare Ausdruck durch die
immer weitere Ausdehnung**) so unbestimmt geworden, dass er
sehr leicht ein Versteck unklaren Denkens wird und auf keinen
Fall dem sieh Mittheilenden die Gewissheit gibt, entsprechend
verstanden zu werden. Und da die ganze Verwendung des
Bildes nur unter der Voraussetzung Sinn hat, dass das Organische
uns als das ursprüngliche und leichter verständliche gilt, diese
*) Auch von juristischer Seite hat es an Opposition gegen die or-
ganische Staatstheorie nicht gefehlt, s. nam. van Krieken: „Ueber die sog.
organische Staatstheorie*", doch sind solche Stimmen noch in der Minderheit.
♦*) In eigen thUmii eher Vermengung ward jede Theorie , die -sich eine
organische nannte, von vom herein höher gestellt, als wirl^te die höhere
Schätzung des Organischen in der Natur hier ein. Es käme doch zuerst
darauf an, ob die Analogie des Organischen zutrifft, und sodann, ob die
darauf gestützte Theorie wirklich mehr leistet.
MechaniBch — Organisch. 167
Yoraussetzung aber jetzt keineswegs zutrifft, so erscheint es als
wttnschenswerth , den Terminus wieder streng auf das specifisohe
Gebiet des Naturgeschehens einzuengen. Hier fasst er wenigstens
bestimmte Gruppen von Erscheinungen zusammen und leistet
dadurch der Forschung rorbereitende Dienste, während bei der
weitem Verwendung eben das Dunkle und Problematische zur
Aufhellung dienen sollte.
Aber auch auf naturwissenschaftlichem Gebiet trat rasch der
Bflckschlag gegen die Ueberspannung des Organischen ein. Mehr
und mehr fand durch die Fortschritte der Wissenschaft die Lehre
exaete Bestätigung , dass die allgemeinen Gesetze der Natur auch
die Formen des Lebendigen beherrschen, und dass daher zu einer
Aussonderung specifisch organischer Kräfte keineswegs Veran-
lassung sei. Die Eigenthümlichkeit der lebendigen Gestalt als
eines ungemein verwickelten Systems und die Besonderheit
mancher Erscheinungen auf diesem Grebiet brauchte deswegen
nicht herabgesetzt zu werden, wenn nur Anerkennung fand, dass
alles scheinbar Specifische in die allgemeinen Normen hineinfalle
und sich als ein mittelst Verwendung durchgehender Kräfte be-
wirktes erweise.*) Wenn aber das Organische nicht als ein
Isolirtes, sondern nur als ein Theil des allgemeinen Geschehens
gelten darf, so kann es nicht als ein fertig Abgeschlossenes An-
erkennung verlangen, sondern wird selber zum schwersten der
Probleme.
So sehr jedoch dem Mechanismus innerhalb seines Gebietes
die volle Herrschaft zuzuerkennen ist, so nothwendig wird es,
sich den Umfang und Inhalt dieses Gebietes klar im Bewusstsein
zu halten. Zunächst fragt es sich, ob der Mechanismus wie in
der ursprünglichen Bedeutung nur eine Form des Geschehens aus-
drücken oder ob er auch den Grund einschliessen soll. In jenem
Sinne ist er eine exaete innerhalb der Naturwissenschaft zu
*) Mit Recht bestimmte K. £. von Baer die Aufgabe dahin „die bil-
denden Kräfte des thierischen Körpers anf die allgemeinen Kräfte, oder
Lebensrichtungen des Weltganzen zurückzuführen.'*
16g Mechanisch — Organisch.
verificirende Theorie, in diesem dagegen enthält er ein Urtheil
über das letzte Weltgeschehen, dort vermag er sieh einem weiter-
reichenden philosophischen Systeme einzufügen, hier muss er
eine ausschliessliche Herrschaft beanspruchen. — Dann aber fragt
es sich , ob die mechanische Theorie sich auf .die Natur be-
schränken oder die Greisteswelt mit umfassen will, in welchem
Fall der Begriff natürlich so erweitert werden muss, dass die
physikalische Verwendung nur als Specialfall gelten kann. Für
die NaturforschuHg dürfte es sich empfehlen, an der engen
Fassung des 17. Jahrhunderts festzuhalten*), da sonst das Ein-
dringen fremdartiger Merkmale nicht abgewehrt werden kann,
jede Laxheit aber mit der Methode den Inhalt der gesammten
Wissenschaft beeinträchtigen muss.
Indem für die Philosophie die Frage eine allgemeinere wird,
tritt dieselbe zugleich in eine andere Art der Behandlung ein und
treibt nothwendig zu einer Ergänzung hin. Vor allem stellt sich
hier der Mechanismus dar als eine uns eigenthümliohe Art, die
Welt zu begreifen, eine Begreifung, die an manche Voraus-
setzungen geknüpft ist. Er erweist sich als die Macht, welche
ein System von Beziehungen beherrscht, aber das den Beziehungen
zu Grunde liegende und die Verbindung des Vielen zu dem System
vermag er nicht nur nicht zu umfassen, sondern er muss, aus-
sohliessend hingestellt, geradezu die Möglichkeit dieser Voraussetzun-
gen zerstören. Wie hier der Weltgedanke selber ihm eine un-
übersteigliche Schranke setzt, so zeigt er innerhalb der Welt sein
Unvermögen, alles zu erklären, gegenüber der Thatsache des
Lebens und Fürsichseins. Wer wollte auch hier der mechanischen
Erklärung (im philosophischen Sinne) ihre Bedeutung absprechen,
aber je genauer wir prüfen, desto mehr stellt sich heraus, dass
"') Selbstverständlich hat durch die Weiterbildung der Lehren von
Stoff, Kraft, Bewegung u. s. w. anch die physikaüsch - mechanische
Theorie eine Weiterbildung erfahren, aber hier handelt es sich nm feinere
Differenzen, die bei der gewöhnlichen Behandlung des Problems ausser
Acht bleiben.
Teleologie. 169
sie überall einen Grund Toraussetzt, den sie nicht zu begreifen
yermag. Die Form des Lebendigen mag daher mehr und mehr
mechanisch verstanden werden, für die mechanische Erklärung
des Lebens selber ist damit nicht das mindeste gewonnen.*)
Teleologie.
Den alten und seit Socrates in der Philosophie oft ver-
wandten Begriff des Zweckes hat bekanntlich zuerst Aristoteles
selbstständig behandelt und unter die vier Ursachen eingereiht,
bei den Lateinern hat seit Cicero finis auch die technische Be-
deutung angenommen, während mir causa finalis erst bei Abälard
vorliegt und das Wort Teleologie erst von Wolff geschaffen ist.**)
Die deutsche Sprache zeigt in der Verwendung der Ausdrücke
eine merkwürdige Bewegung. Notker, nach seiner Art das Fremde
möglichst genau nachbildend, übersetzt finis mit „ende^. Eckhart
hat „ende", „zil" und „warumbe", „Ende" und „Ziel" herrschen
auch bei den Philosophen des 16. Jahrhunderts vor. Daneben
haben Luther, Böhme u. a. „Fürsatz", „Zweck", das ich in philo-
sophischer Verwendung zuerst bei Böhme aufweisen kann, drängt
im 17. Jahrhundert rasch die andern Ausdrücke zurück, so dass
z. B. Clauberg finis allein mit „Zweck" übersetzt und auch
Leibnitz in seinen deutschen Schriften durchgehend „Zweck" und
, Endzweck" verwendet, ohne beides bestimmt zu scheiden. Seit
"') Es ist namentlich Lotze*s Verdienst, Bedeutung nnd Schranke des
Mechanischen gleichmässig hervorgehoben nnd dadurch leibnitzische Ge-
danken erneuert zu haben. S. nam. Allg. Pathologie nnd Therapie als
mechan. Naturwlssensch.
**) S. philos. ration. sive logica cp. III, § 85: remm naturalium dn-
plices dari possunt rationes, quarum aliae petuntur a causa efficiente, aliae
a fine. Quae a causa efficiente petuntur, in disciplinis hactenus definitis
expenduntur. Datur itaque praeter eas alia adhuc philosophiae naturalis
pars, quae fii^es rerum explicat, nomine adhuc destituta, etsi amplissima sit
et utilissima. Dici posset teleologia.
170 Teleologie.
Anfang des 18. Jahrhunderts tritt daneb^i „Absieht'' (das dem
17. Jahrhundert noch fremd ist) und gelangt namentlich durch
Wolff zu weiter Verbreitung, so dass es geradezu „Zweck" be-
einträchtigte. Dann aber bildete sich seit Baumgarten der
Sprachgebrauch, dass „Zweck" för den Begriff finis, „Endzweck"-
für finis primus und „Absichf" f&r intentio (finis repraesentatio)
rerwandt wurde, und diesen sehen wir im 18. Jahrhundert sich
allmählig durchsetzen.^) In neuester Zeit haben endlich die
zahlreichen durch das Wort „Zweck" veranlassten Missrerstand-
nisse E. E. von Baer veranlasst, für die naturwissenschaftliche
Forschung dem Ausdruck Ziel (zielstrebig) den Vorzug zu geben.
Deutet nicht schon eine solche Geschichte des Wortes gewisse
Probleme im BegriflFe selber an?
Die Greschichte der Zwecklehre ist die (beschichte eines fort-
währenden Kampfes ; könnte man daraus, dass jene Lehre immer
wieder in Zweifel gezogen wurde, den problematischen Charakter
des Begriffes folgern, so dürfte andererseits der Umstand, dass
immer wieder Männer ersten Ranges sieh des Bestrittenen ange-
nommen haben, als Zeichen dafür gelten, dass es sich hier nicht
um einfache Verirrungen handelt, und dass der Kampf nicht
so sehr zwischen Wissenschaft und gemeinem Verstände ala
zwischen gleichbedeutenden wissenschaftlichen Richtungen selber
geführt wird.
Vor allem sind wesentlich verschiedene Gestaltungen der
Zwecklehre auseinanderzuhalten, denn das hat vielleicht am
meisten zur Verwirrung beigetragen, dass ganz andersartige Motive
an diesem Punkte zusammentreffen. Dass zunächst, der Mensch
als handelndes Wesen alles auf sich bezieht und alles Geschehen
als Mittel für seine Zwecke fassen möchte, ist unvermeidlich, dass
von da aus auch die denkende Auffassung der Welt beeinflusst
wird, liegt nahe, dass dann aber die Wissenschaft einen solchen
Einfluss streng zurückweist, • ist ebenso ihr Recht wie ihre Pflicht;
*) Freilich führt noch Plattner, Philos. Aphor. II, 23, ,an, dass die
Sprache bie WOrter Zweck tind Absicht „wie gleichdeatig** behandle.
Teleologie. 171
denn nur nach Zeratörung dieser Art von Teleologie wird eine
wiseenBchaftliche Begreifung der Welt Überhaupt möglich. Un-
vergleichlich höher steht die Teleologie des ethisch • religiösen
BewuBstseina Hier ist es die Ueberzeugung von dem absoluten
Werthe der Lebensaufgabe des vernünftig freien Wesens, welche
auf diese Aufgabe alles Weltgeschehen beziehen läset Gegenstand
dieser Zweckbetrachtung ist an erster Stelle immer das Individuum
als sittliche Persönlichkeit. Die Stellung zu diesem Probleme ist
Ton so vielen Voraussetzungen abhängig, dass es sich (üt die
Philosophie empfiehlt, für ihre Forschung dasselbe zunächst ganz
bei Seite zu lassen. Nar insofern von hier aus ein dogmatisches
System der Physikotheologie aufgestellt wird, ist ein Conflikt mit
der Wissenschaft unvermeidlich, doch lässt sich fragen, ob nicht
die Zerstörung einer solchen Physikotheologie noch mehr im
Interesse der Religion als in dem der Wissenschafl liege. ■
Aber Über dem allen darf nicht vergessen werden, dass es
auch eine streng theoretische Zwecklehre gibt, eine Zwecklehre,
die nicht aus alten Vorurtheilen fiberkommen ist und sieh so mit
fortgeschleppt hat, sondern die im hellen Licht des Tages ent-
stand, und die der Krkenntniss ergänzend und vertiefend erheb-
liche Dienste leisten sollte. Wo immer unwissensehaftliehe oder
doch dem wissenschaftlichen Bewusstsein nicht mehr genügende
Formen der Teleologie zurückgedrängt sind, hat sich stets wieder
eine neue und höhere Teleologie erhoben. Gegen und Für sind
gleich bedeutende Kräfte aufgetreten, die Angreifer pflegten
voran zu gehen, aber wenn sie die Sache erledigt zu haben
glaubten, so hatten sie am Ende nar den Boden fßr neue
Schöpfungen frei gemacht. Einem Empedocies und Democrit
folgten ein Plato und Aristoteles, einem Descartes und Spinoza
Leibnitz und Kant, ein deutliches Zeichen, dass wir hier ein
Problem anzuerkemieu haben, zu dem der Mensch immer wieder
zurückkehren muss, ohne es auf irgend einem Punkte der ge-
schichtlichen Bewegung abschliessend lösen zu können, und
dass es sich um eine Frage handelt, die an den Sohianken
menschlicher Erkenntniss liegt und daher von jeder Verschiebung
f
1 72 Teieologie.
derselben mitbetroffen wird. — Wenn dieses rein theoretiselie
Problem ron den gewöhnliehen Angriffen g^en die Teleologie
gar nieht berührt wird, so darf andererseits nieht verkannt
werden, dass diese Fassong fBr das ethiseh-religiöse Postulat un-
mittelbar gar niehts leistet, und daher ein praktisches Interesse
hier zunächst überhaupt nicht in Betracht kommt
Die erste uniyersale Zwecklehre ist von Aristoteles auf-
gestellt. Und zwar steht sie bei ihm, der auch hier den Höhe-
punkt griechischen Denkens bildet, im engsten Zusammenhange
mit den Grundlagen der gesammten Philosophia Die Welt gilt
als ein lebendiges und in sich geschlossenes (ranze, welchem
alles Einzelne gliedartig sich einfQgt, sie strebt nicht etwas ausser
ihr liegendes an, sondern lebt sich selber, indem innerlieh
erfüllte Thätigkeit und Darstellung nach aussen in eins zusammen-
* fallen. Von hier aus bildet sich die Ueberzeugung, dass alles
einzelne im Universum von dem Zusammenhang aus zu verstehen
sei, sowie dass keine Bewegung in's Ziellose verlaufe, sondern
eine jegliche an einen Endpunkt gelange, wo sie in ein innerlich
befriedigtes und darstellendes Wirken (ivs^ysia) übergeht Aristo-
teles macht aber von jener Lehre nur insofern specifischen
Gebrauch, als er alle Mannigfaltigkeit organischer Bildung durch
einen einzigen Typus zu verstehen sucht Die normale Form ist
als die höchste die menschliche, auf ihre Hervorbringung geht
das Streben der Natur bei allem Gestalten, und wenn das Ziel
auch wegen des widerstrebenden Stoffes meist nicht erreicht wird,
so lehrt die von ihm ausgehende Betrachtung doch, das Viele in
eine Reihe zu bringen und jedes Einzelne im Zusammenhange zu
erfassen. Zu allgemeiner Verwendung aber kam der Gredanke,
dass alle Bewegung auf ein festes Ziel gerichtet sei: selbst die
Elemente streben nach einer bestimmten Stelle des Weltalls, um
hier äusserlich zu Buhe zu kommen, tiirgends gibt es ein Wirken
in's Unendliche, eine gradlinige Bewegung ohne Abschluss. In-
dem sich nun auf dem organischen Gebiete dieser Gedanke mit
dem der Ueberlegenheit des Ganzen vor den Theilen verbindet,
gewinnt hier die Zweckbetrachtung einen besonders reichen
Teleologie. 173
Inhalt. Die ToUendete Thätigkeit des Ganzen ist das Ziel, worauf
alles Besondere zu riehten und von wo aus es zu begreifen ist.
Wie immer man über eine solche Teleologie urtheilen mag, sie
hat zur Unterordnung eines unermessliehen Stoffes unter einheit-
liehe Gesichtspunkte grosses beigetragen, ganze Disciplinen wie
z. B. eine Art ron vergleichender Anatomie, eine Entwicklungs-
geschichte u. 8. w. sind erst durch sie möglich geworden. Auf
keinem Punkte aber bleibt sie gegen den damaligen Stand der
Wissenschaft zurück.
Ein principieller Gegensatz zwischen dieser Zwecklehre und
den Grundströmungen der neuem Wissenschaft ist freilich unleug-
bar. Jene hatte einmal zur Voraussetzung die platonische Ideen-
lehre, wonach das Weltgesehehen als Darstellung zeitlos wirkender
Formen in einem Stoffe erscheint; während den neuem Denkem
Stoff und Form in eine Einheit und zwar in die Einheit des Pro-
cesses zusammenfielen. Nicht eine Verbindung verschiedener Arten
des Seins bringt den Process, sondem dieser vielmehr alles Sein
hervor. Was immer an Gestaltungen auftreten mag, es gilt als
in ihm sich ursprünglich bildend, und kann daher auch stets
nur als vorläufiger Abschluss, nicht als letzter Endpunkt erachtet
werden. Der aristotelische Begriff der iveqysia wird aufgegeben,
in Geist und Natur geht der Drang in's Unendliche, treibt immer
neues hervor und kann sich bei keinem Erreichten befriedigen.
Das Wirken der Kräfte wird demnach unabhängig von festliegen-
den Zielen, nur von Richtungen etwa könnte gesprochen werden,
die aber in's Unendliche weisen.
In engster Verbindung damit stand ein zweiter Grundzug:
die Auflösung des organischen Zusammenhanges der Welt, die
Anerkeimung der Unabhängigkeit des Einzelnen, dafür aber die
Unterordnung alles Geschehens unter einfache und allbeherrschende
Gesetze. Diese Gesetze sind es, die nunmehr zunächst die Einheit
der Welt vertreten, sie erweisen sich unmittelbar in jedem
Einzelnen, und was immer es an besondem Gestaltungen geben
mag, das lässt sich auf sie zurückführen. Dass eine specifische
Form die Naturkräfte in ihren Dienst nehme und die Bewegung
174 Teleologie.
zu sich hinlenke, daran darf nicht mehr gedacht werden. Und
auch das Weltall als Gesammtes gilt nicht als ein geschlossenes
Gkmze, das alles Besondere werkzeuglieh auf sich beziehe. So
tritt an Stelle des Gegensatzes der Theile und des Ganzen
der des Einfachen und Zusammengesetzten; statt dass bei
Aristoteles das Ganze erst das Einzelne rerstehen liess, muss
nun die Gestalt in die Elemente aufgelöst sein, um wissen-
schaftlich begriffen zu werden. Es ist demnach zusammen-
genommen der genetisch-analytische Charakter der neuem Wissen-
schaft, welcher die aristotelische Zwecklehre principiell zer-
stören muss.
Wenn auch diese entscheidenden Gründe in den refleotirenden
Angriffen gegen dieselbe oft wenig hervortreten, so haben sie
doch die wissenschaftliche Bewegung der Art bestimmt, dass die
Behandlung der Frage endgültig eine andere geworden ist. Wo
immer der Zweck eine Vertheidigung fand, war er gegen die
frühere Form wesentlich umgestaltet. Seine Anhänger zerfallen
aber in zwei Classen, indem die einen ihn mit jenen neuem
Grundgedanken so gut wie möglich verbinden, die andem da-
gegen ihn als eben durch dieselben innerlich gefordert nach-
weisen möchten. Unter jenen Männern nehmen Boyle und der
jüngere Kant, unter diesen Leibnitz und der ältere Kant die
hervorragendste Stelle ein. Boyle meinte, dass eine streng durch-
geführte mechanische Theorie des Zweckes als eines Gegenstückes
bedürfe, um die Bichtung der Bewegung zu den vorliegenden
Gestaltungen und einer vernünftigen Ordnung der Welt begreif-
lich zu machen*); je mehr Innerlichkeit und wesentlicher Zu-
sammenhang aus dem Naturgeschehen entfernt war, desto noth-
wendiger schien die Ergänzung durch ein Transscendentes. Aber
diese Vertheidigung des Zweckes war mit einer Umgestaltung
verbunden, indem Boyle den Begriff kosmischer Zwecke auf-
*"; S. z. B. de ipsa natura sect. IV: Hamm antem partinm motum sab
primordia rernm infinita sna sapientia ac potestate ita direxit, nt tandem
(sive breviore tempore sive longiore, ratio definire neqnit) in speciosam
hanc ordinatamque mundi formam coalnerint.
r
Teleologie. 175
stellte*), denen sich BesehafiFenheit und Befinden der einzelnen
Formen unterordnen müsse.
War es hier die unmittelbar vorliegende Beschaffenheit der
Welt, welche zum Gredanken des Zweckes führte, so ging der
jüngere Kant einen Schritt weiter zu den Principien zurück. An
der gewöhnlichen Teleologie schien ihm besonders bedenklich,
dass hier die Zufälligkeit der Naturrollkommenheit erforderlich
war, einen weisen Urheber zu erschliessen, und dass ihr daher
alle nothwendige Ordnung in der Welt zum gefährlichen Einwurf
wurde. Aber indem er darauf drang, dass alle besondere
Gestaltung als nach allgemeinen Gesetzen sich nothwendig bildend
begriffen werde, gaben ihm diese Gesetze Anlass, den Zweck mit
neuem Inhalt wieder aufzunehmen. Die Thatsache, dass aus
äusserst einfachen Kräften sich ein wohlgeordnetes Ganze mittelst
gesetzlicher Entwicklung bilde, und dass die Vielheit scheinbar
Yon^ einander unabhängiger Dinge zu einem Zusammenhange sicli
verbinde, 'dünkt ihm ein entscheidender Grund dafür, dass das
Ganze einem höchsten Verstände entspringe. Grade dass die
Naturkräfte ohne Eingreifen eines Jenseitigen diese Welt hervor-
bringen können, bezeugt die Vernunft als weltbeherrschend, Wohl
ist alle Ordnung Folge der Nothwendigkeit, aber, meint er, „ist
diese Harmonie darum weniger befremdlich, weil sie nothwendig
ist? Ich halte dafür, sie sei es darum nur desto mehr" (II, 138),
— Diese Lehre steht der gleich zu betrachtenden leibnitzischen.
von der sie auch Einflüsse aufgenommen hat, ziemlich nahe, und
sie darf wohl als höchste Form einer Ausgleichung zwischen
wissenschaftlicher Naturbegreifung und religiöser Weltauffassung
gelten, aber es bleibt im Zweck auch hier noch immer etwas
vor und über der Welt liegendes, während die Forderung gestellt
werden muss, dass er unmittelbar und innerlich mit ihr ver-
knüpft sei.
Dieses letzte nun, was geleistet werden musste, um ihn philo-
"') S. namentlich final causes of natural things prop. IV: cosmical,
primary and overruling ends.
176 Teleologie.
sophisch zu rechtfertigen, ward Ton Leibnitz und dem spätem
Kant unternommen. Zunächst freilich yertheidigt auch Leibnitz
die Zwecklehre als etwas der Erklärung aus Wirkursachen neben-
geordnetes. Er hebt hervor, dass beides sich keineswegs aus-
schliesse, sondern die teleologische Betrachtung gerade für die
ätiologische erhebliches zu leisten vermöge, aber in diesen Be-
trachtungen kommt er nicht weit über die gewöhnlichen Vor-
stellungen hinaus, die Teleologie geht im wesentlichen in eine
heuristische Verwendung auf, und es wird geradezu ausgesprochen,
dass sie letzthin hinter der Aetiologie zurückstehe.^) Die eigentliche
Bedeutung Leibnitzens für die Zwecklehre liegt vielmehr darin, dass
er die teleologische und die rein physikalische Betrachtung in ein
inneres und wesentliches Verhältniss gebracht hat Das Problem^
dessen Verfolgung ihn auf eine universale Zwecklehre führt, ist
die Beschaffenheit der allgemeinen Gresetze selber. Dieselben
gelten ihm wie die ganze Weltordnung insofern als etwas ^si-
tives, als sie eine von verschiedenen Möglichkeiten verwirklichen,
und es fragt sich nun, ob diese bestimmte Beschaffenheit sich
nicht einem einheitlichen Grcsichtspunkt unterordne und auf ein
einheitliches Princip hinweise. Und hier schien sich ihm nun aus
mannigfachen Erwägungen zu ergeben, dass alle Gesetze des Ge-
schehens von dem Grundprincip aus bestimmt seien, dass ein
möglichst grosses Quantum von Kraft zur Existenz gebracht werde.
Ueberall seien die kürzesten Wege zum Ziele eingeschlagen und
die einfachsten Mittel zum Zweck gewählt**) Die Welt erscheint,
*) S. für das aUes z. B. Werke 143 b n. Foncher II, 357. An letzterer
Stelle heiBst es: Cependant je tronve qne la voye des causes efficientes,
qni est pltis profonde en effet et en quelqne fa^on plns immediate et a
priori , est en recompense assez difficile , qnand on vient en detail , et je
croy que nos philosophes le plns sonvent en sont encor bien 61oign^s.
Mais la voye des finales est plns ais^e, et ne laisse pas de servir sonvent
a deviner des v6rit6s importantes et ntiles qn'on seroit bien long temps a
chercher par cette antre ronte plus physiqne. Man kann dafür anführen,
dass in der That manche wichtige Entdeckungen der neuem Wissenschaft
auf diesem Wege gemacht sind.
**") S. 1 47 b : semper scilicet est in rebus principinm determinationis
/
t
Teleologie. • 177
weil durch dies Princip beheiTScht, als eine absolut Yollkommene
und zweckmässige, wenn auch, da es sich nur um das Quantum
des Seins, nicht um eine bestimmte Qualität handelt, mehr die
Form der Zweckmässigkeit, als ein bestimmter Inhalt, mehr eine
in's Unendliche yerlaufende Sichtung, als ein Zielpunkt der Be-
wegung behauptet wird.*) Eine solche teleologische Betrachtung
liegt nicht neben der ätiologisch-physikalischen, sondern sie um-
fassend über ihr, sie ist nicht auf ein bestimmtes Gebiet, etwa
das des organische^ Lebens, eingeschränkt, sondern sie bezieht
sich auf alles Geschehen und zeigt sich am meisten fruchtbar an
dem, was die gewöhnliche Behandlung als Axiom liegen lässt
Eben die Grundgesetze der Bewegung, die ganze Art des causlEden
Wirkens u. s. w. finden von hier aus Beleuchtung. Für die Special-
forschung ergab sich von da die Maxime, überall die kürzesten
Wege zu suchen, aber da das letzte Ziel die Gesammtleistung
der Kraft im Weltall war, so konnte das Einzelne nur annähernd
in diese Rechnung aufgehen, und war überhaupt eine Aufgabe
gestellt, deren Lösung nur allmählig im Fortgang wissenschaft-
licher Arbeit gelingen konnte. Indessen meinte Leibnitz, dass die
Torliegenden Daten in Verbindung mit den Gründen der Vernunft
genügten, um das Princip zu sichern, und den noch nicht gelösten
Geheimnissen des Weltalls gegenüber die Verwendung des be-
kannten Wortes zu gestatten: „Was ich davon verstehe, gefällt
mir, ich glaube, dass mir auch das Uebrige gefallen würde, wenn
ich es verstünde" (s. 548 a).
Das zweckmässige Geschehen erscheint nun aber im Zu-
qnod a maximo mininove petendnm est, nt nempe maximns praestetnr effec-
tus minimo nt sie dicam snmtu. 605 b bemerkt er hinsichtlich der Frage,
ob nicht dnrch blosse Nothwendigkeit dasselbe Ergebniss hervorgebracht
werden könnte : Gela serait vrai, si par exemple les loix dn monvement, et
tont le reste, avait sa sonrce dans nne n^cessit^ g^om^triqne de canses
efficientes ; mais il se tronve que dans la derni^re analyse on est oblig4 de
reconrir k qnelque chose qni dopend des canses finales on de la convenance.
*) Im Gmnde ist bei Leibnitz die Welt nicht eine voUkommne, sondern
eine sich znr Vollkommenheit entwickelnde.
Eucken, Oeschichte und Kritik. \2
178 • Teleologie.
sammenhange der leibnitziBchen Philosophie als etwas in die Welt
selbst hineinfallendes, da letzthin alles Geschehen auf ein inneres
Vorgehen zurückkommt, dies aber durch die Form der Zweck-
mässigkeit beherrscht wird. Da die Vorstellung, die elementare
Grösse Leibnitzens , unmittelbar den Hang zu einer andern mit
sich bringt und in nichts anderm das Streben besteht, so wird
durchgehend der Zweck die bewegende Kraft, aus der Thätigkeit
und Gesetz sich ergeben. Der Zweck beherrscht die Welt, weil
er das geistige Leben beherrscht, das die Grundlage alles Seins
ist. — Freilich ist dabei aus dem Zweekbegriff das specifisch
Menschliche, die Beflexion, ganz entfernt, wir haben einen meta-
physischen Begriff, dem sich die psychologische Fassung als ein
Specialfall unterordnet, aber immerhin scheint das erreicht, dass
das Menschliche nicht weggeworfen zu werden braucht, sondern
in dem grossen Ganzen seine Stelle findet.
Wir haben nicht zu fragen, welche Bedenken sich gegen eine
solche Zwecklehre erheben, soviel ist gewiss, dass sie über die
landläufigen Einwendungen erhaben ist Namentlich wäre es
widersinnig, diese Theorie einer streng causalen Forschung ent-
gegenzusetzen, da sie gerade aus dem Verlangen entspringt, etwas
causal zu begreifen, bei dem gewöhnlich die Forscher abschliessen.
Eben zur rollen Beseitigung des Zufalles aus der Welt schien
die Zweckidee, welche alles aus einem Princip bestimme, unent-
behrlich. Wollte man also dieser Lehre etwas vorwerfen, sa
könnte man eher sagen, dass sie zu viel, als dass sie zu wenig
wage. Ein unbegrenzter und unerschütterlicher Glaube an die
Macht der erkennenden Veniunft war ihre nothwendige Voraus-
setzung, und es war die Erschütterung dieser Voraussetzung, welche
sie zurückdrängte, nicht die directen Angriffe der Gegner.
Eine solche Erschütterung trat aber bei Kant ein, indem alle
causale Verknüpfung als eine lediglich in's Subject fallende Form
des Erkennens erachtet wurde. Wie immer daher, auch der Zweck
bestimmt und angewandt werden mochte, er gelangte nicht darüber
hinaus, eine Art unserer Auffassung zu sein. Im weitem aber
zeigen sich in der Behandlung des Gegenstandes alle Eigenthüm-
Teleologie. 1 79
lichkeiten und Vorzüge der kantischen Methode. Zunächst wird
eine scharfe Bestimmung des Begriffes unternommen. Zweck ist
(s. V, 439) „die vorgestellte Wirkung, deren Vorstellung zugleich
der Bestimmungsgrund der verständigen wirkenden Ursache zu
ihrer Hervorbringung ist^, und als zweckmässig gilt darnach das-
jenige (s. VI, 385), „dessen Dasein eine Vorstellung desselben
Dinges vorauszusetzen scheint." Es leuchtet ein, wie viel enger
und specifischer damit der Begriff bestimmt wird als bei Leibnitz,
und zugleich, dass ein solcher Begriff jenseits des (xebietes des
specifisch Seelischen nie anders als symbolisch verwandt werden
kann. Nun aber leitet die Erfahrung unsere ürtheilskraft (s. V,
378 ff.) „auf den Begriff eines Zwecks der Natur nur alsdann,
wenn ein Verhältniss der Ursache zur Wirkung zu beurtheilen
ist, welches wir als gesetzlich einzusehen uns nur dadurch ver-
mögend finden, dass wir die Idee der Wirkung der Causalität der
Ursache, als die dieser selbst zum Grunde liegende Bedingung
der Möglichkeit der ersteren unterlegen", und insofern kann gesagt
werden (s. V, 383); „ein Ding existirt als Naturzweck, wenn es
von sich selbst Ursache und Wirkung ist." Anwendung aber
findet dieser Begriff zunächst bei den organisirten Wesen, von da
aber wird man noth wendig geführt (s. V, 391) „auf die Idee der
gesammten Natur als eines Systems nach der Kegel der Zwecke ;
welcher Idee nun aller Mechanismus der Natur nach Principien
der Vernunft untergeordnet werden muss." Der letzte Grund
davon ist aber, dass unser Verstand Allgemeines und Besonderes
von einander trennt, das Besondere vom Allgemeinen aus gesehen
als zufällig erscheint, und daher, um eine Verbindung herzustellen,
der Zweck herangezogen werden muss, während für einen Ver-
stand, der vom Synthetisch - Allgemeinen (der Anschauung eines
Ganzen) zum Besondern ginge, ein solches Bedürfniss nicht ent-
stehen würde. Der Zweck dient also für uns, die Lücke zwischen
dem Allgemeinen und dem Besondem, dem Möglichen und dem
Wirklichen auszufüllen.
Wie weit diese Lehre mit der leibnitzischen verwandt ist,
und inwiefern sie abweicht, ist klar. An begrifflicher Schärfe
12*
1 80 Teleologie.
ist die kantiBche Fassung ohne Frage ebenso tiberlegen, wie sie
an EinflusB auf die Gesammtforschung hinter jener zurücksteht ;
auch hätte in der Ausführung des Grundgedankens Tielleicht
schärfer hervortreten können, dass der Mechanismus genau so mit
dem subjectiven Momente behaftet sei wie der Zweck, sowie
dass jeder Fortschritt in der mechanischen Begreifung, weit ent-
fernt die teleologische zurückzudrängen, sie vielmehr fordere.
Denn mit jedem Fortschritt jener Erkenntniss wird die ^ Kluft
zwischen Allgemeinem und Besonderm, Möglichem und Wirklichem
grösser, und damit wird um so noth wendiger die Verknüpfung,
welche der Zweckgedanke bietet.
Die nachfolgenden Forscher suchten über die Voraussetzungen
der kantischen Lehre hinauszugehen. Den hypothetisch an-
genommenen anschauend erkennenden Verstand wagten die con-
structiven Philosophen als wirklich zu erweisen, die Naturforscher
aber waren bestrebt, den Zweckbegriff aus dem ihm zugesprochenen
organischen Gebiete zu verdrängen, und nach manchen vergeb-
lichen Versuchen gelangten sie jedenfalls einen Schritt weiter
durch die Lehre Darwins, wonach es möglich schien^ das Zweck-
mässige in der Welt ohne Zweck zu verstehen. Die Maxime
Leibnitzens, alles aus den kleinsten Kräften zu erklären, konnte
hier vollauf verwerthet werden, wie sich ja Darwin ausdrücklich
auf die von Maupertuis formulirte lex minimi berief, aber diese
Maxime war nun aus dem ursprünglichen Zusammenhange einer
teleologischen Weltbegreifung losgelöst, — Nachdem also aus den
Naturwissenschaften die Zwecklehre verbannt ist, für die philo-
sophische Verwendung aber jegliches Interesse fehlt, so scheint
sie endgültig aufgegeben, und die Anhänger der Teleologie müssen
sich etwa zugleich mit denen der Astrologie aus der Gegenwart
verwiesen sehen.
Vielleicht kann schon die geschichtliche Betrachtung zu einer
Milderung dieser von K. E. von Baer verspotteten „Teleophobie"
beitragen. Vor allem ist nothwendig, dass die Gegner der Teleo-
logie sich die wissenschaftlichen Formen derselben zum Object
nehmen und nicht ihre Angriffe an Gestaltungen verschwenden.
^
i
Teleologie. 181
welche nie dem Höhepunkt der ForBohung entsprochen haben.
Die Betrachtung der wichtigem Formen, welche die philosophische
Zwecklehre angenommen hat, zeigt uns vor allem den durch-
greifenden Unterschied ron allen Fassungen des gemeinen Lebens.
Von einer Beziehung auf specifisch menschliche Interessen war
keine Rede, der Zweck ward nicht als besondere Eigen-
thümlichkeit einzelner Gebiete, sondern für die gesammte Natur
und Welt vertheidigt, der Mechanismus als Form des Geschehens
ward überall vorausgesetzt und anerkannt'*'), die Zweckbetrachtung
aber lediglich im Interesse einer causalen Erfassung der Welt
unternommen. Und zwar ward dabei nicht irgend ein materialei^
etwa ausser der Welt liegender Zweck, sondern nur die Form
der Zweckmässigkeit innerhalb der Welt im Interesse einer ein-
heitlich-systematischen Weltbegreifung vertheidigt. Was für dieselbe
der Zweck leisten soll, ist natürlich nach der Gesammtauffassung
verschieden, aber die Thatsache, dass gerade die am tiefsten
eindringenden Denker die durch die Forschung zerlegte Welt
wieder glaubten zur Einheit zurückführen zu müssen, und dass
sie in diesem Streben alle zum Zweck ihre Zuflucht nahmen,
könnte uns als ein Zeichen erscheinen, dass es sich nicht um rein
individuelle Verirrungen handelt. Auch das führt zu einem solchen
Ergebniss, dass der. Zweck überall mit der Eigenthümlichkeit der
ganzen Weltbegreifung in enger causaler Verbindung steht ; ja
selbst einen gewissen Zusammenhang der Bewegung könnte man
darin angedeutet finden, dass die frühem Formen von den spätem
nicht gänzlich verworfen, sondem nur zu subjeotiven Maximen
herabgesetzt sind. Was Aristoteles als real gültig verwandte,
möchte Leibnitz als heuristisch werthvoU vertheidigen , und was
Leibnitz selbst aufstellte, ist bei Kant und selbst bei den Gegnern
des Zweckes in jenem Sinne aufrecht erhalten«
Aus dem allen ergibt sich freilich auch, mit wie viel Schwierig-
keiten und Bedenken eine solche philosophische Zwecklehre zu
*) Der Mechanismns konnte überhaupt nnr insofern der Zwecklehre
entgegengesetzt werden, als von seinen Yoranssetzungen ans alles Geschehen
letzthin cansal begriffen werden sollte.
182 Teleologie.
kämpfen hat. Zunächst hat sie schon der Behandlung nach "
darunter zu leiden, dass sie nicht in gelegentlicher Betrachtung,
sondeiTi nur innerhalb eines Systems der Weltbegreifung Würdigung
finden kann. Greift man sie als einzelnes Problem heraus, so
können die leitenden Motive nicht zur Geltung kommen und jede
positive Behauptung muss als willkürlich erscheinen.*)
Aber auch ohne ein specifisches * Eingehen lässt sich Ver-
wendung und Inhalt des Begriffes von vom herein angreifen.
Die Zwecklehre dient dem Gedanken der Welteinheit, aber ist
dieser Gedanke nicht selber höchst problematisch, ja unvollzieh-
bar? Und mit welchem Rechte wird ein Begriff, der nur inner-
halb eines engen Gebietes Geltung hat, über dasselbe hinaus in
das Weltall hineingetragen? So beachtenswerth solche Bedenken
sind, sich letzthin durch sie bestimmen lassen kann man nur,
wenn man die durchgehende Eigenthümlichkeit unserer Einsicht
und aller unserer Grundbegriffe verkennt, und die Last auf einen
Punkt legt, welche von dem gesammten Streben zu tragen ist.
Ueberall müssen wir bei der Bildung unserer letzten Begriffe
von uns selbst ausgehen, und es handelt sich nur darum, an
wesentliches unserer Natur anzuknüpfen.
Aber eben eine solche Bedeutung wird dem Zweck abge- p
stritten. Auch in unserm Leben erscheint er als etwas neben-
sächliches, abgeleitetes, der Reflexion unterworfenes. Doch hier
ist die Irrung leicht aufzuweisen ; der besondere Inhalt der
bewussten Zwecke wird verwechselt mit der Form der Zweek-
thätigkeit selber. Auf letztere aber kommt es uns hier allein an.
So angesehen entsteht der Zweck nicht bloss nebenbei in unserm
Leben, so dass er etwa aus der reflectirenden Thätigkeit hervor-
ginge, sondern die Reflexion selbst setzt ihrer Möglichkeit nach
den Zweck voraus, und wie immer auch auf ihrem Gebiet der
Mensch in der Anwendung desselben irren kann: dass er über-
haupt Zwecke zu bilden vermag, ja dass er in der Form des
''') Darnach ist der Zweck in erster Linie kein naturwissenschaftliches,
sondern ein philosophisches Problem.
Teleologie. 183
Zweckes denkt und handelt, und zwar weit über alle Reflexion
hinaus, das ist die entscheidende Thatsache.
Nun entsteht allerdings bei der Verwendung des Begriffes
über das uns nächstbekannte Gebiet hinaus das Dilemma, dass
wir entweder dem Weltbilde eine anthropomorphe Form geben,
oder den Begriff durch abstracte Fassung mehr und mehr des
Inhalts berauben; aber wir möchten fragen, an welchem Punkte
philosophischer Forschung man glaubt diesem Dilemma entgeheti
zu können. Unadäquat bleiben unsere Begriffe vom Weltall
immer, wollen und können wir deshalb auf das Forschen
verzichten?
Die Verwendung des Zweckes hat dann freilich die besondere
Schwierigkeit, dass sie einer alle Erscheinung übersteigenden
Vemunftidee dient, denn sie wurde im Interesse eines einheitlichen
Weltzusammenhanges unternommen, die Welt aber ist als ein
Einheitliches und Ganzes eben nicht gegeben. Doch auch diese
Frage wird sofort Theil einer weiteren, indem es sich hier
schliesslich um das entscheidende Problem der ganzen Erkennt-
nisslehre handelt : um das Verhältniss des Denkens zur Welt und
um Inhalt wie Bedeutung seiner Thätigkeit. Je nach der Stellung
^ zu diesem Problem muss die Verwendung der Zweckidee ent-
weder als willkürlicher Einfall oder als Pflicht erscheinen. So
ganz einfach aber ist es nicht, die Entscheidung zwischen diesen
Gegensätzen zu treffen, namentlich wenn man nicht vergisst, dass
eine verneinende Antwort auch eine Antwort ist. Würden wir
uns aber für die Verwendung des Zweckes entscheiden, so dürfte
freilich ebenso wenig vergessen werden, dass es sich nie um eine
rund aufgehende Begreifung des Problemes, sondern nur darum
handeln kann, mittelst des Begriffes der Zweckthätigkeit sonst
unfassbare Zusammenhänge uns einigermassen näher zu bringen.
Wenn wir uns aber einer Wahrheit nur durch Vermittlung an-
nähern könnten, so stünde sie dem Grundgedanken nach damit
noch nicht in Frage, und das Mittel dürfte nicht verworfen werden,
wenn es jener Annäherung nur wirklich Dienste leistete.
Zu allen diesen Schwierigkeiten treten andere hinzu und
1 g4 Teleologie.
yenriekeln die Frage mehr und mehr, aber auch ganz abgesehen
davon, was wir in dem Kampfe darom positiv erreichen, das
Problem hat schon deswegen ffir nns Werth nnd Bedeutung, weil
es ans auf die Ergänzmigsbedfirftigkeit und Unznl^iglichkeit der
Theorien hinweist, mit denen wir leieht unsere Vorstellungen von
der Welt abschliessend Was immer aber unser Denken und
Streben vor eingrenzender Enge bewahrt, das darf nicht ftlr
dtwas unerhebliches erachtet werden. Denn für uns werthyoll
sind nicht nur Einsichten, welche unserm Wiss^i neues hinzu-
fügen, sondern auch solche, die den Besitz richtiger schätzen
lehren und uns den Blick in das Weltall offen halten.
#
Oultur.
vintri (f iyiore oinoci&evaicey.
Plato.
Wie der Begriff der Cultur weit mehr dem allgemeinen
Leben als der specifischen Wissenschaft angehört, so war auch
der Ausdruck lange im Umlauf, ehe er innerhalb der Philosophie
genauere Bestimmung fand. Im spätem Alterthum wie von der
Benaissance an ward die Bezeichnung cultura animi oft verwandt,
wobei bis in*s vorige Jahrhundert das Bildliche weit lebhafter
empfunden wurde als in der Gegenwart; eine Einfügung des
Begriffes in ein philosophisches System versuchte aber erst Baco,
indem er in der Ethik der Feststellung des höchsten Gutes die
Untersuchung über die Art, wie der Geist zu ihm hinzuleiten sei,
entgegensetzt und diese Lehre Cultur, ja Georgik des Geistes
nennt. *)
Während hier die Oultur als Theil der Ethik giJt, tritt sie
später selbstständig neben dieselbe, so dass nun eine nähere
Bestimmung des Verhältnisses beider erforderlich wird. In der
deutschen Philosophie stehen sich hter zwei flichtungen gerade
i') S. de augm. scient. YII, cp. 1: Partiemnr igitur ethicam in doc-
trinas principales dnas ; alteram de exemplari sive ima^ine boni, alteram de
regimine et cultura animi, quam etiam partem georgica animi appellare con-
Bnevimns. lUa natnram boni describit, haec regolas de animo ad illas con-
formando praescribit; s. cp. 3.
186 Cultur.
gegenüber, und zwar ist es wieder Kant, der den Unterschied
aufs schärfste hervorkehrt. Denn indem er unter Cultur „die
Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu
beliebigen Zwecken überhaupt (folglich in seiner Freiheit)" ver-
steht, bleibt offenbar die Festsetzung des Zweckes selber völlig
offen und Cultur und Ethik fallen auseinander. Fichte dagegen
verfocht auch hier die Einheit; indem er unter die Erhebung
des Geistes zur Herrschaft über alles Gegebene die sittliche Auf-
gabe befasste und. in dem Freiheitsbegriffe Form und Inhalt
eng verband, ward es ihm möglich, der Cultur den gesammten
Lebensinhalt unterzuordnen. Cultur ist ihm (s. VI, 86) „Uebung
aller Kräfte auf den Zweck der völligen Freihfeit, der völligen
Unabhängigkeit von allem, was nicht wir selbst,- unser reines
Selbst ist.'^ Da aber diese Aufgabe ihm alles andere in sich
schliesst, so hat „nichts in der Sinnenwelt, nichts von unsenn
Treiben, Thun oder Leiden, als Erscheinung betrachtet, einen
Werth, als insofern es auf Cultur wirkt" Religion, Wissenschaft
und Tugend werden ausdrücklich zu den höhern Zweigen der
Vemunftcultur gerechnet (VII, 166), auch den Staatszweck macht
die Cultur aus (VII, 146), so dass der Staat, den der Philosoph
vertheidigt, geradezu als Culturstaat bezeichnet werden kann.*)
Wenn also die heutige Werthschätzung der Cultur zunächst
auf Fichte zurückweist, so brachte dieser doch nur einen (Jedanken
zum typischen Ausdruck, welcher dem ganzen Streben der Neuzeit
zu Grunde liegt: den Gedanken, dass die letzte Aufgabe des
Einzel- und Gesammtlebens darin bestehe,, alle in der Mensch-
''') Dieser Begriff tritt zunächst der Auffassung des Staates als eines
nur „juridischen Institutes" entgegen. Aber auch zum nationalen Staate
stand der Culturstaat anfänglich in einem Gegensatz; s. VII, 2t2: „Welches
ist denn das Vaterland des wahrhaft ausgebildeten christlichen Europäers?
Im allgemeinen ist es Europa, insbesondere ist es in jedem Zeitalter der-
jenige Staat in Europa, der auf der Höhe der Cultur steht." Später lernte
Fichte das Nationale höher schätzen , • wiewohl es ihm stets (auch in den
Keden an die deutsche Nation) nur als Ausdruck eines allgemein Mensch-
lichen werthvoll gewesen ist.
Cultur. 187
heit angelegten Kräfte voll zu entwickeln und in's Unendliche zu
steigern und zwar zur Macht über Natur, Menschenleben und
Welt und zur daraus quellenden Freude am Dasein. Darin dass
diese Aufgabe als die wesentliche und allumfassende hingestellt
wird, und alle besondem Zwecke sich ihr unterordnen, beruht
vor allem die Eigenart des Lebens der Neuzeit.
Auch der antiken Welt war freilich die Entwicklung der
Kraft etwas erhebliches, ja wesentliches, es soll das im Menschen
Schlummernde zur lebendigen Thätigkeit erweckt, das Formlose
gestaltet werden; aber man denkt sich, wenigstens auf dem
Höhepunkte des Griechenthums, die Bewegung immer auf ein
von Natur feststehendes Ziel gerichtet und von Anfang an durch
Ordnungen, welche auf dieses Ziel hinweisen, gelenkt. Von
einem Fortschritt in*s Unendliche, von einer Entfesselung der
Kräfte ohne Bestimmung der Richtung ist keine Rede. Die Er-
ziehung, welche hier darin aufgeht, die Natur ergänzend zu
unterstützen*), ist daher von Anfang an um Inhalt und Lenkung
der Thätigkeit aufs eifrigste besorgt; alle Kraft, die sich nicht
werthvoUen Zwecken unterordnet, erscheint geradezu als verderb-
lich.**) Ueberhaupt aber bildet alle Entwicklung als nur an-
strebend eine blosse Vorstufe zu einer in sich erfüllten und nach
aussen sich darstellenden Thätigkeit ; diese gibt wie das Ziel, so
auch das Mass der Bewegung. Alles dies gilt wie vom Einzel-,
so vom Gesammtleben. Auch hier soll nicht alles entwickelt
werden, sondern nur das, was zu der vollendeten Lebensthätigkeit
zu gelangen vermag, so dass es unter den gegebenen Verhältnissen
nur ein sehr kleiner Theil der Menschen ist, der zu einem vollen
Sichausleben und dem daraus erwachsenden Genüsse des Daseins
kommt. Auch der Menschheit Fortschritt geht nicht in's Unend-
liche, sondern bewegt sich festen Zielen zu, um dann einer rück-
läufigen Bewegung Platz zu machen. Das Unendliche gilt in
*) S. Ariflt. Polit. 1337 a, l: naaa ri^^^ J^«* naidtia t6 nqoaXelnov
ßovXitai rrjf (fvöstas ayanXrjQovv,
**) S. z. B. Plato'B Staat VI, 491 flF., Aristoteles Politik I, cp. 2.
188 Cultur.
Leben und Lehre gleich dem Endlosen und Unbestimmten, dieses
aber als Gegensatz des allumfassenden Werthbegrlffes der Ordnung
geradezu als ein schlechtes. Diese ganze Auffassung wurde
freilich im Sinken des Alterthums dadurch gefährdet, dass das
Bewusstsein realer Ziele innerhalb der uns umgebenden Welt
erschüttert würfle und in Folge des die Entwicklung einen mehr
formalen Charakter annahm, aber wenn damit einseitigej- eine
Lebensführung hervortritt, die wir etwa Cultur nennen könnten,
80 fehlt eben das, was derselben in der Neuzeit die entscheidende
Bedeutung gibt: die Kraft, alle Verhältnisse des Lebens zu um-
fassen und eine Erneuerung des gesammten Weltzustandes an-
zustreben.
Dem Christenthum ist die Bichtung des WoUens und Handelns
unvergleichlich werthyoller als die dabei entwickelte Kraft und
vollendete Leistung, ja unzählige Aeusserungen der Kirchenyäter
könnten der Auffassung Baum geben, als möchte man sich
geradezu der Gutturaufgabe entgegenstellen. Aber im Grunde
wollte man doch zunächst nur die Ueberlegenheit der ethischen
Aufgabe hei*vorheben und die Zurückziehung von den mehr
peripherischen Thätigkeiten auf die Innerlichkeit der Gesinnung
rechtfertigen; es waren oft gerade die umfassendsten und ein-
dringendsten Forscher, welche alles, was die blosse Ausbildung
der Kräfte zu geben vermag, gegenüber der ethisch - religiösen
Verwendung nicht tief genug glaubten herabsetzen zu können.
Auch darf die bestimmte Art der damaligen innerlich hohlen und
absterbenden Cultur bei solchen Aeusserungen nicht übersehen
werden. Mehr aber als dies alles kommt in Betracht, dass das
Christenthum insofem in einem wesentlichen Zusammenhange mit
der Culturaufgabe steht, als es die versuchte Aufbietung aller
Kraft voraussetzt, um dann mit lieinem Inhalt hervorzutreten.
Erst wenn der Mensch in dem Kampfe um Wahrheit und Glück
das Aeusserste versucht hat und bis in die innersten Tiefen
erregt ist, und nun das Bewusstsein unübersteiglicher Schranken
sich durchbricht, kann die Eigenthümlichkeit des Christenthums
volles Verständniss und Würdigung finden. Wo immer daher
Cultur. 189
die Calturaufgabö zurückgedrängt und gering geachtet wird, da
wird mit der Innerlichkeit selbst die innere Wahrheit des Christen-
thums bedroht sein. — Aber da wesentliche Voraussetzung
noch nicht integrirender Theil ist, so lag für die weitere Ent-
wicklung die Gefahr nahe, die Culturaufgabe bei Seite zu lassen
oder doch nur so weit anzuerkennen, als sie den eignen Zwecken
unmittelbar diente ; eine principielle Anerkennung jener Aufgabe
und eine innerliche Ausgleichung mit dem Christenthum ist that-
sächlich im Lauf der Gtesehichte nicht erfolgt', die Cultur ist im
Grossen und Ganzen wie ein eigenes Gebiet neben dem Christen-
thum liegen geblieben, und von Seiten der Anhänger einer streng
dogmatischen Fassung desselben ist oft eine Gleichgültigkeit
gegen alle ausserhalb des „specifisch" religiösen Gebietes liegen-
den Aufgaben zum Vorschein gebracht, ja zur Schau getragen,
welche die Unfähigkeit dieser Fassung bekundet, die ganze Fülle
menschlicher Lebensinteressen aufzunehmen und zu würdigen.
Der Inhalt der Neuzeit hat sich in einem gewissen G^ensatz
dazu gestaltet. Vor allem findet eine uneimessliche Erweiterung
des Lebenskreises statt : nicht dieses oder jenes besondere Ziel
darf alles Handeln in Anspruch nehmen, sondern was nur immer
für den Menschen Aufgabe der Thätigkeit werden kann, das soll
ergriffen und ausgeführt werden. Es ist überhaupt nicht eine
bestimmte Beschaffenheit, die dem Handeln in entscheidender
Weise Werth rerleiht, sondern das Handeln selber, die Entwicklung
der Kraft, die Steigerung der Lebensthätigkeit ist die höchste
Aufgabe, das Leben selber ist das Ziel des Lebens. Nichts darf
ruhend und angelegt bleiben, und wenn es zum yoUen Wirken
gebracht ist, so wird der Endpunkt sofort Ausgangspunkt neuer
Bewegung, im Fortschreiten bilden sich immer wieder Vermögen
an, so dass der Drang weitfer und weiter bis in's Unendliche
geht. Demnach hat das neue Leben das Merkmal der Rastlosig-
keit an sich, der Blick ist immer in die Zukunft gerichtet, das
Verlangen nie befriedigt, so dass für den antiken Begriff einer
in sich ruhenden Thätigkeit [(der aristotelischen „Energie") kein
Platz mehr ist
190 Cultur.
Diese Lebensbestimmung will ursprttnglieh nicht den andern
entgegentreten, sondern sie alle umfassen. Was immer an Kraft
für die Erreichung irgend welchen besondem Zieles aufgeboten
war, das soll anerkannt und aufgenommen werden, unter der
Bedingung, dass es sich dem entscheidenden Streben nach Lebens-
fülle unterordne. Aber damit erhält freilich das Alte eine wesent-
lich andere Bedeutung, wie es namentlich an der ethischen
Aufgabe hervortritt. Nicht um eine innere Wandlung, eine
„ Wiedergeburt '^ , kann es sich hier handeln, sondern Yerroll-
kommnung (se perfectionner) wird das Ziel, die YoUkommheit
aber ist nicht anders als der Gehalt des Seins selber."^) Indem
ähnlich auch die andern Aufgaben sich dem einen Streben nach
Lebensfiille einfügen, soll alles verwendet, nichts als ein unnützes
weggeworfen werden. Und da die zu erweckende Thätigkeit
ihren Werth nicht so sehr in der äussern Leistung als in der
innein Kraftanspannung hat, so muss die tiefste Tiefe ergriffen
und alles Starre in Leben und Fluss gebracht werden. Sowohl
nach aussen wie nach innen hat der strebend schaffende Greist
eine Unendlichkeit vor sich, nicht nur treibt er eine ganze Welt
aus sich hervor, sondern er nimmt sie stets in sieh zurück, so
dass das Aeussere ein Iimeres wird, und er vor allem die eigne ^
Ueberlegenheit über die Dinge steigert.» Wenn in einem solchen
Zusammenhange der Geist nach dem bezeichnenden Ausdruck des
Nikolaus von Kues ein „universelles Samenkorn'' bildet, das sich
zur Welt entfalten soll, so beruht in dem Fortschritt Inhalt und
Glück fiir das Leben des Einzelnen wie des Ganzen. Ja selbst
das Weltall haben wir uns in diesem Zusammenhang als in's
Unendliche fortschreitend zu denken.**)
*) Durchgehend setzen die leitendeb Denker der Neuzeit die Begriflfe
perfectio und realitas gleich und Leibnitz sagt noch beBtimmtei : perfectio
nihil aliud quam essentiae quantitas (147 b). Ueberhaupt aber werden alle
Bestimmungen des Werthes auf die der Kraft zurückgeführt.
**) S. Leibnitz (deutsche Schriften II,- 36): ^Der Creaturen und also
auch unsere Vollkonunenheit bestehet in einem ungehinderten starken Fort-
trieb zu neuen und neuen VoUkommenheiten." Bei Wolff und seiner Schule
Cultur. 191
Aber so sehr man in diese Gresammtbewegung alle besondem
einschliessen und die Gulturaufgäbe als eine schlechthin universale
erfassen möchte , thatsächlich sind es doch immer bestimmte
Voraussetzungen, von denen die Thätigkeit beherrscht bleibt, und
bestimmte Sichtungen, in denen sie sich bewegt. Es steht einmal
unser Leben unter geistig-geschichtlichen Einflüssen, welche Ziele
und Strebungen specificiren, so das es ebenso wenig wie eine all-
gemeine Beligion eine Cultur ohne nähere Umgrenzung geben
Kann. Es nimmt daher auch die neuere Cultur innerhalb des
umfassenden Gedankens eine besondere Stellung ein, die erkannt
und geprüft werden muss, ehe man ein Urtheil über den Werth
jener wagen darf
Zunächst fällt hier in's Auge die bewusste Ablehnung aller
Transscendenz. Es soll die Entwicklung der Kraft ganz und gar
in diese Welt hineinfallen und dieselbe durchdringen. Mag man
die Welt als ein Ganzes der Vernunft oder als eine Summe der
Erscheinungen fassen, darin ist man einig, dass auf sie sich alles
Handeln beziehe und in ihr verlaufe. Was nicht in ihr erreicht
wird, wird überhaupt nicht erreicht, und was hier nicht zur Ver-
wendung kommt, ist schlechthin verloren; alle Forderungen der
Vernunft müssen hier erfüllt, alle Hemmnisse beseitigt, alle Gegen-
ward das höchste Gut bestimmt als perpetuus sive non impeditus ad ma-
jores perfectiones progressns. — Der Begriff des Fortschrittes zieht sich durch
das ganze Alterthnm, Plato und Aristoteles haben dafür die Ausdrücke
Ini^ocK und ini^Mvai, weit mehr aber trat später das stoische nQoxonij
hervor, das wir (z. B. bei Polybius) ganz ähnlich verwandt finden wie das
heutige „Fortschritt*. Der Gedanke eines Fortschrittes in's Unendliche
wird von den Neuplatonikem und Mystikern freilich vorbereitet, ist aber
zur vollkommenen Durchführung erst in der neuen Philosophie, und zwar
zuerst bei Nikolaus von Kues gekommexi. Den Höhepunkt aber hat diese
Idee bei Leibnitz erreicht, s. z. B. 150 a: in cumulum etiam pulchritudinis
perfectionisque universalis operum divinonim progressus quidam perpetuus
liberrimusque totius universi est agnoseendus, ita ut ad majorem semper
cultum procedat ff. — Der Ausdruck Fortschritt scheint übrigens erst in
der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts zu einem festen Terminus ge-
worden zu sein.
1 92 Cnltur.
Sätze ttber wunden werden. Ein Widerspruch, ja eine Differenz
zwischen Vernunft und Wirklichkeit kann durchaus nicht ertragen
werden. Durch das alles wird die Gesammtanspannung der Kraft
für jeden Augenblick zur nothwendigen Aufgabe, und es erhält
die neuere Cultur einen radical umwälzenden Charakter, wie sich
dessen ihre Hauptyertreter auch klar bewusst waren.
Als das eigentliche Substrat von Leben und Entwicklung gilt
aber die Intelligenz. Wenn die neuere Psychologie alle geistigen
Vorgänge auf Erkenntnissprocesse zurtlckftthren möchte*), wenn
die praktische Philosophie Glück ^ und Tüchtigkeit vom Erkennen
abhängen lässt, und die Metaphysik aus dem Denken die ganze
Welt hervorbringen möchte, so kommt in diesen wissenschaftlichen
Lehren nur eine allgemein -menschliche Ueberzeugung zum Aus-
druck. Auch für diese ist das Wissen der Quell aller Macht und
alles Guten, die Unwissenheit dagegen der Schwäche und des
Bösen. Die Erkenntniss gibt uns Gewalt über die Natur, so dass
wir alle ihre Kräfte in imsem Dienst ziehen und dadurch die
eigne Macht in's Unermessliche steigern können; sie gibt uns
aber nicht weniger Macht über uns und unser Geschlecht, dessen
Geschick auf Grund der Einsicht in die leitenden Gesetze von
uns aus gelenkt werden kann.
Wenn nach dem allen als Aufgabe und Gewinn des Lebens
die Steigerung der Erkenntniss gilt, so bestimmt sich der Fort-
schritt, an den man glaubt, näher als ein intellectueller.**) Femer
erhält das Wissen im neuern Leben eine ganz andere Beschaffen-
heit- und Stellung als in frühem Zeiten. Es ist nicht ein ruhiges
Anschauen der Welt, ein ^soaqsiv, sondem eine Umwandlung der-
selben, um sie in die eigne Machtsphäre aufzunehmen. Der Satz,
dass Wissen Macht sei, wird jetzt in einem weit bezeichnenderen
Sinne ausgesprochen als je zuror; die Forderung, dass Theorie
und Praxis durch ein engeres Band verknüpft werden, geht seit
*) Schon Nikolaus von Knes sagt I, 91b: ego meutern intellectnin
eBse affirmo.
**) S Nikolaus von Knes (II, I88a): posse semper plus et plus intelli-
gere sine fine, est similitudo aetiernae sapientiae.
Cultur. 193
dem 16. Jahrhundert durch alle Systeme und erweitert sich mehr
und mehr dahin, dass Wissen und Leben in eins zusammenfallen
sollen. Damit wird auch der Platz der Wissenschaft innerhalb
der geschichtlichen Entwicklung ein anderer. Mag ftir das Alter-
thum der Satz HegeVs im Ganzen zutreffen, dass die Eule der
Minerva erst im Dunkel ihren Flug beginne, in der Neuzeit trägt
die Wissenschaft die Fackel voran, es wird nicht das, was sich
unbewusst im geschichtlichen Leben gebildet hat, nachträglich be-
griffen und vor der Vernunft rechtfertigt, sondern die Wissenschaft
steckt die Ziele von sich aus und verlangt dann, dass die Durch-
führung im Leben nachkomme.
Alle Forderungen aber, die sieh aus der Culturidee ergeben, er-
halten dadurch ein besonderes Gewicht, dass sie für jedes Individuum
in vollem und gleichem Umfang geltend gemacht werden. Es handelt
sich einmal im Leben der Neuzeit nicht um einen einfachen
G^sammtprocess, dem sich das Einzelne als Glied oder Moment
vollständig einfüge, sondern ebenso, wie wir bei der theoretischen
Weltbegreifung den Gegensatz des Einzelnen und Allgemeinen in
dem Begriff des Gesetzes überwunden sahen, ist auch praktisch
das Einzelne nicht etwas unter oder an dem Ganzen, die be-
sondem Wesen sind vielmehr nach Leibnitzens bezeichnendem Aus-
drucke partes totales, ein jedes trägt die ganze Welt in sich,
indem es eine vernunfterflillte Kraft bildet, die sich zum Unend-
lichen erweitert. Das geschichtliche Leben vollzieht sich also
nicht über den Einzelnen, sondern in ihnen, in jedem Individuum
verläuft der gesammte Weltprocess, so dass wir eine Unendlich-
keit unendlicher Welten erhalten. Eine Voraussetzung dieser Auf-
fassung ist die Ueberzeugung von der wesentlichen Gleichheit
aller Individuen, und dafür treten denn auch die Forscher ent-
schieden ein.*) Nicht minder noth wendig ist die Voraussetzung,
— ■ ■■■ /
*) Am einfachstesL spricht den allgemeinen Gedanken vielleicht Car-
tesius ans, wenn er sagt (de methodo zu Anfang) : Kationem qnod attinet,
qnia per illam solam homines samns, aeqnalem in omnibns esse facile credo.
Der hier angeführte Grand ist auch für Flchte^s Lehre von der Gleichheit
alles dessen „was Menschengesicht trägt** massgebend.
E n c k e n , G eschichte und Kritik. ] 3
194 Cultur.
dass die Bewegung des Individuums der des Weltganzen entsprecte,
und dass dasselbe bei aller empirischen UnvoUkommenheit sich
doch immer auf der richtigen Bahn befinde. Kein Satz steht
der neuem Culturidee feindlicher entgegen als die Lehre von
einem radicalen Bösen.
Waren aber jene Voraussetzungen zugegeben, so eröffnete
sich mit ungeheuren Aufgaben der Blick in eine unabsehbare
Feme. War nun der Einzelne der eigentliche Träger des Lebens,
so kam es darauf an, ihm das Gesammtergebniss der Cultur zu
tlbermitteln , vor allem aber ihm alle Früchte der intellectuellen
Arbeit zugänglich zu machen. Von einer isolirten Stellung ein-
zelner hervorragender Denker und einer esoterischen Art der Er-
kenntniss konnte daher nicht mehr die Bede sein, vielmehr galt
als Pflicht, die Helle von den Höhen in die Thäler zu tragen und
überallhin Aufklärung und Bildung zu verbreiten.*)
Es ist nicht nöthig eingehend darzuthun, wie grosses die
Menschheit dieser gerammten Culturidee verdankt, wie die ganze
Art des Lebens dadurch umgewandelt, all unser Denken und j
Empfinden von da aus bestimmt ist, so dass selbst die, welche i
sich entgegenstellen möchten, überall den Einfluss des Bekämpften I
verrathen, und das Alte, für das sie etwa eintreten, unvermerkt I
umgestalten. Sollte man aber die hervorragendsten Punkte be- '
zeichnen, so würden die Steigerung der Macht des Menschen über
die Natur und Welt und die Befreiung und Erhebung des Individuums
obenanstehen. Möchten auf diese Güter ernstlich diejenigen ver-
zichten, welche von der neuem Cultur fast nur sprechen, um an
ihr Ausstellungen zu machen? i
Und doch, kann man leugnen, dass die Durchführung und |
Verwerthung der leitenden Gedanken zu immer weitem Problemen, |
Verwicklungen, ja Katastrophen geführt hat, und dass wir uns
auch jetzt, so übertrieben manche Befürchtungen für die unmittel-
*) Der Ausdrack Bildung ist in dem hiehergehörigen Sinn recht jnng, |
erst seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts beginnt er von dem Körper-
lichen auf das Geistige tibertragen zu werden.
Cultur. 195
bare Gegenwart sein mögen, in einer die ganze Culturwelt um-
fassenden Krise befinden? Es war ein innerer (xegensatz, von
dem die Gefährdung der neuem Gultur ausging: das Yerhältniss
des, wir möchten sagen, inteliigiblen Individuums der Idee und
des empirischen der Erscheinung. Indem jenes nicht hoch genug
erhoben werden konnte, ward die Kluft immer grösser, bis die
Brücke auseinander riss, und das empirische Individuum nun
seinen Theil für sich verlangte und zu rechnen anfing, welchen
Yortheil ihm denn die neue Lebensbestimmung bringe. Hatte es
aber einmal so die Frage gestellt, so war die Antwort gegeben.
Die neue Gulturidee mit ihren unermesslichen Aufgaben verlangt
ebenso eine Yereinigimg vieler Kräfte zur gemeinsamen Arbeit
wie eine durch die Geschlechter und Zeiten hindurchgehende
Thätigkeit; was immer davon das zeitliche Leben des Einzelnen
zu fassen vermag, ist dem Ganzen gegenüber verschwindend und
verringert sich in eben dem Masse, als das Ganze fortschreitet. Und
zwar gilt dies besonders gegenüber einer vorwiegend intellectu-
ellen Bestimmung der Lebensaufgabe, ohne dass die hier zur Ab-
hülfe aufgebotenen Mittel erhebliches nützen könnten. Wenn z. B.
dem Einzelnen dasjenige, was er nicht innerlich zu durchleben
vermag, in den fertigen Ergebnissen mitgetheilt werden soll, so
leuchtet ein, dass dabei gerade das verloren geht, wodurch der
neuem Zeit das Wissen werthvoU wird: die eingreifende und
umbildende Kraft Wollte aber gar der subjective Verstand des
empirischen Individuums die der Gesammtvemunft erstrittenen
Hechte für sich in Anspruch nehmen und alles auf den Augen-
blick und das ihm Dienliche beziehen, so war mit der Gesammt-
arbeit und der geschichtlichen Grundlage die Cultur selber dem
Wesen nach zerstört Diese Gefahr tritt schon bei Bousseau
deutlich hervor, sie wächst in dem Masse, als die idealistische
Bichtung, welche den Menschen als Theilnehmer einer inteliigiblen
Welt fasst, zurückgedrängt wird, und sie bleibt in ihrer ganzen
Tragweite dem Blick nur deswegen verborgen, weil das empirische
Individuum zunächst ja in Folge der geschichtlichen Gestaltimg
einen Beichthum an Interessen und Empfindungen allgemeiner
13*
196 Cultur.
Art in sich trägt, der nun als ihm für sich zukommend er-
achtet wird.
Femer aber hat der Glaube an die Allmacht des Intellec-
tuellen manche schwere Erschütterung erlitten. Wir sehen hier
ab von den Schwierigkeiten, welche sich Punkt fftr Punkt der
wissenschaftlichen« Durchführung des Grundgedankens entgegen-
stellten, auch im allgemeinen Leben ist Zweifel und Misstrauen
in stetem Wachsen, so sehr man äusserlich die alte These
aufrecht erhält Den vertrauensvollen Glauben der Zeit hat die
Lehre, dass durch Hebung der „Bildung" alle Schäden der Mensch-
heit geheilt werden könnten, nicht mehr für sich. Man versucht
es dann freilich oft, alle Schuld der Halbbildung beizumessen^
und in dem Masse als diese herabgesetzt wird, Lob auf da»
wahre Wissen zu häufen, aber zunächst fixirt man so einen Gegen-
satz, der den ursprünglichen Bestrebungen der Neuzeit nicht nur
fern liegt, sondern geradezu widerspricht*); dann aber dürfte
sich wohl die Frage erheben, woher denn diese Halbbildung
stamme, von der in dem Umfange andere Zeiten nichts wussten»
Aus dem allen aber würde das Problem erwachsen, ob nicht in
der einseitig intellectualistisch^n Lebensbestimmung selber der
Grund der Missstände liege, wobei der Zweifel natürlich nicht
gegen das Wissen an sich, sondern nur gegen seine ausschliess-
liche und alle andern Aufgaben zurückdrängende Herrschaft ge-
richtet wäre.
Das alles führt ungeheure geistige Kämpfe herauf, die
um so tiefer eingreifen und erschüttern, je mehr die neue Zeit
darauf bestehen muss, alles in der uns umgebenden Welt zum
Austrag zu bringen. Indem alles in ein einziges Geschehen hin-
*) GrosBe Zeiten haben eben das Eigenthtimliche , dass auch das Un-
voUkommne von der Idee erfasst und gehoben wird. Die scharte Scheidung
einer „falschen** und „wahren** Fassang zeigt schon die beginnende Krisis
an, wie überhaupt diese Scheidung oft nnr die Absohwächnng oder gar
das Aufgeben der ursprünglichen Ueberzeugung verdeckt. Man ist gewöhn-
lich in Begriff, eine Inconsequenz zu begehen, wenn man so eifrig auf die
„wahre** Form des Principes dringt.
Cultur. 197
einfällt, und dieses als letzthin abschliessend gilt, muss jede Lüeke
zum Mangel, jeder Gegensatz zum Widerspruch werden.
Je mehr aber durch ein solches Hervortreten von Mängeln
und Widersprüchen die Kraft der Culturidee beeinträchtigt wurde,
«lesto mehr wuchs die Gefahr einer Einengung des ursprünglichen
Lebenskreises, die Gefahr, dass mannigfaches, was derselbe zu
Anfang mit umfasste, später als fremdes, ja feindliches ausge-
schieden wurde. Vor allem sollten zu Beginn und auf der Höhe
Oeist und Natur die gleiche Anerkennung finden, wie denn auch
in der Wissenschaft eine speculative und inductive Richtung zu-
sammenwirkten. In der Berührung und gegenseitigen Steigerung
beider Tendenzen liegt nicht zum wenigsten der Grund der ge-
waltigen Eraftentwicklung der Neuzeit, so dass dieselbe in ein
Jähes Sinken gerathen musste, sobald die eine. dieser Tendenzen
in Denken und Leben zurückgedrängt wurde.
Dazu fühlte man sich in der Zeit aufstrebender Kraft stark
^enug, auch die Ergebnisse früherer Gestaltungen in den eignen
Lebensplan aufzunehmen. Vielleicht stand man selbst zum Alter-
ihum trotz der mangelnden exacten Erkenntniss in einem mensch-
lich engem Yerhältniss als wir in der Gegenwart, jedenfalls
aber wollte man den Inhalt des Ghristenthums sich aneignen und
zur Ergänzung wie Vertiefung des Lebens verwerthen. Es ist
eine, wir können nicht anders sagen als unwürdige Behauptung,
die Stellung, welche Männer wie z. B. Spinoza, Locke, Leibnitz
zum Ghristenthum einnahmen, aus blosser Rücksicht gegen die
herrschende Macht zu erklären, statt einen innem Grund dafür
zu suchen, weswegen Denker aller Richtungen, bei aller Ver-
schiedenheit der Auffassung des Christenthums, auf es selber
nicht verzichten wollten, ja grosse Kraft daran setzten, es mit
den neuen Ideen eng zu verknüpfen. Aber während damals der
Drang dahin ging, den eignen Kreis so weit wie möglich zu er-
weitem und in allem Fremden ein durch die Einheit der Vernunft
Verwandtes zu erkennen, trat bald das entgegengesetzte Streben
ein, das Specifische und damit den Gegensatz hervorzukehren, die
Culturbewegung verengte sich bei aller äussern Ausdehnung
198 Cultur.
innerlich mehr und mehr und nahm gegenüber den andern Lebens-
formen jenen oppositionellen Charakter an, der nun einmal
auf geistigem Gebiet durch die Eingrenzung des Horizontes end-
gültig weit mehr dem Träger selbst schadet als demjenigen, gegen
welchen der Kampf gerichtet ist
Diese Entwicklung vollzog sich ohne Frage nicht durch
Willkür oder gar Bosheit der Individuen, sondern mit innerer
Noth wendigkeit; aber eben deswegen bleibt es eine Thatsache
von der grössten Bedeutung, dass der Culturgedanke sich mehr
und mehr verengt und, was schlimmer ist, veräusserlicht hat.
Denn je mehr ausgeschieden wurde, je mehr die Gegensätze
verschwanden, desto weniger Veranlassung war, in die Tiefe hinab-
zusteigen und durch Einwärtswendung die Probleme zu lösen. Wie
unendlich viel weiter, freier und tiefer hat z. B. ein Mann wie Leibnit^
Aufgabe und Inhalt der Cultur bestimmt, als es heute auch von
ihren am meisten berufenen Vertretern geschieht? Wir werfen
andern Zeiten oft Enge und Einseitigkeit vor, und das nicht ohne
Recht, aber mit der Enge war nicht selten die Tiefe des Lebens
verknüpft, und ist nicht schlimmer als alle Beschränkung die
Veräusserliehung, die nur darum viel zu umfassen vermag, weil
sie nichts in die Innerlichkeit des Lebens aufnimmt?
Es ist unvermeidlich, dass eine solche Lage, welche die Er-
rungenschaften jahrtausendlanger Kämpfe gefährdet zeigt, auch
Zweifel gegen die Culturidee selber wachruft, und dass nun alle
Missstände und Entartungen der Zeiten und Individuen jener Idee
selbst schuld gegeben, alle specifische Gestaltung dem allgemeinen
Begriffe beigelegt, ja die bleibenden Schranken und Gebrechen
menschlichen Lebens auf jenes Grundstreben zurückgeführt werden.
Solchen ungerechten und oft kleinlichen AngriflFen gegenüber wird
es dann Aufgabe, wie für die Bedeutung der Cultur, so für den
ursprünglichen Inhalt der Neuzeit einzutreten. Wo immer auch die
Schranken der Cultur überhaupt und der neuem im besondem
liegen mögen, keine eingreifende Gestaltung von Leben und Welt
ist möglich ohne jene Entwicklung der Kraft, in welcher die
Neuzeit ihr Ziel sah, ohne eine Richtung des Individuums auf
Cultur. 1 99
das Weltganze mit der Fülle seines Inhalts. Auch die ethische
Aufgabe, welche nicht selten der Cultur entgegengestellt wird,
kann im Gresammtleben der Menschheit nur da Fortgang nehmen.
Wo sich dem Handeln ein reicher, ja universaler Inhalt bietet,
durch den das Individuum seinem ganzen Wesen nach ergriflfen,
innerlich geweckt und in thätiger Arbeit über sich selbst gehoben
werde. Wo. die Entwicklung der Kraft nicht versucht wird, da
bleibt alles, was an den Menschen herankommen mag, ihm ein
äusserUches, und auch das Lebensvollste erstarrt, wenn es nicht
von Lebendigem aufgenommen wird.
Individualität.
Llndividnalit^ enveloppe rinfini.
Leibnitz.
Auch bei der Behandlung des Principes der Individualität
mag es gestattet sein, zunächst einen Blick aitf die Grcschichte von
Wort und BegriflF zu werfen, Indiriduus gilt seit Cicero als Ueber-
setzung des aristotelischen AiiaiQsrog oder auch des demokriteischen
ärofiog, so dass es zur Bezeichung dessen dient, was nicht mehr
zerlegt werden kann*); ihm entgegen steht von Anfang an
dividuus. Diese Bedeutung bleibt auch im Mittelalter die vor-
wiegende**) ; aber es kommt schon im Ausgang des Alterthums
die Verwendung auf, welche später herrschend geworden ist Im
begrifflichen Anschluss an Porphyrius nennt Boethius individuum
aas Einzelne als einzigartiges***), welcher Sprachgebrauch in den
logisch -metaphysischen Untersuchungen des Mittelalters sich er-
hielt und nach und nach ausbreitete, zur weitem und allgemeinen
Greltung aber erst durch Leibnitz gekommen ist.
*) S. z. B. Seneca de provid. 5 : qnaedam separari a qnibnsdam non
possnnt, cohaerent, individna snnt. Notker tibersetzt individnus mit „nn-
spaltig*".
""") Man mnsB sich daher hüten, die mittelalterlichen Ansdrttcke durch-
gehend im neuem Sinn zu verstehen.
***) S. Commentar zu Porphyr, (edit. BasiL 1570, pg. 65): individuum
antem plnribus dicitnr modis. Dicitnr individuum quod omnino secari non
potest, ut nnitas vel mens; dicitur Individuum quod ob soliditatem dividi
nequit, ut adamas; dicitur individuum cujus praedicatio in reliqua similia
IndividnalitÄt. 201
Den dabei zu Grunde liegenden Begriff haben zuerst die
Stoiker ausgebildet und vertreten, aber die Epicureer und Skeptiker
nahmen sofort den Begriff auf, jeder freilieh um ihn zu seinen
Zwecken zu verwenden. Den Stoikern ist die Lehre von der
individuellen Verschiedenheit aller Wesen integrirender Theil
einer systematischen Weltauffassung. Aus Aet Idee der Voll-
kommenheit des Universums ergab sich der Satz, dass alles
einzelne verschieden sei und ein jedes etwas eigenartiges, ja
unersetzbares zum Ganzen beitrage. Dass sie diesem Gedanken
mit der stärksten Anspannung den schärfsten Ausdruck gaben,
entsprach ihrer ganzen Art: nicht zwei Haare und nicht zwei
Blätter, geschweige denn zwei lebendige Wesen sollten einander
gleich sein.*) — Die Epicureer standen dagegen fiir die Be-
deutung des Individuums ein, um die Unabhängigkeit des Einzelnen
zu rechtfertigen, während die Skeptiker den Begriff einer in-
dividuellen (geistigen und körperlichen) Verschiedenheit als Waffe
gegen die Möglichkeit einer allgemeingültigen Erkenntniss ver-
wandten.
In der principiellen Fassung geht dann die neuplatonische
non convenit, nt Socrates: nam cum illi sunt caeteri homines similes, non
convenit proprietas et praedicatio Socratis in caeteris, ergo ab üb qaae de
tino tantnm praedicantnr genns differt, eo quod de pluribus praedicetnr.
Ans Porphyrins führt Prantl I, 629 an: aro/xa Xiysrai ra roiavra, 07» 1^
idiori^tmy cvyicrijxsy ixactoy, toy to ad'qousfxa ovx ay in ccXkov riyog nore ro
avro yiyoiro tmy xara fiiQo^ und aus Boethins ebendaselbst: incommunica-
bilis Piatonis illa proprietas Platonitas appelletur. Wie wenig Veränderung
jene Bestimmung im Lauf der Zeiten erfuhr, geht daraus hervor, dass noch
Jacob Thomasins, der Lehrer Leibnitzens, definirte: individnum est quod
constat ex proprietatibus qnarnm coUectio nnmquam in alio eadem esse
potest — Individualis ist ein mittelalterliches Wort, es kommt z. B. bei
Adelard von Bath vor, s. Prantl II, 141.
*) S. z. B. Cicero acad. qnaest. II : dicis nihil esse idem quod sit aliud,
stoicnm est quidem nee admodnm credibile, nullum esse pilum omnibus
rebus talem, qualis sit pilns alins, nullum granum etc. Seneca ep. It3, 15:
nuUüm animal alteri par est, circumspice omnium corpora: nulli non et
color proprins est et fignra sua et magnitudo. 16: tot fecit genera foliomm :
nullum non sua proprietate signatnm. Plinins nat. bist. lih. VIT.
202 Individualität.
Schule einen erheblichen Schritt weiter. Nicht nur wird bei
Plotin die Besonderheit der Einzelwesen in einer alle Erfahrung
tibersteigenden Weise aus der Verschiedenheit der schaffenden
Vemunftacte begründet und damit die neuere Form der Lehre
angebahnt*), sondern es wird auch bei ihm und mehr noch
seinen Nachfolgern der Satz aufgestellt, dass jedes einzelne in
eigenthümlicher Weise innerlich die ganze Welt enthalte und
darin die Aufgabe des Lebens habe, dieses innerlich angelegte
zur vollen Entwicklung zu bringen. Die alte Lehre, dass die
kleine Welt ein Abbild der grossen sei, erhielt dadurch be-
stimmteren Gehalt und gesteigerte Bedeutung.**)
Das Mittelalter wandte der ganzen Frage ein vorwiegend
logisch - metaphysisches Interesse zu. Am hervorragendsten sind
hier die Untersuchungen des Duns Scotus über das Verhältniss
des Allgemeinen zum Besondem, des Noth wendigen zum Con-
tingenten, und es hat die Art, wie hier die Unabhängigkeit und
Positivität des letztern verfochten wurde, nachweisbar einen un-
mittelbaren und tiefgehenden Einfluss auf Leibnitz ausgeübt.
Die Neuzeit stellt durch Nikolaus von Kues den Begriff der
Individualität sogleich in den Vordergrund. Mag jener sich im all-
gemeinen den Neuplatonikem ansehliessen, so sind doch wichtige
*) S. Plotin, 540.
**) Die Lehre, dass jedes in jedem enthalten sei, ist mit ausdrücklicher
Beschränkung auf das physikalische Gebiet bekanntlich zuerst von Anaxa-
goras aufgestellt, während die Auffassung, dass das einzelne lebendige
Sein, vor allem das menschliche, ein Abbild des universalen biete, ihre
Wurzel in der platonischen Philosophie hat Der Gegensatz des iJLiyas
didxocfiog und fiixqog diaxocfiog findet sich schon als Titel demokriteischer
Schriften, s. ferner Aristot. phys. 252b, 24: «e cTlr ^qiqi tovro dvyatoy y^yi-
cd-ai, xi X(oXv€i ro aixo cvfjiß^yai xal xaxa ro nay; ei yaQ kv /äixq<^ xoCfÄ^
yiystai, xal iy fueyaXcp. Plotin führt die platonische Lehre weiter (s. z. B.
284 G: €<ni xal noXXa 17 %}wx^ xal navra xal ta avta xal xa xaxto av f^iXQ''
Ttatftjg ^tiirig xal Icfxly Bxaaxos xo<SfjLo$ yotjxog:) und fügt die Bestimmung der
individuellen Verschiedenheit hinzu , für die dann weiter Porphyrius und
Proklus eintreten, ^. z. B. Proklus (Cr. III, 103): nayxa iy näaiv. oixiiiag
^'iy €xa<fx(p. Das Wort Mikrokosmus {fiixqoxoüfios) ist erst nach dieser
begrififlichen Weitergestaltung und überhaupt sehr spät gebildet.
Individualität. 203
Fortbildungen und Neuerungen unverkennbar. Einmal tritt der
Begriff der unendlichen Entwicklung des Individuums weit mehr
heraus und gelangt die Selbstständigkeit und Innerlichkeit desselben
zu grösserer Anerkennung*); dann aber erhält der Gredanke der
individuellen Besonderheit mit veränderter Begründung eine neue
Gestalt. Die Einzelwesen sind deswegen verschieden, weil wenn
sie gleich wären, sie einfach zusammenfallen würden, eine Be-
weisführung, die nur in dem Ba,u einer alles Sein als ein
innergeistig -begriffliches fassenden Weltanschauung Berechtigung
hat.**) Indem endlich aber das Ganze, worin das Einzelne steht,
als ein stufenweise ansteigendes gedacht wird, erscheint jedes
Einzelne als ein eigenartiges und unvertretbares, und weist doch
zugleich auf das Andere und Ganze hin, da die eine Stufe nicht
ohne die andere sein kann.
Jordano Bruno, der zuerst den Ausdruck Monaden für die indi-
viduellen Einheiten als solche verwendet, vermittelt den Uebergang
zu Leibnitz, bei welchem darnach manche Anregungen zusammen-
treffen, und das Bedeutende nicht in dem liegt, was gewöhnlich
zuerst in die Augen fällt. Mehr als ein einzelnes Neue ist es die
consequente Verfolgung und der systematische Ausbau der sonst
vereinzelten Gedanken, der Versuch einer präcisen Fassung und
endlich die allseitige Verwerthung des Principes der Individualität,
welche seine hiehergehörigen Untersuchungen auszeichnen.***) Von
*) Es zeigt sich dies z. B. in der hier feststehenden Bezeichnung des
Geistes als eines lebendigen Spiegels des Weltalls, welches Bild von Eckhart
entlehnt sein dürfte, s. 326, 39 : als in einem Spiegel widerschinet maniger-
leie bilde, wSre aber in dem Spiegel ein enge, daz mühte alliu diu bilde
sehen als einen widerwnrf stner gesihte, s. auch 142, 26 ff. Dass das Ein-
zelne sich in das Ganze verlieren solle, wird bei Nikolaus nachdrücklichst
abgelehnt, s. I, 92a: Si in una camera mnltae ardeant candelae et camera
ab Omnibus illnminetur, manet tarnen Inmen cnjaslibet candelae distinctnm
a lumine alterins.
**) S. I, 210 b: non possnnt esse plara esse praecise aeqnalia, non
enim tunc plara essent sed ip^nm aequale. Die erste Aufstellung des sog.
principinm indiscemibiliam kommt also Nikolaus von Kues und nicht
Leibnitz zu.
***) Freilich ergibt sich bei dem allen auch viel specifisch Neues, aber
204 Individualität.
frühster Jugend an ist Leibnitz für jenes Princip eingetreten*),
zu allen wichtigem Problemen hat er es in Beziehung gesetzt
und für ihre Lösung genützt und es so recht eigentlich in die
gesammte wissenschaftliche Arbeit eingeführt Mit ihm tritt der
Begriff aus der Schule in das allgemeine Leben hinaus und wird,
nun im Vordergrunde des Bewusstseins befindlich, Gregenstand
mannigfacher Kämpfe, die bis auf die Gegenwart fortdauern.**)
Diese wissenschaftlichen Forschungen stehen, wenn auch
nicht in unmittelbarer Abhängigkeit, so doch in einem innem
Zusammenhange mit dem allgemeinen Verlangen, das Individuum
im Gresammtleben des Volksthums und der Menschheit zur Geltung
zu bringen. Lange bevor bei den Griechen das Individuelle
theoretische Erörterung und Kechtfeii;igung fand, hatte es sich im
Gesammtleben durchgesetzt; die volle Unterordnung, ja Auf-
opferung des Einzelnen, die im platonischen Staat zum Ausdruck
kommt, ist schon aus der Opposition gegen eine für verderblich
erachtete Zeitströmung hervorgegangen und trägt daher mehr den
Charakter sittlicher Energie und gesinnungsvoller Consequenz als
den ruhiger und einfacher Hingebung an ein Objectives, wie sie
sich bei den grossen Männern der vorhergehenden Periode findet.
Aristoteles sucht dann auszugleichen, indem er innerhalb des
Ganzen dem Einzelnen freiem Spieli*aum und eine gewisse An-
erkennung***) gewährt, die Stoiker wollten, wie wir sahen, dem
Individuellen einen Platz innerhalb des Weltsystems sichern;
dies herauBasnheben und zu würdigen, ist eher Sache einer streng philo-
sophischen Betrachtang.
*) Seine erste philosophische Abhandlung ist bekanntlich die dis-
putatio metaphysica de principio individni.
**) Begrifflich sind dabei übrigens die spätem Vorkämpfer der Indivi-
dualität, wie Herbart, Schleiermacher, der ältere Schelling, nicht über
Leibnitz hinausgekommen, so dass alle Behandlang des Problems aaf ihn
zurückgehen muss.
***) Für seine Auffassung vom Yerhältniss des Einzelnen und Ganzen
im Staate ist namentlich bezeichnend die Stelle Pol. 1263 b, 31: ^el fuey
yctQ i\yai mos fxiav xae rriv oixiay xai jrjy noXiy, ak^ov nayrmg, ttni fihy
ya^ wi" ovH tarai TiQoiavacc noXig, tart. d'tog tatai- fxiv, iyyvg d^ovact tov fjt^
Individnalität. 205
aber unbekümmert um solche Entgegnungen und Veimittlungen
der Philosophie ging das allgemeine Leben in der Geltendmachung
des Individuellen weiter und weiter, wenn auch freilich nur so weit,
dass es eine Macht neben den Gesammtordnungen, nicht aber
über ihnen oder gegen sie erlangte. Wie feste Schranken bei
allem freien Spielraum hier waren, zeigt am deutlichsten das
Verhältniss des antiken Staates zum Christenthum ; andererseits
aber wurde das Princip der Individualität so weit ausgedehnt,
dass selbst eine so milde Natur wie Quintilian seine Ueber-
spannung in der Erziehung bekämpfen musste.*)
Im Lauf der Jahrhunderte sehen wir endlich parallel mit
dem Verfall des öffentlichen Lebens in den geselligen Beziehungen,
im Verhältniss der Geschlechter und in der Stellung des Menschen
zur Natur immer mehr ein innerliches Leben frei werden und
dabei die individuelle Empfindung vorantreten, aber wenn eine
solche Strömung auch stark genug war, dem Einzelleben in
Stimmungen und Gefühlen eine neue Welt aufzuschliessen, so
war sie nicht fähig, auf die Gestaltung des gesammten Lebens-
inhaltes umformend zu wirken. Ein solches blieb der Neuzeit
vorbehalten, deren Bildungen durch manche, oft fast unsichtbare
Fäden mit den Ergebnissen der absterbenden Antike zusammen-
hängen.
Die Stellung des. Christenthums zum Probleme der Indivi-
dualität zutreffend dazulegen ist nicht ohne Schwierigkeit, da sich
hier verschiedene Motive entgegenstehen. Vor allem muss in dem
Zusammenhange einer Weltauffassung,, der das Sittlich - Eeligiöse
den einzigen Inhalt und Zweck von Welt und Leben ausmacht,
das in jedem Einzelnen innerlich Geschehende das Allentscheidende
werden und damit das Individuum eine unermesslich gesteigerte
Bedeutung erhalten. Eine durchgehende Ueberzeugung der
Kirchenlehrer war in bewusstem Gegensatz zum Alterthum, dass
TioXiff elvai iaxai )[üqiav noXig, iaansQ xScv ii xig xriv avfxtfvaviav noiriamv o^o-
€p<ayitty tj tov qvd-fjiov ßaaiv fxiay, s. auch 1264b, 17.
*) S. instit. erat. II, 8 : an secnndum sni qnisqne ingenii natnram do-
cendus sif.
206 Individualität
jeder Einzelne Gegenstand der göttlichen Fürsorge sei, weswegen
auch die Kirche jedem Einzelnen ihre Thätigkeit zuwenden müsse.
Durch die während der ersten Jahrhunderte allgemein festge-
haltene Lehre von der unbegrenzten Willensfreiheit wird auch
der Form des Handelns nach dem Einzelnen eine Selbstständigkeit
gesichert, und in der Idee einer organischen Verbindung der
Individuen innerhalb eines umfassenden Ganzen gelangt die speci-
fische Eigenthümlichkeit zur Anerkennung.*) Andererseits spricht
aber gegen die Annahme eines absoluten Werthes des Individuums
schon die Lehre von der Ewigkeit der Verdammniss, und dass
in jener Zeit von einem Rechte des Einzelnen gegen das Ganze
überhaupt nicht die Rede sein kann, bedarf keiner Erörterung.
Sobald der Einzelne von der Gesammtordnung abweicht, gilt er
als ein irrender und zur Wahrheit (selbst durch Zwangsmittel)
Tsurückzubringender. Durchgehend steht das Ganze vor dem
Einzelnen, es theilt sich, Glauben und Gehorsam fordernd, ihm
als objective Macht mit, so dass alles, was im Individuum
vorgeht, nur in der Aneignung eines über seine Willkür er-
habenen Inhaltes bestehen kann. Es ist keine Erlösung des
Einzelnen möglich, ohne dass die Erlösung für die Gesammtheit
als weltumfassende That geschehen wäre und geschähe, „dass der
Gegensatz an sich aufgehoben ist, macht die Bedingung, Voraus-
setzung aus, die Möglichkeit, dass das Subjekt auch für sich ihn
aufhebe" (Hegel Xn, 228). — Ob beide EicTitungen zu einer
vollen Ausgleichung gekommen sind, ist nicht nur fraglich,
sondern scheint schon deshalb eher verneinend beantwortet werden
zu müssen, weil thatsächlich die Anerkennung des Individuellen
immer mehr zurückgedrängt wurde. Niemand hat dazu mehr
beigetragen als eben der Mann, der, wie in der ganzen Erfassung
von Welt und Leben, so auch in der Aneignung des Christen-
thums seine eigne Individualität zur vollsten Geltung gebracht
hat : Augustin.
*) AUes in Allem dürfte nnter den Kirchenvätern Origenes das Princip
der Individualität am meisten znr Geltung gebracht haben.
Individualität. 207
Freilich fehlt auch im Mittelalter eine Gegenströmung nicht
Unter den einzelnen Persönlichkeiten tritt in hervorragender Weise
Abälard in Leben und Lehre für das Recht der Individualität
ein und er hat namentlich durch seine Theorien von dem Grewissen
und der Grcsinnung bleibendes dafllr geleistet; als Gesammt-
richtung wirkt die Mystik, die nicht auf die Innerlichkeit des
religiösen Lebens dringen konnte, ohne den ganzen Lebensprocess
weit unmittelbarer in den Einzelnen hineinfallen zu lassen.*) — Aber
es blieb doch der Keformation, und vor allem Luther, vorbehalten,
das religiöse Leben der einzelnen Persönlichkeit als Grundlage
des gesammten Ghristenthums anzuerkennen und damit dem
Einzelnen die volle Unabhängigkeit principiell zu sichern.**) Nur
darf nicht vergessen werden, dass die Freiheit, welche Luther so
energisch verlangt, nicht dem Menschen schlechthin, sondern
nur dem Christen erstritten wird, so dass sie feste Voraus-
setzungen und eine inhaltliche Bestimmtheit hat. Eine abstracte
und vage Freiheit findet an Luther keinen Vertheidiger.
Der Neuzeit dagegen ist nun allerdings die Individualität
und die individuelle Freiheit des Menschen als Menschen Grund-
lage des gesammten Lebens. Jeder soll die ganze Welt auf
seine Innerlichkeit beziehen, aufnehmend sie sich aneignen und
das innerlich Gestaltete dann nach aussen zur Geltung bringen.
*) In charakteristischer Weise sagt Eckhart (3, o) : Ez sprichet sanctus
Aagnstinas, daz disiu gebnrt (nämlich Gottes in der Seele) iemer geschehe.
Sd si aber in mir niht geschihet, was hilf et mich daz? Aber daz si in mir
geschehe, da Itt ez allez an. Aehnlich wie Luther (de übertäte Christiana)
verlangt, ut non tantnfa sit Christus, sed tibi et mihi sit Christus.
**) Obenan steht hier die Schrift de libertate Christiana. S. femer de
capt. Babyl. de sacr. bapt.: Neque papa neqne episcopus neque uUus ho-
minnm habet jus nnius syllabae constituendae super Christianum hominem,
nisi id fiat ejnsdem consensu; qnicquid aliter fit, tyrannico spiritu fit De
matrim.: Qnis dedit hominibus hanc potestatem? Este, fnerint sancti et
pio zeio dncti, quid meam libertatem vexat aliena sanctitas? Quid me
captivat alienus zelus? Sit sanctus et zelotes, quisqnis volet et quantum
Übet, modo alteri non noceat et libertatem mihi non rapiat.
208 Individttalität.
Es findet damit eine Befreiung von allen Schranken und eine
Erweiterung des Lebenskreises statt, welche im Grunde die äusser-
liche Weiterspannung des Welthorizontes noch übertriflFt Wie in
der Naturbegreifung der Blick nach Zerschlagung der einengenden
Sphären sich in's Endlose erging, so zerbrach auch hier alles,
was den Menschen mit seinem Wirken in geschlossene Kreise
gebannt hatte ; auch hier sollte jeder ein unermessliches sich zur
Aufgabe stellen, aber hier konnte die Unendlichkeit, in die sich
dort der Einzelne verlor, in dem „universellen Samenkorn'' des
vernünftigen Wesens ergriffen und erlebt werden. Statt einer
Welt haben wir so unzählige Welten, so dass der Lebensproeess
der Menschheit sich unvergleichlich steigert.
Und dazu ist es noch weniger die Ausbreitung als die Verr
tiefung, welche das Neue von dem Alten scheidet. Indem das
Individuum die Welt in sich aufnimmt, soll es sie auf ihre eigene
Innerlichkeit und Wesentlichkeit zurückführen, das Aeussere wird
umgewandelt, belebt, vergeistigt, das geistige Leben selber da-
durch erfüllt und gekräftigt, so dass das eiqe mit dem andern
gewinnt und sie zusammen im unendlichen Process fortschreiten.
Die Tiefe hat hier ebenso wenig eine Grenze wie die Weite.
Dem also begriffenen Individuum kann keine in der er-
scheinenden Welt vorliegende Ordnung eine Schranke setzen.
Denn als Keim des Unendlichen und Träger wie Umwandler des
Universums ist es allen noch so werthvoUen Gestaltungen ebenso
unvergleichlich überlegen wie das Unendliche dem noch so ge-
steigerten Endlichen. Weder Staat noch Kirche kann die Zwecke
des Wesens erschöpfen, das unmittelbar in sich die ganze Vernunft-
weit hat. Statt dass jene Ordnungen als Organismen erscheinen,
welche den Einzelnen als Glied umfassen, werden sie vielmehr
vom Individuum aus gebildet und gehalten, als dem Funkte,
wo das Unendliche und Ewige in das Erscheinende eingeht. Soll
eine Form des Zusammenlebens gefunden werden, so kann es
nur die der Gesellschaft sein, in der alles auf den freien, wenn
auch nicht innerlich unbestimmten Willen der Einzelnen zurück-
Individualität 209
kommt Auch Staat und Kirche erscheinen jetzt einfach als Arten
der Gesellschaft.*) — Ja die Freiheit des Individuums geht so
weit, dass es ein ihm zwingend Gegenüberstehendes überhaupt
nicht anzuerkennen vermag. Es hat das Gesetz seines Lebens
in sich selbst und treibt aus dem eignen Wesen die Formen des
Handelns hervor, so dass ebenso wie bei dem gesetzlichen Gre-
schehen in der Natur der Gegensatz des Einzelnen und Allgemeinen
als aufgehoben erscheint.
Aber eine solche Erhebung des Individuums war ursprüng-
lich an ganz bestimmte Voraussetzungen gebunden. Jeder Einzelne
erscheint als Theilnehmer einer intelligiblen Vemunftwelt, und nur
die Stellung in dieser vermag den unendlichen Werth zu recht-
fei-tigen, den man ihm zuspricht. Es ist darnach nicht das
empirische, sondern das intelligible Individuum, das Individuum
als Idealbegriff, wofür jene Auffassung zutrifft. Als solches aber
ist dasselbe nicht ein fertiges und abgeschlossenes, sondern ein
sich entwickelndes und in's Unendliche steigerndes, nicht ein
isolirtes und sich Welt und Menschen entgegensetzendes, sondern
ein sie umfassendes und in seinen Kreis aufnehmendes. Mag
das Individuum immer nur sich selbst leben, es kann dies nach
seiner Grund bestimmung nicht thun, ohne die ganze Welt mitzu*
leben, und wenn es das Eecht und unter Umstanden auch die
Pflicht hat, sich allen gegebenen Ordnungen entgegenzustellen, so
kann dies nur geschehen, weil es in der Yernunftwelt eine feste
Stellung hat, und weil von hier aus seine Freiheit erfüllt und
gerichtet wird. Es ist nicht die reflectirende Willkür der sub-
jectiven Vernunft, . welche das Lesben beherrscht, sondern das
Gesetz der objectiven Vernunft, deren Inhalt mit dem Weltall
zusammenfällt
Eine solche Auffassung mag das Princip der Individualität
gegen die gewöhnlichen Angriffe schützen, an einem schweren
innem Problem, ja Conflict hat sie selber ohne Zweifel zu tragen:
an der thatsächlich vorhandenen Differenz des Empirischen und
*) Es tritt das principiell namentlich klar bei Locke hervor.
Enoken., Geschichte und Kritik. t4
210 Individualität
IntelligibleiL In der Erscheinung ist nun einmal das Individanm
eins neben andern, abhängig, besehränkt, ja sich selbststtchtig'
absondernd und gegen die Vemunftaufgaben verschliessend. Nun
soll es sich freilich entwickeln, erweitem, steigern, und es wird
aufs strengste festgehalten, dass auch das scheinbar Wider-
vemänfdge nur eine niedere Stufe des Vernünftigen ausmache,
und dass es kein radical Böses gebe, aber auf jeden Fall bleibt
die Kluft zunächst rorhanden und das Empirische ist im Leben
unbestreitbar eine Macht Wie soll, um nur eins herauszuheben,
von hier aus ein Zusammenleben der Menschheit nach yemünftigen
Principien ermöglicht werden? Kann eine Socialethik, für welche
Antike und Ghristenthum gleichmässig eintreten, hier noch auf-
recht erhalten werden, und droht nicht der Zusammenhang mensch-
lichen Lebens und Handelns auseinander zu fallen?
Dazu ist der Abstand zwischen intelligiblem und empirischem
Individuum eben in der Neuzeit grösser geworden als je zuvor.
In dem Masse wie jenes erhoben, ist dieses herabgesetzt Während
im Alterthum es möglich war, dass ein einziger Mann, wie Aristo-
teles, das gesammte Wissensgebiet umspannte, muss sich in der
Neuzeit selbst ein Leibnitz damit begnügen, Giimdzüge festzu-
stellen und Aussichten in die Feme zu entwerfen, und wird fort-
während der Antheil des Einzelnen am Gesammtbesitze kleiner.
Denn mag der Einzelne noch so rascli fortschreiten, weit rascher
bewegt sich das Ganze vorwärts. — Femer wird die technische Herr-
schaft des Menschen über die Natur, worin wir eine unterscheidende
Eigenthümlichkeit der Neuzeit erkannten, nur dadurch herbei-
geführt, dass sich der Einzelne in Reih und Glied stellt und an
seiner Stelle nur seine Arbeit venichtet. Wenn Franklin den
Menschen ein werkzeugschaflfendes Wesen (a tool-making animal)
nennt, so leuchtet ein, wie sehr dabei die Gemeinschaft der Arbeit
vorausgesetzt wird. Denn was anders vermag auch das bedeutendste
Individuum, als an einzelnen Punkten wenige Schritte vorwärts
zu thun, dabei alle früheren Leistungen voraussetzend und ver-
werthend. In dem Leben und Treiben der Fabrik tritt ein Problem
nur besonders greifbar hervor, welches dem ganzen neuem Leben
I*
Individualität. 211
gemeinBam ist: durchgehend ist die Grefahr, ja die Noth wendig-
keit, dass der Einzelne sieh als Theil eines grossen Mechanismus
erkennen und auf das Ganze verzichten muss. Das Gesammt-
ergebniss mag so unermesslich gesteigert werden, die Frage lässt
sich nicht zurückdrängen, wem es denn eigentlich geistig-innerlich
zu Gute komme ? — Auch in der Gestaltung des socialen Lebens
ist die Abhängigkeit des Einzelnen eine weit grössere geworden.
Neben die freie Gesellschaft tritt daher in's Bewusstsein die wirth-
schaftHehe Gemeinschaft, worin das Individuum gebundener er-
scheint als je zuvor durch die Ordnungen von Staa( und Kirche.
Aber abgesehen davon, dass solche Probleme erst nach und
nach hervorgetreten sind, haben sie selbst da, wo sie dem Be-
wusstsein gegenwärtig waren, in der Zeit aufstrebender Entwick-
lung mehr dazu gedient, die Kraft aufs äusserste anzuspannen
als vor dem Wagniss zurtlckzuschrecken. Auch wo man das
Missverhältniss von Vernunft und Erscheinung zugab, schien ein
Verzweifeln nicht im mindesten rechtfertigt, denn aus dem Wider-
spruche des Unendlichen und Endlichen erwuchs ja eben die Auf-
gabe von Welt und Leben, und alles Geschehen hatte keine
andere Bedeutung als jenen Widerspruch im fortgehenden Process
zu überwinden.
Doch nun entstanden weitere Verwicklungen dadurch, dass
eine andere Auffassung vom Individuum sich mit der eben dar-
gelegten verband, eine Auffassung, die in einer streng physikalisch-
mechanischen Begreifung der Welt ihre Wurzel hat. Hier gilt
das Individuum als das erfahrungsmässig allein Gegebene, an dem
als Träger sich alles andere Geschehen vollzieht. Es ist das
unveränderliche Atom, aus dem sich alle weitere Gestaltung auf-
baut, auf das alles zurückkommen muss, wenn es irgend welche
Bealität in der Welt besitzen will. Die Bedeutung ergibt sich
hier also nicht aus der Beziehung auf ein Vernunftreich, und von
der Anwendung eines Werthbegriffes kann folgerichtig nicht die
Bede sein, sondern nur soweit das Einzelwesen existirt und als
Kraft wirkt, darf es Anerkennung finden. Macht und Kecht müssen
hier als vollständig zusammenfallend gedacht werden. Von hier
14*
*2 1 2 Indmdn&lität
auH angesehen erscheint die Grestaltong der G^neinisehaft als ein
physikalisch -mechanisches Problem, es gilt die einzelnen Kräfte
in ein solches Verhältniss zn bringen, dass sie sich gegenseitig
möglichst wenig stören, während ideale Aufgaben hier keine Statte
finden.
Solche Theorien, die wir bei Hobbes, dem consequentesten
Staatsphilosophen der Neuzeit, eingehend entwickelt finden, mögen
in den Grundlagen angegriffen werden, einer begrifflichen Ver-
wirrung leisten sie nicht den mindesten Vorschub. Eine solehe
entstand aber in weitestem Umfange dadurch, dass auf dieses
empirisch-atomistisehe Individuum die ganze Werthschätzung fiber-
tragen wurde, welche f&r den Idealbegriff eines sich in's Unend-
liche steigernden Mikrokosmus ei^ämpft war. Bas einzelne Indi-
viduum gilt, so wie es vorliegt, als werthvoll; unabhängig von
aller Verbindung in Gemeinschaft und Geschichte, ja ohne Zu-
sammenhang mit einer intelligiblen Welt erscheint es doch als
vemunfterfttllt und wie der Grund, so das Mass aller Wahrheit;
der normale Zustand, der bei der frühem Auffassung dem Streben
als Ziel vorschwebt, dünkt hier von vorn herein gegeben, und
die ganze? Ordnung des Lebens baut sich auf diese Voraus-
setzung auf.^j
Die Folgen einer solchen Idealisirung der Erscheinung*
sind leicht zu überschauen. Die Vergötterung der Zufälligkeit
der einzelnen Individuen muss nothwendig schliesslich zu einer
Herabminderung, ja Zerstörung der Vemunftaufgaben führen und
allen ideellen Inhalt des Lebens in ernstliche Gefahr bringen. Das
Individuum erscheint nun als etwas, das überall absolute Aner-
kennung und Genuss des Daseins verlangen, und unabhängig von
aller Bestimmtheit und Thätigkeit Rechte und Ansprüche geltend
machen dürfe**), ja alles Willkürliche und Niedrige kann sich
*) Bis auf die Gegenwart ist für das ganze praktische Leben, wie
z. B. tür die Erziehung und namentlich die Gesetzgebung, es bezeichnend,
normale Menschen und normale Verhältnisse als gegeben vorauszusetzen.
**) Für die Gegenwart ist es bemerkenswerth, dass die Priorität der Rechte
Individualität. 213
durch das Princip des unendlichen Werthes der Individualität
decken, während doch nur jener IdealbegriflF sich mit Recht
darauf berufen konnte. Feiner muss die hier vertheidigte absolut
inhaltlose und subjective Freiheit, als letztes Princip hingestellt
nicht nur diese oder jene, sondern jede vernünftige Gestaltung
des Gesammtlebens unmöglich machen, und wenn sie auch
ihre auflösende Kraft zunächst an dem ihr als fremd lieber-
kommenen bezeigt, so muss sie sich schliesslich am zerstörendsten
gegen die Ideen wenden, durch deren Entstellung sie eine ge-
schichtliche Macht geworden ist
Darüber soll freilich nicht verkannt werden, dass diese Ideali •
sirung des Empirischen zunächst der Anspannung aller Kräfte
diente, die Menschen glaubten ernstlich an ihre Vollkommenheit
und entnahmen diesem Glauben Motive zu grossen Handlungen,
aber bald musste der Widerspruch hervortreten und die innere Un-
wahrheit des Ganzen sicK geltend machen. — Die Keime jener Be-
griflFsverwirrung gehen bis in die Anfänge der Neuzeit zurück, bei
Spinoza tritt sie schon greifbarer hervor, bei Locke aber wird sie
Grundlage der gesammten praktischen Philosophie und äussert
von hier aus nach allen Kichtungen Einwirkungen. Doch fand
bei den Engländern der Gedanke des absoluten Werthes und der
absoluten Freiheit des Individuums von den geschichtlichen Ge-
sammtgestaltungen her so viel Ergänzung und Milderung, dass
die vollen Consequenzen nicht hervortraten. Es blieb Bousseau
vorbehalten dieselben nach allen Seiten auszuführen. Hier ist
in geradezu classischer Weise und in vollendeter Form die Be-
vor den Pflichten nicht selten ganz unverhohlen, wenn auch offenbar ohne
jede Ahnung der sich daraus ergebenden letzten Consequenzen verkündet
wird, 8. z. B. Bourdet, vocabulaire des principaux termes de la philosophie
positive p. 55: les religions, soit r^v^l^es, soit metaphysiques , placent les
devoirs avant les droits ; mais la science exp^rimentale les pose inversement.
Pour eile, les prörogatives personelles sont le fait n^cessaire de la vie et
de la civilisation. Solche Begriffsverwirrung darf aber weder einem Ein-
iselnen noch einer Schule zum besondern Vorwurf gemacht werden, da sie
ein £rgebniss der Gesammtbewegung ist.
214 IndividuaHtät.
Ziehung defi geBammten Weltinhaltes auf die Innerlichkeit des
empirischen Individuumfi durchgeführt, aber es tritt auch klarer
als iigend wo anders der Widersinn hervor, dem isolirten Einzel-
wesen Strebungen und Empfindungen zuzuschreiben, die erst im
Gesammtleben und in Folge einer langen allmähligen' Gestaltung
ausgebildet sind.
Mit dem Höhepunkt, den diese Lehren bei Rousseau und der
seine Gedanken in's Praktische umsetzenden französischen Revo-
lution erreichten, trat naturgemäss der Bflckschlag ein. Von ver-
schiedenen Punkten aus ward ein (regenwirken rersucht. Der
deutsche Idealismus war bei aller sonstigen Verschiedenheit darin
einig, gegenüber der Zufälligkeit des empirischen Individuums
die Nothwendigkeit und Allgemeingültigkeit der Vemunftzwecke
aufrecht zu erhalten; im allgemeinen Leben wuchs die Aner-
kennung der Gresammtgestaltungen, mochte man sich nun für Staat
oder Kirche entscheiden, und es ward das Verlangen nach einer
mehr socialen Ordnung des Lebens und E[andelns immer mächtiger.
Aber so sehr wir hier in der Kritik und in einzelnen abstracten
Sätzen zusammengehen mögen; sobald es sich um ein positives
coneretes System gegenüber dem Bekämpften handelt, führen die
Wege auseinander und eröffnen sich Schwierigkeiten über Schwierig-
keiten. Der Socialismus im engem Sinn darf als ein aus folge-
richtiger Consequenz jenes Individualitätsprincips hervorgegangener
Rückschlag und insofern als eine auf dem eignen Boden der
Neuzeit erwachsene geschichtliche Macht anerkannt werden, aber
er hält die Verwirrung des Intelligiblen und Empirischen fest,
ja steigert sie, und thut den tiefem geistigen Bedürfnissen so
wenig Genüge, dass er bei aller Berechtigung im Einzelnen weit
davon entfemt ist, das hier vorliegende Problem zu lösen. Eben-
sowenig aber wird die Lösung von einer Anspannung und Ideali-
sirung des mittelalterlichen Kirchenbegriffes oder des antiken
Staatsbegriffes erwartet werden können.
Jene Gestaltungen reichen einmal nicht aus, die Fülle und Tiefe
des Lebens zu umfassen, das die neue Zeit dem Individuum eröffnet
hat; das sich die Welt zum Inhalt Gebende kann nicht wieder
•
/
Individualität. 215
in engere Formen zurückkehren, und das in unergründliche Tiefe
Dringende kann nicht in Gliederungen der erscheinenden Welt
sein Wesen erschöpfen. Und ebenso wenig wie der Gedanke des
unendlichen Werthes des Individuums als eines vemunfttragenden
Ganzen verloren gehen kann, kann er an zweite Stelle treten. —
So steht unsere Zeit mitten in dem Widerspruch und Kampf, und
wird^ dadurch um so mehr aufgeregt, als derselbe unmittelbar in
das Leben des Einzelnen hineinwirkt.
Humanität.
1/koBBe B'eBf u aage w bete: et
le Balkcw wemt qve qvi vent faire
Tzm^ fiüt b bete.
PascaL
E» ist nicht ohne Schwierigkeit dem B^riff der Homanität
eine nmgreaxto Fnaeang abzugewinnen. Denn wissensehafUiehe
und populäre Bestimmnng. engere und weitere Bedeutung gehen
in dem Gebrauch fast unmerklich in einander fiber, und es ist
nieht zum geringsten Theil Folge solchen Schwankens, wenn es
der Aufmerksamkeit entgeht, wie viele Probleme an dieser Stelle
liegen. Ffir unsere Betrachtung scheiden sich namentlicb zwei
Fassungen, ohne deswegen ausser Verbindung mit einander zu
stehen : die Humanität als eine specielle Tugend im Systeme der
sittlichen Lebensaufgaben und die Humanität als allumfassendes
Prineip, welches das Handeln und Empfinden beherrscht
Eine deutliehe Ausprägung und allgemeine Bedeutung haben
beide BegrifTe erst erhalten, als das antike Leben schon im Sinken
war« Der später verwandte Terminus ^ikavd-Qtonia findet sich
freilich schon bei altem Schriftstellern, aber erst bei den Stoikern
gewinnt er den hier in Betracht kommenden specifischen Sinn.*}
Es musftten eben die engem Lebensformen, welche den Menschen
bis dahin vorwiegend in Anspruch genommen hatten, wenn auch
*) (fikay^domog und q)ikav9^Qomia diente anfanglich nur zur Bezeichnung
eine» freundlichen Benehmens gegen die Menschen (so namentlich yon den
Göttern); wie wenig wissenschaftliche Bedeutung der Begriff hatte, zeigt
schon dies, dass bei Aristoteles das Substantiv ffdayd^qtama nie vorkommt.
Humanität. 217
nicht zerstört, so doch weit genug zurückgedrängt sein, um an
dem Menschen das Menschliche als das Wesentliche erscheinen
zu lassen. — Bei den Stoikern beruhte die Werthschätzung des
Menschen auf seiner Stellung zur Vernunft, aber sehr bald ward
der in einem solchen Zusammenhang gebildete Begriff auch von
andern Seiten ergriffen, in andere Beziehungen gebracht und damit
umgewandelt. Im spätem Alterthum gingen die verschiedenen
Fassungen mit all ihren Problemen und Verzerrungen ähnlich aus-
einander und durcheinander wie in der Neuzeit
Nun aber trennt sich die Geschichte der engem und der
weitem Fassung. Dass sich aus dem Verhältniss von Mensch
zu Mensch gewisse Aufgaben und Empfindungen ergeben, das
konnte, nachdem es einmal klar herausgestellt war, natürlich
nicht wieder verloren gehen ; dass aber dies Verhältniss als
das die ganze Lebensthätigkeit durchdringende und leitende an-
gesehen wird, das ist an gewisse Voraussetzungen der Welt-
begreifung gebunden und daher als ein CharakteriRtisches der
Zeiten zu erachten.
Jedoch auch bei der Humanität in jenem engem und
principiell allgemein anerkannten Sinne zeigt sich, sobald die
nähere Bestimmung des Inhaltes in Frage kommt, so viel Ab-
weichung, dass man geradezu entgegengesetztes unter den Begriff
bringen konnte. Zunächst ist schon der' Ursprung dieser Humanität
ein zwiefacher: nämlich einmal die Ueberzeugung von dem
einzigartigen Werthe des Menschenwesens, dann aber ein Complex
von Empfindungen, welche sich in dem Zusammenleben der
Menschen bilden. Für jene Ueberzeugung wird die ganze Auf-
fassung der Welt und der Stellung des Menschen in ihr in Betracht
kommen ; je nachdem hier der Mensch im Ganzen erscheint, wird
er auch dem Mitmenschen werthvoll sein, so dass darnach der
Inhalt der Humanität wie ihre Bedeutung unter den menschlichen
Aufgaben verschieden wird und in die geschichtliche Bewegung
eingeht. Immer aber ist das aus solcher Humanität gewirkte
Handeln durch festliegende Gesammtzwecke bedingt und bestimmt,
und gemeinsam' ist femer aller Mannigfaltigkeit die Auffassung
21 S Hamanität.
der Humanität als einer Pflicht, der Mensch tritt fär das ein, web
ihm selber Werth verleiht, indem er die andern Yemunftwesen
achtet und fordert
Aber nicht minder dienen rein natürliche Triebe der Humanität.
Es ist die Gleichheit der Lebensbedingungen, der Geschicke und
Empfindungen, die das, was den einen betrifft, auch ftir den
andern unmittelbar etwas werden lässt. Spinoza hat scharfsinnig
dargelegt, yrie aus dem allgemeinen Mechanismus des psychischen
Lebens heraus sich sympathische Gefühle und Handlungen er-
geben müssen, und wenn auch dem von ihm Gewürdigten vielleicht
noch Einflüsse von andern Seiten sich verbinden, so braucht
doch jener Boden des blossen Empfindungsgetriebes nicht verlassen
zu werden, damit die Humanität eine Macht für den Einzelnen
und das Ganze werde.
Diese Humanität der Empfindung hat nicht von vom herein
einen bestimmten Inhalt und eine daraus erwachsende feste Auf-
gabe, sondern sie lässt die Dinge an sich herankommen, um da
und dort einzugreifen, wo sie am meisten angeregt wird. Und
es ist nicht so sehr der thätige Mensch, der ihre Theilnahme
wachruft als der leidende, nicht das vernünftige, durch Zwecke
gelenkte Wesen, sondern das empirische Individuum mit allen
seinen Zufälligkeiten und Mängeln, die hier nur als Schwächen
erscheinen. Die Bedeutung dieser dem Mitleid nahe verwandten
Art der Humanität besteht vor allem darin, die Forderung der
Vernunft, zum Menschen ein menschliches Verhältniss einzunehmen,
dem Einzelnen innerlich nahe zu bringen und mit seinen natür-
lichen Trieben zu vermitteln, femer auch daidn, gegen etwaige
Einseitigkeiten der begrifflichen Auffassung ein Gegengewicht zu
bilden; aber ausschliessend hingestellt würde sie in's Unbestimmte
und Formlose verfallen, wie wir denn sicher sein können, der
grössten Verworrenheit der Begriffe zu begegnen, wo diese Art
der Humanität zum Ausgangspunkt der Lebensführung gemacht
werden soll. Auch eine geschichtliche Macht ist die Humanität
nie von diesen Empfindungen aus geworden, da dieselben bei aller
Bedeutung für das individuelle Leben doch zu • sehr eines be-
Humanität. 219
harrenden und gemeinBamen Inhaltes entbehren, um für die
GresammtverhältniBse etwas erhebliches leisten zu könneiL Ja
alles Zufällige und Fehlerhafte kann sich unter den Schutz jener
Empfindungen flttchten und in dem Masse Anerkennung fordern
und erhalten, dass eine solche Humanität geradezu der sittlichen
Ordnung und den Gesammtzwecken der Menschheit feindlich ent-
gegentritt.
In den geschichtlichen Gestaltungen verweben sich natür-
lich beide Arten der Humanität, wobei bald die eine bald die
andere mehr hery ortritt, der specifische Inhalt aber stets vor-
wiegend von der Idee gegeben wird. Eine Verfolgung dieser
Gestaltungen liegt freilich ausserhalb unserer Aufgabe, nur dürfen
wir in dem Bestreben, etwaige Verwirrung der Begriffe aufzu-
decken, nicht unterlassen, auf den wesentlichen Unterschied der
christlichen und der neuern Humanität hinzuweisen.
Dem Ghristenthum besitzt der Mensch nicht von Natur eine
unbestreitbare Würde, sondern er gewinnt alle Bedeutung erst
durch das Verhältniss zu Gott, so dass auch in dem Zusammen-
leben er nur als präsumtives Mitglied des Gottesreiches Gregen-
stand der Werthschätzung und thätigen Fürsorge werden kann.
Wie die ganze Ethik, so ist auch die Humanität des Ghristen-
thums von dem religiösen Grunde nicht abzulösen. Letzter Zweck
humaner Thätigkeit muss daher die Gewinnung des Einzelnen
für die ethisch - religiöse Aufgabe sein, weswegen sie sich vor
allem an das Innere wendet, hier umgestalten und neuschaffen
möchte. Was das Aeussere anbelangt, so wird Unglück und
Elend als ein in der sündigen Welt nicht aufzuhebendes erachtet ;
es kann daher nicht der Versuch gemacht werden, es gänzlich zu
beseitigen, sondern nur da, wo es das Eiuzelleben geradezu ge-
fährdet und niederdrückt, in den Folgen aufzuheben. An diesem
Punkte aber kommt eine reiche Fülle von Empfindung zum Aus-
druck, und es erweist sich das Christentlium hier weit milder
und weicher als die Idealisten des sinkenden Alterthums.*)
♦) Es tritt das z. B. in der Art hervor, wie die Kirchenväter, nament-
220 Humanität.
Indem die Neuzeit hingeg^en den Mensehen der gemeinsamen
Vernmift wegen hochstellt, muss die Humanität sich von aller
Abhängigkeit befreien und vor die andern Aufgaben treten, und
indem femer als Lebensinhalt die Entwicklung und Bethätigung
aller Kraft gilt, muss diese Zeit es dem Einzelnen gegenüber f&r
Pflicht erachten, ihn in solche Thätigkeit hineinzuziehen, alles
in ihm Angelegte zu Verwirklichung zu bringen, die äussern
Mittel zu gewähren, durch welche das Handeln bedingt ist, und
alle Hemmnisse wegzuräumen, die ihm entgegenstehen. Dabei
wird innerlich der Einzelne als von Natur in normaler Sichtung
sich bewegend angesehen, so dass nicht eine Umwandlung, sondern
nur eine Steigerung des Lebens in Frage stehen kann. Aber
darum darf man der neuem Humanität noch nicht den Vorwurf
machen, dass sie nur die äussern Verhältnisse in's Auge fasse,
vielmehr sollte ursprünglich alles Aeussere nur dem innem Leben
dienen, bis dann freilich nach und nach die gefahrdrohende
Wendung eintrat, dass von der Fürsorge für das Aeussere und
von der Wegräumung äusserer Hemmnisse alle Glückseligkeit
erwartet wurde. Was aber diese Hemmnisse anbelangt, so sollen
sie nicht nur hie und da bekämpft und in ihren Folgen abge-
schwächt werden, sondern sie erscheinen als ein in der vernünftigen
Welt durchaus nicht sein sollendes und durch angespannte Thätig-
keit in der Wurzel zu vernichtendes. Daher wird den üebeln der
Welt entgegen eine weit umfassendere und eingreifendere Thätig-
keit entfaltet als je zuvor. Ueberall aber ist letzter Zweck dieser
Thätigkeit nicht das Leiden zu lindem, wie es im Christenthum
der Fall ist, sondern Thätigkeit und Wohlsein positiv zu steigern.
Während hier aber über aller Verschiedenheit eine ethische
Aufgabe gemeinsam und vom Streite unberührt bleibt, beruht
die weitere Fassung des BegriflFes, wonach das Menschsein
und die daraus erwachsende Bestimmung des Handelns als
wesentlicher Lebensinhalt selber erscheint, nicht nur auf einer
lieh die lateinischen, die Principien der christlichen Armenpflege gegen
die Stoiker vertheidigen.
Humanität. 221
specifischen Weltanschauung, sondern sie ist auch an geschicht-
liehe Voraussetzungen gebunden. Die Bedeutung der besondern
Zusammenhänge, in welche sich sonst der Einzelne gestellt sieht,
muss zurückgetreten sein, damit für die allgemein menschliche
Vemunftaufgabe Platz werde, und es muss die Forderung der
Vernunft durch allgemeine Strebungen und Empfindungen auf-
genommen und gestützt sein, um zu einer das Gesammtleben
beherrschenden Macht zu werden. Es müssen grosso gemeinsame
Zwecke und Geschicke sein, durch welche sich. die Menschheit
im Weltall als eins begreifen und fühlen lernt, wodurch die
Einzelnen sich auf einander angewiesen und zur Gemeinsamkeit
des Handelns getrieben sehen.
Solches finden wir bestätigt in jenen beiden Epochen, wo
die Humanität eine beherrschende Stellung im Leben einnahm:
im sinkenden Alterthum und in der aufstrebenden Neuzeit Dort
fand der Gedanke der Philosophen seinen Anhalt in der that-
sächlichen Universalität des Culturlebens. Aber die Idee der
Humanität hat hier nicht so sehr von sich aus eine eingreifende
Umgestaltung des G^sammtlebens hervorgebracht, als sie darin
ihre Bedeutung besitzt, die Ergebnisse der engem Lebenskreise
von dem ursprünglichen Boden loszulösen, zu erweiteni und über-
allhin zu tragen. Den Inhalt des antiken Lebens zu einer
universalen Macht zu erheben, darin lag ihre Aufgabe. Deswegen
aber hat sie vom antiken Standpunkt betrachtet einen vor-
wiegend abstraeten Charakter, ja sie hat dort unmittelbar mehr
zur Auflösung des Bestehenden als zur Neubildung beigetragen,
und sich erst im Christenthum, für welches sie eine noth wendige
Voraussetzung ist, mit schaffenden Mächten enger verbunden.
— Je mehr aber der Inhalt des antiken Lebens zerstört und
der Glaube an grosse objective Aufgaben der Menschheit im
Weltall erschüttert wurde, desto mehr wird" die Humanität eine
blosse Lebensstimmung, desto mehr ist es das Bewusstsein ge-
meinsamen Elendes und aligemeiner Hülfsbedürftigkeit, welches
die Menschen einander nahe bringt.
Die Humanität der Neuzeit ist dagegen Eigenart einer auf-
222 Humanität.
strebenden Welt, neue und grosse Aufgaben sind dem Leben er-
öffnet, denen gegenüber alles zurücktritt, was sich in den be-
sondem Gebieten zu bilden vermag; nur die Menschheit als
Ganzes kann es unternehmen, die Welt zu erkennen, in unsere
Maehtsphäre aufzunehmen und unseren Zwecken zu unterwerfen.
Der Mensch muss dem Menschen die Hand reichen und Aller Arbeit
muss sich zu einer Gesammtleistung verbinden, um solchen Zielen
näher zu koinmen. In diesem Zusammenhange ist die Humanität
vor allem schaffendes Princip, sie schreitet nicht vom Besondein
zum Allgemeinen vor und löst dabei alle specifischen Formen auf,
sondern sie treibt von einem umfassenden Grunde alles Besondere
hervor und bestimmt es von da aus, baut auf und gestaltet.
Durch diese Thätigkeit aber wird mit der Stellung des Ganzen die
des Einzelnen unvergleichlich gesteigert ; von dem Wesen, welches
innerlich und äusserlich die Welt beheiTscht, bildet, ja schafft,
kann nicht hoch genug gedacht werden, so dass die Forscher m
der That kaum Worte finden können, um solcher Schätzung einen
angemessenen Ausdruck zu verleihen.
Bei so engem Zusammenhang der Idee der Humanität mit
der Eigenthümlichkeit der neuem Weltbegreifung war es unver-
meidlich, dass jene in alle Gonflicte hineingezogen ward, in welche
diese gekommen ist. Näher darauf einzugehen ist um so weniger
noth wendig, als sich hier im wesentlichen dieselbe Entwicklung
wiederholt, die wir bei der Betrachtung des Principes der
Individualität verfolgt haben. Auch hier finden wir zunächst eine
Vermengung des Intelligiblen und Empirischen, in Verbindung
damit eine Veräusserlichung der Idee, nach und nach ein Hervor-
brechen des Widerspruches, und endlich einen unerträglichen Conflict
zwischen dem Gehalt der Lehre und des Lebens. Die Art,
wie die Stellung des Menschen im Weltall begriffen wird, stellt
zu der Werthschätzung auf praktischem Gebiet in schreiendem
Widerspruch. Für jenes kommt weniger in Betracht, dass der
Mensch seiner physischen Organisation nach mit den andern
lebenden Wesen in eine Eeihe gebracht und als unter allgemeinen
Gesetzen stehend gefasst wird, denn damit wäre für die letzte
Humanität. 223
Weilhschätzung auch nicht das Mindeste entschieden, als vielmehr
dieses, dass der Idealbegriflf von der Menschheit und vom Menschen
und die Zugehörigkeit zu einer intelligiblen Welt, wenn glicht
aufgegeben, so doch erschüttert ist So bleibt nur das Einzel-
wesen der empirischen Erscheinung, mit engbeschränkter Kraft,
der Selbstsucht unterworfen nnd auch das Höchste gewöhnlich in
die Kleinlichkeit seiner privaten Zwecke hinabziehend.
Und wenn wir nun doch nicht darauf verzichten mögen, die
ganze aus dem Idealbegi*iff der Menschheit entspringende und in
ihm allein begründete Werthschätzung auf solchen empirischen
Zustand zu übertragen, so ist dies theoretisch angesehen nichts
anders als an den Consequenzen festhalten, wo die Prämissen
aufgegeben sind; praktisch aber entsteht die Gefahr, die Zu-
fälligkeit der Erscheinung zu verherrlichen und den Gedanken
der Humanität zur Beschönigung alles Verkehrten und zur Ab-
Schwächung aller grossen Aufgaben der Menschheit zu verwenden,
sowie durch ihn Ansprüche zu erwecken und Werthschätzungen
zu rechtfertigen, zu deren Grundlagen der Inhalt des Lebens
vielleicht in geradem Gegensatz steht.
Realismus — Idealismus.
Non qnia difficilia sunt non
audemns, sed qnia non andemns
difficilia snnt.
Seneca.
Der Terminus Idee hat eine lange und weebselyolle Geschichte,
welche die entscheidenden Wendungen der Philosophie ziemlieh
vollständig abspiegelt. Eine specifische Bedeutung erhielt iisa
bekanntlich zuerst bei Plato, indem es zur Bezeichnung der Foimen
dient, die allem Sein zu Grunde liegen und als ein, wenn auch
vom Geist erfasstes, so doch nicht erst in ihm entstandenes gelten.
In diesem Sinn blieb aber der Ausdruck specifischer Schul-
terminus, so dass er immer mit bestimmter Beziehung auf Plato
verwandt wurde.
Gegen Ausgang des Alterthums trat mit der ganzen Umwand-
lung der Weltanschauung die Aenderung ein, dass die Ideen als
ursprünglich im Geiste Gottes existirend gedacht wurden und also
eine wesentlich geistige Beschaffenheit erhielten. Philo ist der-
jenige, bei dem sich diese Umgestaltung zuerst nachweisen lässt,
manche Kirchenväter schlössen sich an, und die neue Wendung
drang vollständig durch, nachdem auch auf dem Boden der grie-
chischen Philosophie die Umbildung der Idee in ein rein geistiges
durch Plotin vollzogen war.
Darnach gelten dem Mittelalter die Ideen zunächst als Ur-
bilder der Dinge im göttlichen G^ist (Eckhart pflegt zu übersetzen
Kealisnms — Idealismus. 225
„vorgende bilde *^), an denen der Menseh nur durch sein Verhältniss
zu Gott Antkeil hat Nach und nach aber vollzog siel), und zwar
namentlich durch den NominaliBmus hindurch, der Uebergang zu
einer subjectiv-mensehlichen Fassung.*) In diesem Sinne scheint
in der Volkssprache das Wort zuerst in Frankreich gebraucht zu
sein (es findet sich z. B. schon bei Montaigne id6e etwa gleich-
bedeutend mit Vorstellung) ; eine specifische Ausprägung fand es
aber mit dem Beginn der neuern Philosophie, indem es von
Descartes und nach seinem Vorgange von andern zur Bezeichnung*
alles unmittelbar vom Geist Ergriffenen und somit als Ausdruck der
einfachsten psychischen Grösse verwandt wurde.**) Doch musste
von Anfang an abgewehrt werden, »dass das Wort blos auf sinn-
liche Vorstellungsbilder bezogen wurde. Wolflf tibersetzte Idee
mit Vorstellung, wodurch es bei uns von Anfang au geschmälert
und nach und nach in jenem Sinne für die wissenschaftliche
Sprache bis auf einzelne Wendungen, z. B. auf das von Locke
stammende „Ideenassociation", verloren gegangen ist
Nachdem es im 18. Jahrhundert nicht an Versuchen einer
engern und das Wort auszeichnenden Bestimmung gefehlt hatte,
setzte von Kant ausgehend sieh eine neue Richtung siegreicli
durch. Indem er unter Idee einen nothwendigen Vernunftbegriff
verstand, dem kein congruirender Gegenstand in den Sinnen ge-
geben werden kann, knüpfte er gewissermassen wieder an Plato
an, nur dass, was diesem ein thatsächliches vor dem Geist ge-
*) S. z. B. Goclen, lexicon philosophicum unter idea: ideae sumiintur
nonnnnquam pro conceptionibus seu notionibus communibus.
**) S. Cartes. responsiones III 5: ego passim ubique ac praecipue hoc
ipso in loco ostendo me nomen ideae sumere pro omni eo, quod imme-
diate a mente percipitnr, adeo nt cum volo et timeo, quia simnl percipio
me velle et timere, ipsa volitio et timor inter ideas a me numerentur, usus-
que 8um hoc nomine, quia jam tiitum erat a philosophis ad formas per-,
ceptionum mentis divinae significandas. — Spinoza ethic. II, def. 3: per
ideam intelligo mentis conceptum, quem mens format, propterea quod res
est cogitans. — In England hat nach dem Vorangehen anderer, z. B. Cud-
worths, namentlich Locke die neue Bedeutung durchgesetzt ^ und zwar
nicht ohne Kampf; in unserer Sprache hat es z. B. Leibnitz so verwandt.
EHcken, Geschichte und Kritik. |5
226 RealismiiB — Idealismus.
wesen war, ihm in den Geist selber hineinfiel, und dass dasjenige,
was früher eine über allem Werden liegende Form des Seins
bildete, nunmehr darin aufging, treibende Kraft und Gesetz des
Handelns zu sein. Die spätem Denker verfolgten die hier ein-
geschlagene Richtung weiter, und wenn dabei auch ein jeder an
dem Begriff seine Eigenthümlichkeit zur Geltung brachte, so ist
doch dem allgemeinen Inhalt nach tiberall der beherrschende Ein-
fluss der kantischen Bestimmung unverkennbar. Die meisten
andern Völker sind dagegen bei dem Sprachgebrauch des 17. und
18. Jahrhunderts stehen geblieben.
Es sind darnach vier Hauptabschnitte in der Geschichte
des Terminus zu unterscheiden. Was zuerst Grundbegriff einer
ästhetisch - metaphysischen Weltbegreifung gewesen war, geht in
eine religiöse über und erhält darin eine rein geistige Bedeutung.
Und nun wird nach und nach das der weltleitenden Macht Zu-
kommende auf das denkende Einzelwesen übertragen, bis endlich
der Ausdruck auf eine subjectiv- psychologische Bedeutung ein-
geschränkt ist. Dann aber tritt eine Gegenbewegung ein, indem
ein universell und objectiv Wirkendes innerhalb des Geistes als
treibende Macht Anerkennung findet.
Der Bedeutung von „Idee" folgt natürlich die von „ideal".
Dasselbe findet sich zuerst in der Blüthezeit der Scholastik, bei
Albert, Thomas u. a., im Sinne von urbildlich. Wenn hier auch
nicht selten „real" entgegengesetzt wird, so 'soll damit doch
nicht das Ideale zu einem Eingebildeten erniedrigt werden.*)
Aber nun vollzog sich derselbe Umschwung wie bei dem Haupt-
begriff, und namentlich seit Gassendi traten, wie Idee und Reali-
tät, so ideelles und wirkliches in Gegensatz. Doch ward im
specifischen Gebrauch der Schule auch das gesammte geistige Sein,
insofern es aus Vorstellungen (Ideen) bestehe, ein ideelles ge-
nannt, und von da aus das Partei wort Idealist zur Bezeichnung
derer gebildet, die im geraden Gegensatz zu den Materialisten
*) Realis finde ich zuerst in Abälard's Dialektik, realitas ist eine
Schöpfang des Dnns Scotns.
Realismus — Idealismus. 227
alles Sein auf Vorstellungen zurückführen und die Existenz
äusserer Dinge leugnen.*)
An diese Bestimmung knüpft Kant an, aber an Stelle des
„materialen oder psychologischen^ Idealismus setzt er den trans-
scendentalen (auch formalen oder kritischen) Idealismus, wonach
„alle Gegenstände einer uns möglichen Erfahrung nichts als Er-
scheinungen, d. i. blose Vorstellungen sind, die so, wie sie vor-
gestellt werden, ausser unseren Gedanken keine an sich gegründete
Existenz haben" (s. III, 346/7). Durch Fichte erhielt dann der
Idealismus vorwiegend die Eichtung auf das Praktische, indem er
ihn als die philosophische Ueberzeugung fasst, welche die Be-
stimmungen des Bewusstseins aus dem Handeln der Intelligenz
erklärt Den Gegensatz dazu bildet der Eealismus und mehr
noch der Dogmatismus, dem die erscheinende Welt als ein unab-
hängig vom Geist seiendes gilt. Diese fichtesche Bedeutung ist
auch gegenüber manchen abweichenden Bestimmungen der spätem
Philosophen für die allgemeine Auffassung und Verwendung mass-
gebend geblieben. Jedenfalls überwiegt jetzt die Beziehung auf
das praktische Gebiet vor der rein theoretischen Bedeutung.**)
Nehmen wir diesen nun vorherrschend gewordenen Sinn
auf, so muss die Geschichte des Idealismus Eichtung und Inhalt
des menschlichen Handelns zu einigem Ausdruck bringen. Wesent-
lich und gemeinsam mag für alle Arten die Ueberzeugung sein,
dass der Mensch sich im Erkennen und Handeln mehr durch eine
dem Geiste gegenwärtige Welt als durch die sinnlich gegebene
Erscheinung bestimmen lassen solle, aber dieser Gedanke erhält
im Lauf der Geschichte sehr verschiedene Formen, unter denen
drei besonders hervorragen.
*) Einen festen Sprachgebrauch machte daraus namentlich Wolfif, indem
er „drei schlimme Secten unter denPhilosophis" zählte, nämlich die „Sceptici^
Materialisten und Idealisten "* (s. von seinen Schriften 583). Leibnitz dagegen,
bei dem mir der Gegensatz von Materialisten und Idealisten zuerst entgegen-
tritt, verwendet die Ausdrucke in einem weniger specifischen Sinne, da
er Plato den grössten Idealisten nennt, s. 186 a.
**) Beachtenswerth ist auch die Scheidung der Ausdrücke „ideal'' und
, ideell«.
15*
228 BealiBmiu — IdealiBmiiB.
Dem aDtiken IdeaUsmns ist die Welt der reinen Gkstalten
etwas objectiv yorbandenes und sieh in der Erseheinimg thatig
bezeugendes, so dass nicht erst der Greist sie hervorzubringen hat ;
die idealen Mächte wirken von- Ewigkeit zu Ewigkeit durch die
ganze Welt hindurch, aber mit ihnen ist auch anfangslos der
Gregensatz des Stofflichen vorhanden, der nie und ninmier ver-
schwinden kann. Das Ideale stellt sieh in der Welt dar und
bildet in allem Gesehehen die wesentliche und werthvolle Kraft,
aber es vermag nicht die Welt ganz zu sich hinzubilden und
vollständig in sich aufzunehmen. Es zu erkennen, anzuerkennen
und im Handeln unbeirrt zu vertreten ist unsere Aufgabe, während
die Forderung, die Ideen in der Welt zur vollen Verwirklichung
zu bringen und die Erscheinung ganz und gar nach der Vernunft
zu gestalten, der Antike fem liegt.
Dem Chrißtenthum ist der Gegensatz zweier Welten nicht
ursprünglich und ewig, sondern entstanden, nie anerkannt und
wenigstens theilweise wieder aufzuheben. Vorgänge einer hohem
Welt tiberwölben und umschliessen auch zeitlich das erscheinungs-
massige Geschehen und bezeugen sich sichtbar in ihm, aber
innerhalb dieser Welt ist der G^ensatz nicht aufzuheben, ja
das Böse gilt als das empirisch mächtigere, so dass die Auf-
gabe hier weniger darin liegt, das Bestehende nach den ethischen
Forderungen umzubilden, als sich innerlich über den Druck des
Feindlichen zu erheben und sich durch alles scheinbar Wider-
sprechende nicht in dem Glauben an die Eealität des Höhern
erschüttern zu lassen.
Bei allem Unterschied dieser beiden Arten des Idealismus
lässt sich eine Gemeinsamkeit wesentlicher Züge gegenüber der
Neuzeit nicht verkennen. Auch der Lebensstimmung nach machen
es beide möglieh, mit allem Kampf und Schmerz die sichere
Euhe des Besitzes zu veibinden. Jener frühere Idealismus hat
niclits von der unruhigen, hastig drängenden, dabei bange zweifeln-
den und sehnsuchtsvollen Art, die wir jetzt oft von dem Begriff
nicht trennen können. '
Es hat eben der Idealismus der Neuzeit von Anfang an einen
BealiBmuB — IdealiBmus. 229
<lurchaus eigenthtimlichen Charakter. Auch hier ist ein Gegensatz
TOrhanden: der Gegensatz dter Vernunft und der Erscheinung,
«iner intelligiblen und einer empirischen Welt. Aber dieser Gegen-
satz fällt in ein einziges Universum hinein, die Vernunft ist nichts
über der Welt schwebendes und nur in sie hineinwirkendes,
sondern sie liat hier ihre Heimat und macht auf eben den Platz
Anspruch, den die Erscheinung einnimmt. Bei solchem Zusammen-
treflfen in einem Punkt wird der Gegensatz geradezu zu einem
Widerspruch, der schlechterdings aufgehoben werden muss, und
der Process der Aufhebung dieses Widerspruches ist recht eigent-
lich der Inhalt des Weltgeschehens.
Das Ideale ist also nicht etwas nur urbildliches, das mau
sich mit dem Bewusstsein zum Ziele machen darf, es nie erreichen
zu können, sondern eine ganz in die Erscheinung strebende Kraft,
€8 ist nicht so sehr ein werthhaftes, als ein in Wesen und Wirken
machtvolleres. Dazu tritt das Geistige, welches sich durchsetzen
und alles von sich bestimmen möchte, nicht als ein Fertiges an
die Welt heran, um sich darstellend oder schaffend zu bezeugen,
sondern es entwickelt sich selber und gelangt erst allmählig zur
Herrschaft, indem es von einer Stufe zur andern fortschreitet. So
wird das Streben gleichmässig innerlich unermesslich gesteigert,
wie es weit kräftiger als bei den frühem Formen des Idea-
lismus in das Gegebene eingreift. Da nicht die mindeste Kluft
zwischen Vernunft und Erscheinung stehen bleiben darf, so muss
die ganze Welt ergriffen, umgebildet und zu einem Geistesreich
gestaltet werden: alles Vernünftige wirklich und alles Wirkliche
vernünftig zu machen, das ist die immer wiederkehrende und
überall durohklingende Forderung. Etwas als vernünftig erweisen
und als verwirklicht fordern, das erscheint hier und hier zuerst
als unmittelbar zusammenfallend.
Während daher früher der Idealismus stets in Gefahr war,
die gegenseitige Abhängigkeit des Innern und Aeussem zu ver-
kennen und den sichtbaren Zustand der Welt unverändert zu lassen,
ja während die Anpreisung der innem Erhebung über die Welt
von Alters her ein bequemes Mittel war, unliebsame Forderungen
230 Bealismus — Idealismus.
abzuweisen, galt es nun als unumgängliche Aufgabe, eben die
erscheinende Welt zu einer Stätte der Vernunft zu machen, überall
die Bedingungen für ein vemunfterfttlltes Leben herzustellen und
das dem Entgegenstehende wegzuräumen.*)
Den unermesslichen Einfluss dieser Gesammtrichtung auf die
einzelnen Lebensgebiete brauchen wir nicht zu verfolgen, da die
ganze neue Geschichte davon Zeugniss ablegt Zu dieser Gesammt-
leistung aber verbinden sich die beiden Strömungen, die wir so
oft im neuem Leben mit und gegen einander wirken sahen. Die
Hochstellung der Vernunft als des eigentlichen Weltinhaltes und
die innere Anspannung der Kraft mag auf die, natürlich weit
über die Philosophenschulen hinausreichende, speculative Richtung
zurückkommen ; für die Ergreifung der Erscheinung und ihre Ver-
knüpfung mit der Vemunftaufgabe steht die empirische voran.
Dort erwächst die Gefahr, sich mit einer blos theoretischen Um-
wandlung der Welt zu begnügen, hier dagegen liegt es nahe, sich
auf die Thätigkeit am Aeussem zu beschränken und ohne tiefere
Einsicht in das Wesen der Vemunftaufgabe ihre unmittelbare Ver-
wirklichung in der Erscheinung zu verlangen.
Aus diesem letztem bildet sich nun die eigenthümliche Form
des neuem Badicalismus, die im Lauf der Zeit immer mehr
Boden gewonnen hat. Freilich ist der neuere Idealismus von
Haus aus radical, denn er will die Forderungen der Vemunft
ganz und ohne Abzug in der Welt durchführen und nicht das
mindeste vemunftlose bestehen lassen, aber er fasst diese Aufgabe
ursprünglich in solcher Tiefe, dass der Schwerpunkt in die innere
Entwicklung fällt, und sobald das geschieht, folgt natürlich, dass
*) S. Fichte, Reden an die deutsche Nation (Werke VII, 379): Der
natürliche, nur im wahren Falle der Noth aufzugebende Trieb des Menschen
ist der, den Himmel schon auf dieser Erde zu finden, und ewig dauerndes
zu verflössen in sein irdisches Tagewerk ; das Unvergängliche im Zeitlichen
selbst zu pflanzen und zu erziehen, — nicht bloss auf eine unbegreifliche
Weise, und allein durch die, sterblichen Augen undnrch dringbare Kluft
mit dem Ewigen zusammenhängend, sondern auf eine dem sterblichen Auge
selbst sichtbare Weise.
Bealismus — Idealismus. 231
die Erreichung des Zieles nicht in einem gegebenen Augenblicke
möglieh ist, sondern den ganzen Process des Weltgeschehens ein-
nimmt — Nicht daraus darf irgend einer Richtung ein Vorwurf
gemacht werden, dass sie ihre Ziele zu rücksichtslos verfolgt und
zu grosse Energie daran setzt, denn wie man in der Durch-
führung von Vernunftaufgaben auf noch anderes Eücksicht zu
nehmen habe und zu viel Energie aufbieten könne, das ist nicht
wohl abzusehen; vielmehr liegt darin der Fehler, dass die Auf-
fassung zu sehr veräusserlicht und das Ziel lediglich oder doch
überwiegend nur in die Gestaltung der äussern Lebensverhältnisse
und Beziehungen gesetzt, das Innere aber als etwas sich nebenbei
ergebendes angenommen und daher gewöhnlich vernachlässigt wird.
Nun freilich erscheint das zu Erreichende als eine äussere Leistung,
die zu verzögern nicht der mindeste Grund vorhanden ist, so
dass allerdings von den gegebenen Prämissen aus der Badicalismus
allein die Consequenzen richtig zieht. Aber bei aller äussern
Kraftentwicklung, die er herbeiführt, bleibt die Tiefe des mensch-
lichen Wesens unberührt und die Gesammtheit der Lebensinteressen
unbegriflfen. Wenn aber die eigenthümliche Art des vernünftigen
Daseins und Wirkens keine Anerkennung findet, so kann man
philosophisch betrachtet sagen, die ganze ßichtung führe ihren
Namen vom Gegentheil, da sie nie auf die letzte Wurzel
zurückgehe.
Im Lauf der Geschichte ist jedenfalls innerhalb dieser
Richtung dieWerthschätzung des Innern in eben dem Masse zurück-
getreten, wie das Verlangen einer sofortigen Durchführung der Ideale
dringender geworden ist. Es sind nämlich hier nicht so sehr die
Ansprüche gesteigert als ihre Stellung zum Gegebenen eine andere
geworden ist. Man kann von diesem Standpunkt aus in manchem
kaum mehr verlangen und sich auch kaum schärfer ausdrücken
als es z. B. von Thomas Morus geschieht, aber seine Utopie liegt
neben der Welt, während dann die Idealbilder sich ihr mehr und
mehr nähern und sie endlich ganz einzunehmen verlangen.*)
") Die Denker sahen daher grosse Umwälzungen mit voller Klarheit
232 Realismiis — Ideal iflonis.
Pör uns ist ferner bemerkenswerth der Widerepmeh, der
bei dieser Riehtimg zwiscben Inbalt und Form besteht. Denn
dem Inhalt naeb kann hier eine idealistisebe Weltbegreif ong, als
welehe die Voranstellong des Greistigen im Mensehenleben wie
im Universum zur unerlässliehen Voraussetzung hat, durcbaus
nicht anfrecbt erhalten werden, und doeh werden zweifeUos die
Ziele in der Form des Idealismus angestrebt, und es finden sieh
sogar vielleicht verhältnissmfissig hier mehr Idealisten im sub-
jectiven Sinne als bei ii^end welcher andern Sichtung.
So viel man aber auch theoretisch einwenden mag, es
kann nicht geleugnet werden, dass der neuere Idealismus immer
mehr die Form des Badicalismus in dem eben bezeichneten Sinne
angenommen hat; was nicht in diese bei aller Kraftaufbietung
verengende und veräusserlichende Bewegung einging, ist meist
auch in dem Grundgedanken jenes Idealismus selber wankend
geworden.*) Von da aber hat sich Zweifel und Abfall immer
weiter ausgedehnt und zu einer allgemeinen Gegenbewegung
geführt, welche nicht selten die Bezeichnung „Realismus^ ffir sieh
verwendet Die Wirklichkeit soll hier dem Streben Mass und
Ziel setzen; wo immer Idee und Erfahrung in Widerspruch
gerathen, soll letztere den Ausschlag geben; aller Fortschritt soll
durch die gegebenen Verhältnisse begrenzt werden und daher ein
allmäliliger sein.
voraus. Schon Leibnitz sprach von der allgemeinen Bevolntion, womit
Kuropa bedroht sei (s. 387 a), und Bousseau sagte ganz bestimmt: nons
approchoDS de l'^tat du crise et du si^cle des r^volutions (Emil, Bach III.)
*) Worin der Grund davon liegt, haben wir nicht zu erörtern, nur die
Ansicht möchten wir als die oberflächlichste zurückweisen, als sei die
^anze Erschütterung nur dadurch hervorgerufen, dass einzelne Parteien in
der Durchführung der neuern Grrundgedanken „zu weit" gegangen seien,
und also die ganze Schuld auf die »Ausschreitungen" des Badicalismus
zurückkomme. Denn so viel man auch gegen die neuere Cultur einwenden
mag, so gering ist sie denn doch keineswegs zu schätzen, um annehmen
zu dürfen, dass sie durch solche äussern Momente hätte in ernstliche Gefahr
gerathen können. Dieselben hätten nimmer Einfluss erlangen können, wenn
nicht das Innere zu einer Krise geführt hätte.
'»
Realismns — IdealismtiB. 233
För das letztere könnten die grossen Idealisten selber schein-
bar als Zeugen angerufen werden, wenn nur ausgemacht wäre,
dass die Nichterreiolibarkeit der Idee lediglich in der Unermess-
liehkeit ihres Inhaltes den Grund hätte, und es nicht unsere
eigne Schwäche ist, welche uns das Ziel fein rückt. Und wenn
es heisst, dass Ideal und Wirklichkeit nicht in Widerspruch ge-
bracht werden dürfen, so wäre das nur unverfänglich, wenn
über den Begriff der Wirklichkeit kein Zweifel waltete. Ist das
augenblicklich in der Erecheinung Vorliegende darunter verstanden?
Dann muss jeder dazu in Widerspruch kommen, der nach Zwecken
handelt und strebt. Und bedeutet femer Wirklichkeit die Welt
mit dem Greist oder ohne ihn? Die gewöhnliche Art der Gegner
des Idealismus ist es, die Welt als ohne das Geistige fertig hinzu-
stellen und das Bestehende dann dem Streben als unüberwindliche
Macht entgegenzuhalten, aber in dieser Annahme wird ja eben die
entscheidende These vorausgesetzt. Aller Idealismus geht von der
Ueberzeugung aus, dass das Geistige thätig und gestaltend in die
Erscheinung einzugreifen und von sich aus die Lage der Dinge
zu ändern vermöge, welche Ueberzeugung der neuere Idealismus
noch dadurch steigert, dass er den Geist als ein fortwährend
wachsendes und in's Unendliche entwicklungsfähiges betrachtet.
Wo sollte ein solches Wesen feste und untibersteigbare Schranken
finden? Wo sich ihm gegenüber ein Aeusseres schlechthin zwingend
geltend machen?
Ein solcher Glaube ist der Besitz aufstrebender Zeiten. Die
Völker und Individuen wagen es im Bewusstsein innerer Kraft,
den Verhältnissen entgegenzutreten und die Welt zu einer Werk-
stätte des Geistes zu machen. Nicht das Gegebene bildet hier
das Mass des Möglichen, sondern man will eben über jenes
hinaus, und das der reflectirenden Betrachtung geradezu unmög-
lich Scheinende wird hier in kühner That gewagt und gewonnen.
Denn jener Betrachtung muss alles Grosse vor der That unfass-
lich sein, indem das Alltägliche und Gewöhnliche die Vorstellungen
bestimmt. Auch dasjenige, was schliesslich Widerstand leistet
und Hemmung hervorruft, wirkt in solchen Zeiten nicht von
234 Realisrnns — Idealismus.
vorn herein abschwächend auf die Bestimmung der Aufgabe^
sondern macht sich erst in dem Handeln und Kämpfen geltend.
Und letzthin unterliegt der Mensch lieber äusserlich als dass er
sich innerlich gefangen gäbe; denn auch in dem Untergange
rettet er das, was dem Leben Gehalt und Würde gibt und ilin
selbst in eine intelligible Welt erhebt.
Anders dagegen, wenn das geistige Leben einer Periode den
Höhepunkt tiberschritten hat, wenn die Unzulänglichkeit des speci-
fischen Lebensinhaltes gegenüber, der universalen Aufgabe der
Vernunft zu klarem Bewusstsein gekommen ist, wenn die von
Anfang an vorhandenen Gegensätze sich bei dem Schwinden
umspannender Kraft als Widersprüche erweisen und auseinander-
fallen. Dann erscheint das Aeussere rjesengross, der Druck
der Verhältnisse unüberwindlich, der Geist mit allem was er
unternehmen kann, verschwindend. Nicht die Welt ist also eine
andere geworden, sondern wir sind verändert, die Dinge sind
gewachsen, indem wir kleiner wurden; aber unwillkürlich suchen
wir die Schuld ausser uns und möchten das als schlechthin un-
möglich erklären, wozu wir nicht mehr die Kraft finden.*)
Und wenn wir einmal den Glauben an die eigne Kraft
verloren haben, sind wir in der That schwächer und jeder weitere
Zweifel und Misserfolg steigert diese Schwäche. Die reflectirende
Klugheit, die Tugend des Greisenalters, zeigt uns haarscharf die
Widersprüche in den Ueberzeugungen und das Unmögliche in
den Handlungen ; je genauer wir zusehen, desto mehr scheint das
Entgegenstehende zu wachsen, die eigne Kraft zusammenzu-
schrumpfen; alles Menschliche wird klein, Personen und Motive,
und es ist auch thatsächlich klein von diesem Standpunkt an-
gesehen, nur dass der Standpunkt selber nicht ausreicht, irgend
ein Lebendiges, Treibendes, Schaffendes in der Welt zu verstehen.
"') Im sinkenden Alterthum hat namentlich Seneca diesen Gedanken
hervorgehoben , s. ep. 116 8: noUe in causa est , non posse praetenditur^
sowie die oben angeführte Stelle. Unter den neuern Denkern ist vor allen
Fichte gegen die bequeme Unterwerfung unter das Gegebene aufgetreten^
ß. z. B. Vr, 70 ff.
RealismuB — Idealismus. 235
Dass nun die Ideen zu abstrakten Gedanken, ja schliess-
lieh zu willktlrliehen Yorstellungsbildern herabsinken, ist ebenso
wenig zu verwundem, als dass ihre Gegner glauben, sich tlber alle
diejenigen erheben zu dtlrfen, welche sie in irgend welcher Form
festhalten. Aber mit solchen Zeitströmungen ist natürlich über
die letzte Bedeutung der Ideen in Geschichte und Leben nichts
entschieden. Ftlr das, was hier grosses vorgeht, bleiben sie un-
bedingt die leitende Macht, und zu jeder Zeit wird die Eichtung
letzthin die Bewegung bestimmen, welche ihren Inhalt als durch
eine Idee gefordert zu erweisen vermag und in dieser Ueber-
zeugung für ihn eintritt.
■ .p
k.
Optimismus — Pessimismus.
Tu aadeu dicere, hoc et illud
est in mando malum, chjub ex-
plicare, diBsolvere neque originem
yaleas neqne cansam?
Arnobins.
Ueber den Ursprung der Ausdrücke Optimismus und Pessimis-
mus yermag ich nur ungenügende Auskunft zu geben. Optimismus
ist das frühere, indem es schon in der ersten Hälfte des 18. Jahr-
hunderts zur Bezeichnung der leibnitzischen Lehre von der besten
Welt verwandt zu werden pflegte, während Pessimismus erst in
diesem Jahrhundert entstanden und namentlich durch Schopen*
hauer in Umlauf gekommen zu sein scheint.
Auf die mannigfachen und schwankenden Bedeutungen ein-
zugehen, welche die Ausdrücke im heutigen Sprachgebrauch
besitzen, dürfte für uns keine Veranlassung sein, nur ist es Yon
Erheblichkeit, zwischen der Verwendung im System der Philo-
sophie und im allgemeinen Leben sorgfältig zu scheiden. Dort
handelt es sich vornehmlich um ein theoretisches Urtheil üb.er
Bedeutung und Werth des Weltganzen, hier dagegen um eine
Schätzung des Looses der Menschheit oder gar des Einzellebens,
so dass die Antwort dort von dem gesammten Inhalt der Philo-
Sophie, hier dagegen von der Stellung der Menschheit zu ihren
Lebensaufgaben abhängen wird.
Wie viel Bedenken sich gegen jenes erste Unternehmen er-
Optimismus — Pessimismus. 237
heben, ist ebenso einleuchtend wie dieses, dass die Frage nur
nach gewissen Voraussetzungen aufgeworfen werden kann. Nur
in dem Zusammenhange einer Weltbegreifung, welche eine Einsicht
in das Wesen der Dinge und die letzten Gründe des Geschehens
erhofft, kann sie überhaupt Platz finden ; der Umstand aber, dass
sie thatsächlich in allen System der Art eine hervorragende Stelle
einnimmt, lässt vermuthen, dass es sich hier nicht einfach um
eine logisch - dialektische Spielerei handelt. Vielmehr liegt hier
der Drang zu Grunde, das was die theoretische Vernunft als
Wesen der Welt hingestellt hat, auch vor der praktischen als ein
werthvoUes zu rechtfertigen, und also eine in die Vernunft selbst
hineinfallende Zweiung zu überwinden, die ebenso zunächst un-
vermeidlich wie letzthin unerträglich ist. So sehr die ontologische
und die timologische Betrachtung der Dinge auseinander zu
halten sind, so wenig man unmittelbar von der einen zur andern
gelangen kann, ja so sehr der Versuch, beide einheitlich zu ver-
knüpfen, als ein übermenschliches Unternehmen gelten mag: da
nun einmal beides in eine Welt hineinfällt, so wird das Denken,
sofern es überhaupt an seiner höchsten Aufgabe festhält, auch
auf jenen Versuch nicht verzichten können, und es wird durch
alles Misslingen nur zu neuen Wagnissen sich angetrieben fühlen,
Es gibt so angesehen nicht eine Ali; des philosophischen Optimis-
mus, sondern ebenso viele als es Versuche einer adäquaten
Erkenntniss der Welt gibt; jede grosse Gesammtrichtung recht-
fertigt im Grunde sich selbst, indem sie das von ihr als das
Wesentliche hingestellte zugleich als das WerthvoUe erweist.
Eine gemeinsame Voraussetzung liegt freilich ihnen allen zu
Grunde: die Ueberzeugung, dass letzthin das Gute mit dem
Sein wesentlich verknüpft sei, und das Böse nicht etwas sub-
stantielles, sondern nur etwas an den Dingen und in ihrem
Zusammensein sich bildendes ausmache. Diese Voraussetzung,
welche alle Bedenken gegen den philosophischen Optimismus
sofort wachruft, ist schon bei Plato in dem Satze zum Ausdruck
gekommen, dass das wahrhaft Seiende (ro ovzcog ov) mit dem
238 OptimismnB — PessimismiiB.
Guten zusammenfalle, und von da zieht sich die Lehre durch die
(jeschichte, dass das Böse nur als eine Priyation anzusehen sei.*)
Aber diese allgemeine Ueberzeugung erhält nun in jedem
grossen System der Weltbegreifung einen eoncreten Inhalt, der
die £igenthümlichkeit desselben ausdrückt Bei den Griechen
hat durchgehend der Optimismus einen ästhetischen Charakter,
die Welt ist gut, ja vollkommen, weil sich tiberall in ihr Mass
und Ordnung, Zusammenhang und Gleichgewicht bekundet Schon
vor der sokratischen Schule finden wir eine solche Ueberzeugung
ausgesprochen*), Plato und Aristoteles brachten sie zur vollen
Durchführung**), und sie erhielt sich durch die ganze griechische
Philosophie und Weltauffassung, tiberallhin mit ihr sich verbreitend.
Nur insofern vollzog sich eine Fortbewegung, ja ein Um-
schwung, als mit dem Hervortreten der Widersprüche in Welt
und Leben es nothwendig wurde, aucli den Dissonanzen ihr Eecht
zuzuerkennen . und daher die Harmonie, wenn anders man sie
überhaupt festhalten wollte, über die unmittelbare Erscheinung
hinaus zu verlegen. Schon bei den Stoikern findet sich die Lehre,
dass auch das dem Guten Entgegenstehende zur harmonischen
Ergänzung innerhalb der Gesammtheit nothwendig sei; schliess-
lich aber hat Plotin in grossartigster Weise die Lehre ausgeführt,
dass eine vollendete Harmonie schroffe G^ensätze enthalten
müsse, die sich erst für die Betrachtung vom Weltstandpunkte
*) Den prägnantesten Ausdnick hat dieser Lehre Angastin gegeben,
vor allem in dem enchiridion ad Lanrentinm de fide, spe et caritate. Nach
seiner Bezeichnung ist das Böse nicht causa efficiens, sondern nur causa
deficiens.
**) S. namentlich Diogenes von Apollonia (Frg. 4 bei Mullach): ov
ytiQ av ovTta dedaa&ai oloy re rjy äyev yoriaiog, taaxB xal ndyviav fxirqa l/€iv,
^eifjioiyog re xai d'iQtoff xal yvxtog xal ifjti^tjs xai v€t(Sy xal ayifxfoy xal
evdiifoy, Kai rd dXXa et tts ßovXezai iyyoifCd-ai, ev^iaxoi dy ovno dua^i-
fueya, d>g dyvcxoy xdlXiCta,
***) Bei Aristoteles heisst es vom Leben geradezu eth. 1170 a, 19: xo
(^y xiüy xa^ avio dyaS-tay xal ^ditay. wqusfiiyoy yaQ, ro ^toQUFfniyoy r^r
xdya&ov q>v<SB(ag.
Optimismus — Fessimismns. 239
vollständig in die Einheit auflösten. Die verschiedenen Künste
bieten zahlreiche Beispiele, auch ein Thersites gehört zum Epos,
das Gemälde kann nicht ganz in Licht gemalt sein, und das
musikalische Kunstwerk muss Dissonanzen enthalten. Wenn aber
die Harmonie der Welt für uns etwas unfassbares bleibt, so kann
sich Plötin a^uf das Wort Heraclifs berufen, dass eine verborgene
Harmonie höher sei als eine oflfenbare.
Der geschichtliche Einfluss dieses transscendent- ästhetischen
Optimismus reicht weit über die griechische Welt hinaus, ja in
dieser Form hat sich der Grundgedanke allen spätem Systemen
anzupassen vermocht. Indem Augustin die Welt als Selbst-
darstellung des göttlichen Seins fasste, trat ihm der Begriflf der
.Ordnung als allumfassend vor das Gute, Wahre und Schöne, und
schien das Böse für die letzte Betrachtung zu verschwinden. Mit
besonderer Energie erklärte sich sodann Scotus Erigena für diese
Ali; von Optimismus, auch die Scholastik eignete sich dieselbe an,
und Leibnitz war bestrebt, sie durch weitere Analogien vorstell-
bar zu machen.*)
Das Christenthum hätte nach seiner Grundauffassung von der
Welt einen ethischen Optimismus zu vertreten gehabt, nach dem
die Weltordnung sich als eine solche erwiese, welche in voll-
kommenster Weise die sittlichen Gesetze verwirklichte. Dabei
würde dann der Gegensatz einer strengem und mildern Auf-
fassung hervorgetreten sein, der sich in dem alten Streit be-
kundet, ob die Welt um der Ehre oder der Güte Gottes willen
geschaffen sei, ob Gerechtigkeit oder Liebe letzthin entscheide, und
jedenfalls wäre hier der Optimismus recht eigentlich zur Theo-
dicee**) geworden. An Anklängen solcher Versuche fehlt es nicht.
*) S. z. B. 548 b : c'est comme dans ces inventions de perspective,
oü certains beanx desseins ne paraissent que confusion, jusqu' ä. ce qu'on
les rapporte ä leur vrai point de vue, ou qü'on les regarde par le moyen
d'un certain verre ou miroir. — Ainsi les d^formit^s apparentes de nos
petits mondes se r^unissent en beant^s dans le grand.
♦*) Der Ausdruck Theodicee scheint dagegen erst von Leibnitz zu
stammen.
240 OptimiAmiiB — Pessimismus.
aber für das allgemeine Bewusstsein war das Uebel zu sehr ein
Reales und yor allem die sittliche Schuld zu sehr ein absolut
nicht sein sollendes, um die Einfügung in einen sie rechtfertigmiden
Zusanunenhang zuzulassen. In der Besorgniss, durch solche
Speculationen den Gegensatz des Guten und Bösen abzuschwächen,
begnügte man sich gewöhnlich damit, die nächstliegenden Ein-
wendungen zurückzuweisen, während die principielle Frage als
etwas die Kraft menschlicher Vernunft übersteigendes abge-
lehnt wurde.
Die Neuzeit dagegen, mit ihrem unbedingten Vertrauen auf
die Macht der Vernunft in der Welt und im Menschengeiste,
wandte dem Probleme ihre Tolle Kraft zu. Einig war sie
von Anfang an darin, das Werth volle nicht in irgend einer
specifischen Qualität, sondern in der Fülle von Kraft und Leben
selber zu suchen, aber die beiden Grundrichtungen, denen wir so
oft begegnet sind, machen sich auch hier geltend und treiben
einen zwiefachen Optimismus hervor: einen logischen und einen
physikalischen. Dort wird die Welt dadurch rechtfertigt,, dass
sie sich der tieferdringenden Betrachtung als ein Werk der
Vernunft selber herausstellt. Die Vernunft ist aber hier ihrem
Wesen nach eine theoretische, und die Welt erscheint deswegen
als die beste, weil sie in das Denken aufgeht Darnach sind es
im Grunde die formalen Bestimmungen des Denkens, die sich als
weltbeherrschend erweisen, und nur indem jeglicher reale Inhalt
auf sie zurückgeführt oder Tielmehr ihnen aufgeopfert wird, gelingt
es, das Wirkliche als vernünftig und das Vernünftige als wirklich
darzuthun. Was hier das Denken als wesentlich hinstellt, gilt darum
auch als gut, und etwas als nothwendig erweisen bedeutet soviel
als es letzthin rechtfertigen.*) Diese Riclitung findet ihre Haupt-
vertreter in Spinoza und den deutschen constructiven Philosophen,
vor allen darf Hegel als ihr Höhepunkt betrachtet werden.
*) S. Hegel VIII, 193: „Wesentlich und gut sind ohnehin gleichbe-
deutend;'* Fichte VII, 14: „Nothwendig, und daram gut." II, 135: .Die
sittliche Welt ist nicht die beste, sondern sie ist die einzig mögliche nnd
durchaus nothwendige Welt, d. h. die schlechthin gute.**
Optimismus — Pessimismus. 241
Gregen die hier stattfindende Einssetzung des Logischen und
Timologischen kämpfte Leibnitz mit aller Energie, aber wenn er
jener Kichtung eine Vermengung von verschiedenartigen Begriflfen
Schuld gibt, so fragt sich, ob die von ihm versuchte Lösung nicht
demselben Vorwurf ausgesetzt sei. Wenn wir in der Theodicee
durch die bunte und nicht widerspruchslose Fülle des zur Ver-
theidigung der eignen Ansicht angehäuften Materials zu dem
Leibnitz eigenthtlmlichen Kern durchdringen, so stellt sich seine
Lehre ganz anders heraus als sie dem ersten Blick scheinen
könnte. Ihm ist die Welt die beste, weil sie am meisten Sein
zur Wirklichkeit kommen lässt, am meisten lebendige Kraft ent-
wickelt. Alle Vollkommenheit besteht in der Quantität des Seins,
die Vervollkommnung ist Steigerung derselben und alle Lust
Empfindung der Vollkommenheit und Vervollkommnung. So sehr
er dabei bestrebt ist. Sein und Kraft dem allgemeinsten Begriff
nach zu bestimmen, so schiebt sich doch immer das Vorstellungs-
bild der physischen Kräfte ein, wie dies schon daraus her-
vorgeht, dass ihm die Gesammtheit als Summe erscheint. Das
Viele ist so verbunden, dass im Ganzen die grösste Kraftauf-
bietung stattfindet und damit im Weltall eine Art „metaphysische
Messkunst" ausgetlbt wird.*) Alles solcher Auffassung schein-
bar Widersprechende schwindet vor der Erwägung, dass nicht
*) Unter den zahlreichen hiehergehörigen Stellen drückt den leibnitzi-
Bchen Grundgedanken wohl am dentlichsten ans de remm orig. radic. (Wke.
147 b): Hinc vero manifestisBime intelligitnr ex infinitis possibilinm combi-
nationibus seriebnsque possibilibus existere eam, per quam plurimum essen-
tiae seu possibilitatis perducitnr ad existendum. Semper scilicet est in
rebus principinm determinationis quod a maximo minimove petendum est,
nt nempe maximus praestetur efifectns minimo ut sie dicam snmtu. £t hoc
loco tempns, locus, ant ut verbo dicam, receptivitas vel capacitas mnndi
haberi potest pro sumtu sive terreno in qno quam commodissime est aedi-
ficandnm, formarnm autem varietates respondent commoditati aedificii mnl-
titndinique et elegantiae cameramm. Et sese res habet nt in ludis qnibns-
dam cum loca omnia in tabula sunt replenda secundum certas leges, ubi
nisi artificio qnodam utare, postrcmo spatiis exclusus iniquis plura cogens
relinquere loca vacua, qnam poteras vel volebas.
Eucken, Geschichte und Kritik. 1(5
242 Optimismus — Pessimismus.
irgend welches Einzelne, sondern nur das Ganze entscheidend in
Beti'acht kommen kann, und dass im Zusammenhang dieses Ganzen
oft die Combination Ton einzeln betrachtet geringem Dingen mehr
zu leisten vermag als die von grossem.*) Auch das Böse wird
hier damit rechtfertigt, dass die es enthaltende Welt mehr Kraft
verwirkliche und daher besser sei, als eine Welt ohne das Böse.
Dieser Versuch einer Vertheidigimg des Universums hat weit
über die schulmässige Form hinaus Einfluss auf die Wissenschaft-
liehe Bewegung gehabt. Das Gesetz des kleinsten Kraftaufwandes
ist schon bei Leibnitz von daher abgeleitet, Männer wie Lessing
und Herder hielten den Grundgedanken werth, bis zur Gegenwart
haben sich manche hervon-agende Forscher an ihn angeschlossen,
und selbst im Darwinismus könnte man eine Art Ausführung von
ihm erblicken.
Wie viel sich gegen alle diese Formen des philosophischen
Optimismus im allgemeinen und in jedem besondem Falle ein-
wenden lässt, gehört nicht hierher, für die erste Betrachtung wird
das Bedenken besonders schwer wiegen, dass alle Lösungsversuche
ein volles Aufgehen des Einzelnen in das Ganze voraussetzen,
während doch die Einzelwesen der Welt eine andere Art der
Selbstständigkeit in Anspruch nehmen müssen, als sie Theilen
eines Kunstwerks, Momenten eines logischen Processes oder
Gliedern einer Summe zukommt. Bei jeder besondem Form des
Optimismus aber wird die philosophische Kritik das Einseitige
und Ungenügende der Begriflfe und Sätze gegenüber der uni-
versalen Aufgabe darthun, und sie wird wenigstens insofern
gegen dieselben alle zerstörend wirken, als sie in dogmatischer
Weise eine letzte Enträthselung des Geheimnisses bieten wollen.
Im Zusammenhang mit einer solchen Kritik hat auch der
theoretische Pessimismus unzweifelhaft eine Berechtigung. Mag*
*) S. deutsche Schriften I, 412: Ein geringes Ding zu einem geringen
gesetzet kann oft etwas bessers zu Wege bringen, als die Zusammensetzung
zweier andern, deren jedes an sich selbst edler als jedes von jenen. Hierin
stecket das Geheimniss der- Gnadenwahl und Auflösung des Knotens. Duo
irregularia possunt aliquando facere aliquid reguläre.
Optimismus — Pessimismus. 243
er auf das Mangelhafte der begrifflichen Bestimmungen in jenen
abschliessenden Systemen hinweisen, mag er das in Erfahrung
und Empfindung unmittelbar Vorliegende entgegenhalten, er ver-
tritt eine wohlbegrtindete Opposition ; aber die Sache nimmt schon
eine andere Gestalt an, wenn er deswegen glaubt, die optimi-
stischen Versuche ihrem Wesen nach würdigen, letzthin widerlegen
und sich selbst als der Wahrheit näher stehend über sie er-
heben zu können. Denn die tiefem Beweggründe jener Versuche
pflegen ihm zu entgehen, und seine stärkste Waffe ist der Hinweis
auf die jeglichem Optimismus entgegenstehende Erscheinung. Nun
aber beziehen sich alle jene Systeme gar nicht auf die erste Er-
scheinung, sie behaupten nicht, dass das unmittelbar Vorliegende
sich als ein Vernünftiges darstelle, sondern nur dieses, dass in
dem Weltgeschehen sich letzthin ein Vernünftiges durchsetze und
verwirkliche. Aber um zu demselben zu gelangen, muss man
sich vielleicht weit über die Erscheinung erheben, ja in einen
Gegensatz dazu treten, so dass philosophische Optimisten, wie
2. B. Plato oder Augustin, sehr wohl der Empirie gegenüber als
Pessimisten gelten können. Jedenfalls brauchen solche Männer
nicht erst bei unsem modernen Pessimisten in die Schule zu gehen,
um sich über den Ernst des Lebens belehren zu lassen. Auch die
deutschen Idealisten, voran Fichte, dachten von der Welt der un-
mittelbaren Erscheinung nicht überschätzend *), und wenn Leibnitz
als unbedingter Optimist ausgerufen und als Typus eines salchen
hingestellt wird, so liegt das nicht sowohl an seiner philoso-
phischen Theorie vom Weltall, als an dem Zusammentreffen der-
selben mit einer rein individuellen Eigenthümlichkeit, dem Streben,
die Dinge möglichst von der guten Seite zu nehmen.
♦) S z. B. Fichte 11, 97: „Von der unmittelbaren Wirklichkeit- kann
man übrigens oft nicht schlecht genug denken. So niedrig man oft ihr
Bild nimmt, so übertrifft es doch die Erfahrung. Wer aber von der Mensch-
heit nach ihrem allgemeinen Vermögen schlecht denkt, der lästert die
Menschheit und verurtheilt nebenbei sich selbst," V, 537: „Da die Sachen
einmal stehen, wie sie stehen, ist das Elend noch das allerbeste von allem,
das in der Welt ist." Dass ferner bei Hegel Erscheinung und Wirklichkeit
sehr bestimmt unterschieden werden, das sollte nicht so oft vergessen sein.
16*
244 Optimismiu — Peanmumna.
Gewiss ist der OpHmiBmiiB angreifbsr, aber er ist es im
Gmnde doeh nur desw^en, weil er sich tai eine nnsere Kräfte
Qbereteigende Aufgabe wagt, und weil er flir die Lösong eioes
in die Unendlichkeit weisenden Problemes den Bahtnen unvermeid-
lich zu eng nimmt, aber damit tbeilt er nur das Schicksal aller
Vernimftideen, die gleichmässig rom Standpunkt der Dächstliegen-
den Erscheinung und des räsonnirenden Verstandes widerlegt und
verspottet werden können. Mag man sieb in der witzig frivolen
Weise eines Voltaire oder in der bitter derben eines Sohopenhsuer
gegen den Optimismus wenden und im Einzelnen noch so viel
Richtiges vorbringen, das Grundstreben wird von allen solchen
Angriffen nicht getroffen.
Wenn nun aber gar der Pessimismus sieh zu einem philo-
sophischen Systeme ausbilden und die Lehre von der schlechtesten
Welt positiv verfechten möchte, so muss gesagt werden, dass ein
derartiger Versuch alle Gefahren und Irrungen des Optimismus
tbeilt, o)ine sieh aus einem Grundstreben der Vernunft zu recht-
ferttgen und durch Zusammenfassung einer Fülle von Ersehei-
nungon unter ein positives Frineip fruchtbar zu erweisen. Wenn
der OptimisinuB Werthbegriffe auf das Weltganze anwendet, so
hat dies wenigstens insofern einen Sinn, als er von dem Postulate
eines wesentlichen Zusammenhanges von Sein und Vernunft aus-
geht, aber wie man bei einer Trennung beider überhaupt dazu
kommen soll, solche BegrifTe in das Universum einzutragen, ist
nicht wohl zu verstehen. Man mag immer wieder demonstriren,
dass im Leben des Einzelnen, der Menschheit, ja aller empfinden-
den Wesen das Elend überwiege, was wäre damit für das Ganze
dargethan, in dem dieses alles äusserlich verschwindet?*) Alle jene
fassen Optimisten haben das Geschick der Menschheit dem des
Weltalls eingefügt und unterworfen, und wenn speciell Leibnitz
meint, dass UnvoUkommenbeiten der einzelnen Gebiete ftlr das
') Der PeBaimiBnms vermag demjenigen,- was einer Wettlischätiiing
'elt am luöiBten Schwierigkeit maelit: dem (scheinbar) GleichglUtigeD,
■enigci' liiiziikomnien als der OptimismnB,
i
Optimismus — Pessimismus, 245
Wohl des Ganzen erforderlich sein könnten, so würde ihn viel-
leicht sein Gefühl, aber nicht seine Philosophie hindern, alles
menschliche Elend für eine solche im Interesse des Ganzen noth-
wendige UnvoUkommenheit zu erklären.*) Kurz eine weitere
Bedeutung als die einer Reaction gegen den Optimismus vermag
dem Pessimismus ate Theorie nicht zuerkannt zu werden. Die
ganze Frage nach dem Werthe des Weltgeschehens kann an-
gegriffen werden, ist sie aber einmal aufgeworfen, so vertritt der
Optimismus das positive Interesse der Wissenschaft.
Völlig verschieden aber vom Optimismus und Pessimismus
als philosophischer Theorie ist Pessimismus und Optimismus als
Empfindung und Ueberzeugung im allgemeinen Leben. Denn hier
handelt es sich nicht um eine Werthschätzung des Weltganzen,
sondern um die Beurtheilung des in der Menschheit Vorgehenden
und die Auffassung unseres Verhältnisses zu unsem Aufgaben und
Zielen. Solche Fragen werden gelegentlich zu allen Zeiten auf-
geworfen werden und je nach Natur und Lage der Individuen
verschiedene Beantwortung finden; dass sie für die Gesammtheit
in den Vordergrund treten imd alle Erscheinungen in ihren
Gesichtskreis ziehen, das zeigt selbst schon einen bestimmten
Wendepunkt in der geschichtlichen Bewegung an.
Denn die Reflexion über den Werth des eignen Thuns und
Geschickes ist dem menschlichen Leben nichts ursprüngliches. Wie
der Einzelne, so wird auch die Menschheit in der Zeit aufstreben-
der Entwicklung und gelingenden Schaffens so sehr durch die
Thätigkeit erfüllt, dass es zu vielem Nachsinnen über den eignen
Zustand gar nicht kommt. Diese Frage setzt schon ein Anhalten
der Thätigkeit, ein gewisses Uebergewicht reflectirender Betrach-
tung über kraftanstrengendes Wirken voraus, sie geht ebenso aus
*) Den Pessimisten gegenüber tritt er der Auffassung des Maimonides
bei (s. 582 b): que la canse de leur erreur extravagante est, qu'ils s'imagi-
nent que la nature n'a 6t^ faite que pour eux, et qu'ils comptent pour
rien ce qui est distinct de leur personne, d'oü ils inf^rent que quand il
arrive quelque chose contre leur gr^, tout va mal dans Tunivers.
246 OptimürnnB — PesaimiBmaB.
einer gewissen Erschlaffung und Zweiflung hervor, wie sie ihrer-
eeits dieselben steigert. Die einmal begonnene Bewegung pflegt
dann raseh weiter zu gehen. Je mehr die Schaffenskraft erlahmt,
desto mehr wird der Blick für alles hemmende und störende ge-
schärft, desto mächtiger wird das Gegenwirkende auch thatsäeh-
lich, desto rascher wächst die Kluft zwischen Aufgabe und Ver-
mögen. Der Zweifel heftet sich dabei zunächst an die besondern
Gestaltungen, aber er greift bald weiter, alle Probleme und Wider-
sprüche des Lebens treten hervor, und in allem macht sich die
Antinomie geltend, welche aus dem SfissTerhältnisB endlicher Kraft
zu unendlichen Aufgaben entspringt. Auf einVollkommnes, Granzes,
Allumfassendes ging das Streben, während nun Überall die
Schranken vor Augen treten, und auch das höchste, was erreichbar
ist, dem Ziel kaum näher zu führen scheint. In solcher Lage
wiegt auch das Unerfreuliche der besondern Umstände schwerer,
imd nun steigert sieh vorübergehendes und bleibendes ; die Auf-
gabe der Ewigkeit lastet auf dem Moment, und der Moment
scheint sich mit seinem Leide in die Ewigkeit auszudehnen. Wer
kann es befremdlich finden, wenn unter solchem Druck keine
Freude an Thätigkeit und Leben aufzukommen vermag?
Wo das Bewuestsein einer solchen Kluft zwischen Ideal und
Wirklichkeit für Denken und Handeln bestimmend wird, da hat
der Pessimismus seine Stätte. Denn ein Missverhältniss zwischen
jenen beiden erkennt auch der Idealismus an, aber da ihm der
Abstand keine feste Grösse und das Hemmende nicht unüber-
windliche Macht scheint, so ergibt sich für ihn nur Veranlassung
zu mn so grösserer Kraftaufbietung. Der Pessimismus aber hält
die Kluft für nicht zu verringern, so dass der Mensch nun
rathloB vor ihr stehend in Leben und Handeln ermatten muss.
Aber ein solcher Standpunkt enthält in sich einen Wider-
spruch. Pessimismus ist nur so lange möglich, als überall
ein Ideal gesetzt wird, mag es dann für unerreichbar erklärt
weiden; es muss iigend etwas Werthvolles in der Welt gehen,
wenn das Leid tlber das Entbehren gerechtfertigt sein soll. Der
Pessimist verhält sich hier ähnlich wie der Skeptiker, der auch
Optimisinns — Pessimismus. 247
den Begriff der Wahrheit bildet und uns nur den Zugang zu ihin
versperrt. Beide muss die Folgerichtigkeit des Denkens und
Lebens dahin führen, entweder das Ideal und damit alles Interesse
an ihm aufzugeben, oder es in irgend einer Form neu zu ge-
stalten, die eine Annäherung ermöglicht. In jener Mittelstellung
lässt sich auf die Dauer nicht verharren.
Nach dem Allen ist der Pessimismus nicht ein fest und ein-
fach bestimmtes, sondern er durchläuft mannigfache Stufen, nach
denen auch seine Werthschätzung verschieden sein muss. Zunächst
ist er nur ein zweifelnder Idealismus und als solcher ein geradezu
nothwendiges Moment eben der kräftigsten üeberzeugungen, aber
nun verfestigt sich die Ungewissheit, der Zweifel wird positiv,
das Ideal rttckt immer ferner imd wird endlich zu einem blossen
Schattenbilde. So bleibt die empirische Welt und der empirische
Mensch allein über, und wenn nun doch von dem Anspruch
auf ein WerthvoUes nicht nachgelassen werden soll, so muss
sich überall ein Widerspruch geltend machen. Nach der Norm
der Vernunft gemessen, die nun nicht mehr weltdurchdringende
Macht ist, erscheint alles Vorliegende klein und kleinlich, man
vermag die Geringfügigkeit alles von uns je zu erreichenden dar-
zuthun, sowie zu zeigen, dass durchgehend niedere Motive den
Menschen beherrschen, wenn er auch mit steter innerer Heuchelei
sich vor sich selbst und andern als durch edleres geleitet darstellen
möchte; und man mag mit allem dem Recht haben, man hat es
immer nur für jenen widerspruchsvollen Standpunkt, den man
einnimmt.
Aber die Bewegung geht dann rasch noch einen Schritt
weiter, indem an Stelle der Frage nach der Bedeutung des Lebens-
inhaltes die nach dem Glück tritt. Man fangt an nicht so sehr
auf das zu achten, was man denkt und handelt, als auf das, was
man empfindet und erlebt; es wird versucht Lust und Schmerz
im Leben gegeneinander a1)zumessen, wobei die Antwort schon
deswegen nicht zweifelhaft sein kann, weil das werthvoUste im
Leben, die Thätigkeit, ausser Acht bleibt, und weil der Mensch
mit ihr die Widerstandsfähigkeit gegenüber den Verhältnissen
248 Optimismns — PessimismaB.
preisgibt. In Wahrheit hat das, was an uns herantritt, nicht für
sich einen unabänderlichen Weii;h, sondern auf denselben wirken
ein die Bescliaffenheit des Aufnehmenden, der Zusammenhang,
in den das Einzelne gebracht wird, die Kräfte, welche es wach-
ruft*) Wenn also der letzte Werth sehr weit von dem ersten
abweichen kann, ja sogar eine gewisse Umkehrung (natürlich in
eausal-gesetzlichem Zusammenhange des Innenle^bens) möglich ist,
so erscheint es als verkehrt, das uns äusserlich Zustossende für
sich entscheiden zu lassen. Alles was die einzelnen Individuen
betriflft, blieb im Lauf der Geschichte wesentlich unverändert,
hatte es also wohl nicht besondere Gründe, wenn gewisse
Zeiten dies Geschick der Einzelnen so in den Vordergrund stellten?
Nicht nur haben Individuen wie Völker im härtesten Kampf
gegen widerstrebende Verhältnisse sich die Freude am Leben
erhalten, sondern es haben gerade grosse Schicksale, weil sie den
Menschen bis in's Innerste aufregten und alle Kräfte entwickelten,
am sichersten vor dem Pessimismus bewahrt.
Wird aber einmal der Geist als leidend betrachtet und nicht
das Handeln, sondern das Empfinden als über unser Leben be-
stimmend angesehen, so ist freilich der Pessimismus einzig be-
rechtigt, und es ist verkehrt, dann noch mit ihm über kleine
Dinge zu markten. Denn dass in dem Mechanismus der Empfin-
dungen Unlust und Schmerz leicht den Sieg über die Lust davon-
tragen, und das Leben so betrachtet sich als ein stetes Schwanken
zwischen Langeweile und Schmerz herausstellt, das ist von Alters
lier zur Genüge dargethan. Kur wird man auch diese Thatsache
anders, ja geradezu entgegengesetzt deuten können, als es im
landläufigen Pessimismus geschieht Ueber die Kleiiilichkeit der
dieser Form zu Grunde liegenden Voraussetzungen aber darf kein
Wort verloren werden.
Damach besteht im grossen geschichtlichen Leben nicht so
•) S. Angustin de civit Dei I, 8: una eademque via irmens bonos
probat, porificaty eliquat ; malos damnat, vastat, exterminat. Unde in eadem
afflictione mali Deum detestantnr atqne blasphemant; bonl antem precan-
tur et laudant. Tantnm interest, non qaalia, sed qualiBcanqne patiatnr.
Optimismus — Pessimismus. 249
sehr ein Gregensatz zwischen PeBsimismus und OptimiBmus als
zwischen Zeiten einer pessimistischen Beflexion und einer er-
ftülten Thätigkeit Von Optimismus könnte nur etwa danü die
Eede sein, wenn die Menschheit mit vollem Bewusstsein ihre
Kraft den Aufgaben für gewachsen hielte oder sie gär über-
schiessend glaubte, aber wenn auch derartige Momente im ge-
schichtlichen Leben vorkommen, indem bis dahin zurückgedrängte
Kräfte für die Thätigkeit frei werden und gegenüber einer ent-
sagenden Stimmung die Macht der Menschheit verkündet wird, so
sind das naturgemäss vorübergehende Momente. Denn sehr bald
wird die Aufgabe die Kraft vollauf anspannen und jenes Gefühl
des Ueberschusses zurückdrängen. Will man aber Optimismus
die Connivenz gegen alles Geschehende nennen, die bequeme Zu-
rechtlegung der Ereignisse, um nur nicht zum Handeln Veran-
lassung zu haben, so ist eine solche geistige Stumpfheit freilich
niedriger als die niedrigsten Formen des Pessimismus, weil sie
ein Erlöschen selbst der Reactionsfähigkeit des Menschen anzeigt,
und man könnte hier mit Marc Aurel fragen, welchen Grund es
noch habe zu leben, wenn selbst das Bewusstsein des Fehlens
verloren gegangen sei*); aber hier handelt es sich im Grunde
nicht mehr um eine üeberzeugung vom Leben, sondern um ein
Aufgeben aller Üeberzeugung, so dass auch die wissenschaftliche
Betrachtung damit nichts zu thun hat — Wie also bei den
theoretischen Systemen der Pessimismus nur einen Rückschlag
gegen die Versuche einer optimistischen Weltbegreifung bildet, so
bedeutet umgekehrt auf praktischem Gebiet der Optimismus nur
ein Uebergangsstadium , in dem sich eine Reaction gegen vor-
wiegend pessimistische Ueberzeugungen vollzieht. Was man ge-
wöhnlich als Optimismus und Pessimismus einander entgegenstellt,
berührt sich gar nicht: das eine gehört der Wissenschaft, das
andere der Lebensstimmung, jenes dem Denken, dieses der Em-
pfindung an.
*) S. Marc. Aurel 7, 24 : ei yccQ xal rj avyaiad-rjaig rov äfxaqxdviiv oixn-
C€Tai, rig eri rov C^v alria;
250 Optimismus — PesBimismns.
Nach dem allen i&t der Pessimismus im Gesammtleben nicht
als eine wissenschaftliche Theorie, sondern als ein geschichtliches
Moment zu verstehen und zu würdigen, und es wird ihm von
solchem Standpunkt aus eine grosse Aufgabe in dem Auf- und
Absteigen der geschichtlichen Mächte nicht abzustreiten sein. Jede
besondere Weltbegreifung und Lebensgestaltung wird sich gegen-
über der Gesammtaufgabe des vernünftigen Wesens in ihrem Ver-
lauf als zu eng herausstellen, und wird daher im Fortgang der
Bewegung als besondere und abschliessende Form aufgelöst werden
müssen. Im Aufsteigen des geschichtlichen Lebens mag der
Mensch die G^sammtheit seiner Strebungen in dieses Besondere
hineinlegen und in der schaffenden That den Gegensatz des End-
lichen und Unendlichen überwinden, denn darin eben besteht das
Wesen classischer Zeiten, dass in dem Vorliegenden ein Ewiges,
Universales erfasst, beides in eins verschmolzen, und Idee und
Erscheinung, Inhalt Und Form in untrennbarer Einheit ergriffen
werden. Aber im weitem Fortgehen und Sichherausarbeiten muss
das Ungenügende hervortreten, müssen die Widersprüche und
Conflicte sich geltend machen und damit die Zersetzung beginnen.
Hierbei bringt der weltgeschichtliche Process das Tragische mit
sich, dass gerade die Erfüllung des unabweisbaren Verlangens,
den besondem Lebensinhalt vor der denkenden Vernunft zu recht-
fertigen, die Zerstörung einleitet. Denn indem man ihn als einen
allgemeingültigen erweisen möchte, muss der Gegensatz des Speci-
fischen und Allgemeinen, des Begrenzten imd Universalen zum
Bewusstsein kommen, und damit die Wendung zu jener absteigen-
den Bewegung eintreten, die wir oben zu verfolgen suchten.
Hier hat nun ohne Frage der Pessimismus eine grosse Auf-
gabe, insofern er die Unendlichkeit und UnerfüUbarkeit der Ver-
nunftaufgabe gegenüber allen endlichen Formen vertritt. Die
Reflexion und Kritik, welche er hierbei ausübt, wirkt freilich
unmittelbar nur als eine abstracto Macht und daher zerstörend,
aber in dem Streit und Zwiespalt, der sich jetzt aufthut, werden
die Ziele weiter gesteckt, neue Kräfte aufgeregt, das Leben durch
den Kampf und Schmerz vertieft und damit positive Gestaltungen
Optimismus — Pessimismus. 251
wenigstens yorbereitet. Es werden die allgemeinen Kräfte, welche
in die besondere Gestaltung gebündelt waren, aus diesem Gefüge
losgelöst und damit frei gemacht zu neuer Verwendung. Mag
das Ganze zunächst lauter Zerstörung scheinen, auch die Auf-
lösung steht im Dienst des Lebens, wenn anders wir die Veniunft
nicht in die Gegensätze der Erscheinung hinabziehen, sondern sie
als dieselben umfassend und sich im Zerstören ebenso wie im
Aufbauen bewährend ergreifen. Von da aus wird auch der Pessi-
mismus als ein werthvolles Mittel der geschichtlichen Bewegung
Anerkennung finden.
Jedenfalls folgt aus solcher Auffassung für seine Behandlung,
dass er nie durch theoretische Gründe, und wäre alle Kunst der
Dialektik aufgeboten, endgültig widerlegt werden kann; sowie
dass er aus der geschichtlichen Gestaltung zu erklären und von
da seinem specifischen Inhalt nach zu begreifen ist.
Auch in der Gegenwart muss das Specifische des Pessimis-
mus herausgestellt und von andern Formen geschieden werden.
Vor allem darf die im Christenthum vorwaltende Lebensstimmung
nicht dem neuern Pessimismus zu sehr angenähert werden. Freilich
setzt das Christenthum nicht nur einen Zwiespalt zwischen Wirk-
lichkeit und Ideal, sondern es macht geradezu das Böse zu der in
dem empirischen Geschehen starkem Kraft und erklärt weit
mehr als das Handeln das Leiden als Aufgabe des Lebens *), aber
der Glaube an die Realität und Ueberlegenheit einer hohem Welt
wird dadurch nicht erschüttert, sondern nur mit um so grösserer
Kraft entgegengehalten. Gerade im Unterschied von dem müden
und verzweifelnden Pessimismus des sinkenden Alterthums sehen
wir hier einen ungeheuren Lebensdrang; diese Welt wird nur
aufgegeben, um dafür eine andere wiederzugewinnen, dazu ist in
dem Zusammenhang eines ethisch - religiösen Systems die Bedeu-
tung des menschlichen Lebens unermesslich gesteigert, so dass
*) Nur freilich, dass Leiden hier mehr ist als blosses üebersichergehen-
lassen. Wir erinnern nur an das von Luther gern angeführte Wort : passio
est summa actio.
252 Optimismus — Pessimismus.
die meisten Kirchenväter das Elend desselben nicht ausmalen
können , ohne zugleich für seinen werthrollen Inhalt einzutreten
und sich damit zum antiken Pessimismus auch in einen bewussten
Gegensatz zu stellen.*)
In einer solchen Welt- und Lebensauffassung kommen ent-
gegengesetzte Stimmungen zur Geltung, ja zu ungehemmtem Zu-
sammensein. Der Schmerz über das Böse in der Welt darf
nicht leicht genommen werden, da es fortwirkt und in seinen
Folgen nie ganz aufgehoben werden kann, aber das Gute bleibt
doch die obwaltende und siegende Macht, und da es ebenso als ein
Ueberweltliches dem Kampf und dem Hineinziehen in die ünvoU-
kommenheit entrückt, wie als geschichtlich in die Welt Hinein-
wirkendes gegenüber allem Zweifel bezeugt ist, so wird es hier
möglich, ohne irgend ein Herabmindern oder Bezweifeln des Ideals
Leid und Schmerz in voller Tiefe anzuerkennen, und also beide
Glieder des Gegensatzes in die Lebensstimmung aufzunehmen.
Ja es konnte das eine das andere geradezu steigern : je höher
das Ziel gesteckt war, desto schmerzlicher schien die Entfrem-
dung, und je mehr das Elend des Lebens empfunden wurde, desto
kräftiger ward die Zuversicht des endlichen Sieges festgehalten.
Freilich ist in dem geschichtlichen Lauf bald das eine, bald
das andere mehr hervorgetreten und wenige Persönlichkeiten haben
beides zu einer widerspruchslosen Ausgleichung gebracht Während
namentlich in den ersten Jahrhimderten und auch im Mittelalter
sich wohl ein stimmungsvoller Pessimismus rein menschlichen
Inhalts mit einer Ausschliesslichkeit geltend macht, welche die
Einfügung in ein christliches Lebenssystem jedenfalls erschwert**);
*) So kämpft z. B. Lactanz (instit. II, 1) dagegen: ne se, nt qnidam
philosophi faciunt, (homines) tantopere despiciant, neve se infirmos et nihil!
et frastra omnino natos esse putent, qnae opinio plerosqiie ad vitia compellit.
**; Es gilt das z. B. von Gregor von Nyssa, dem bedeutendsten Pessi-
misten des christlichen Alterthiims, dessen Klagen oft an die des modernen
Weltschmerzes anklingen, sowie von Innocenz III., dessen Werk de con-
temptu mundi unter den weltanklagenden Schriften eine hervorragende
Stelle einnimmt.
Optimismus — Pessimismus. 253
entstand in der Neuzeit die Gefahr, dass die Unmittelbarkeit
und innere Wahrheit der Schmerzempfindung verleiben ging. 6e-
wohnheitsmässig klagte mancher über Leid und Elend des Lebens,
der sich innerlich gar wohl dabei fQhlte, und die Schranken
menschlichen Strebens vorzuhalten waren oft diejenigen am meisten
beflissen, die ihre Kraft am wenigsten an den Kampf um die
höchsten Güter gesetzt hatten.
Aber bei allen solchen Einseitigkeiten und Irrungen bleibt
das Grosse der Gesammtrichtung ausser Zweifel. Die im Christen-
thum stattfindende imermessliche Vertiefung der Innerlichkeit des
Lebens, sie ist zum guten Theil durch den oben geschilderten in
die Strebung und Empfindung des Menschen unmittelbar hinein-
fallenden Gegensatz und Kampf erreicht ; auch die Gestaltung des
christlichen Gesammtlebens, z. B. die Eigenthümlichkeit der christ-
liehen Kunst, hat von hier aus erhebliche Einwirkungen erfahren.
— Nach dem allen wird man sagen müssen, dass freilich im
Christenthum die Anerkennung des Bösen in der Welt den Aus-
gangspunkt der ganzen Lebensanschauung bildet, aber von eigent-
lichem Pessimismus darf keine Rede sein, da es ja dabei nicht
abschliesst, vielmehr von Anfang, an den Blick auf ein sicheres
Ziel gerichtet hält.
Der neue Pessimismus ist dagegen Pessimismus im strengsten
Sinne, und er muss als solcher nach dem gesammten Gange
der Bewegung mit besonderer Heftigkeit auftreten. — Die Neu-
zeit ging in ihrem Streben aus vom Gefühl der Kraftfülle, man
glaubte sich stark, Grosses in der Welt zu vollbringen*), ja
*) Es kann hier Baco als typisch angeführt werden. Indem er dem
Pessimismus eine ziemlich ironische Behandlung zu Theil werden lässt,
möchte er selbst lieber die Macht und Grösse der Menschheit vergegen-
wärtigen. S. de augm. seien t. IV , cp. 1 : deplo ratio humanarum aerumna-
rum eleganter et copiose a compluribus adomata est, tam in scriptis philo-
sophicis quam theologicis. Estque res et dulcis simul et salubris. At illa
(sc. contemplatio) de praerogativis digna visa res nobis, quae inter deside-
rata proponatur. Er erklärt es als wünschenswerth ut miracula naturae
humanae viresque ejus et virtutes ultimae, tam animi quam corporis, in
s
254 OptimisuuB — Pessimismus.
man wagte, wie wir sahen, das Unternehmen, die Welt zu
einer auBschliesBlichen Wohtistätte der Vemimft zu machen und
alles Vernünftige in ihr zu verwirklichen. In solchem Strehen
ist mehr Kraft aufgeboten und auch mehr auf die GeBtaltung der
Welt eingewirkt als je in einer frühem Epoche, aber mit dem
Wajj^niss wuchs auch die Gefahr. ÄUeB ist an eine groBse Auf-
gabe geBetzt, die sieh in der Geschichte und Wirklichkeit ent-
Bcheiden muss; der Borger der Neuzeit hat keine Welt, wohin
er seine Ideale Tor den Missständen und Verzerrungen des er-
scheinenden Lebens flüchten könnte, eo dass alles, was es an
Hemmung, Störung und Befeindung gibt, ihn in seinen letzten
Ueberzeugungen treffen muBB. LäsBt sich das Vernünftige nicht
in dem aufrecht erhalten, was als Wirklichkeit gilt, so ist nicht
abzusehen, wie es Überhaupt geBiehert werden aoll.
Dass nun aber thatsächlieh in der neuem Welthegreifung und
Lebensgestaltung die Versuche einer Vollendung und Durchführung
der Grundgedanken auf immer grössere Probleme und Gefahren
gratoBsen sind, daBs ein durchgehender innerer Zwiespalt in ihnen
hervorgetreten, dass mit der Einengung und VeräuBserlichung der
Strebungen die leitenden Tendenzen selber in den Zweifel hinein-
gezogen sind, das haben wir Punkt für Punkt hervortreten sehen.
Abspannung und Miasstimmung waren die natürliche Folge der,
wenn auch wenig klar erkannten , so doch dunkel empfundenen
Krise, and dass solche Stimmungen naoh jener gewaltigen Kräfte
anstrengung und Selbstschätzung der Menschheit mit besonderer
Heftigkeit auftreten, ist leicht zu verstehen.
Nach dem allen halten wir den Pesstmismus der Gegenwart
für eine historisch wohl begründete Erscheinung, die durch theore-
tische Erwägungen nicht zurückgedrängt werden kann. So sehr
wir festhalten, dass die ganze Fragstellung zwischen Optimismus
und Pessimismus eine verkehrte ist, und es für die Aufgabe der
Philosophie wie aller Vernunftthätigkeit erachten, den Menschen
Volumen aliqnod colligantur , quod fuerit instar faetoram de humanig
Optimismus — Pessimismus. 255
über den Standpunkt einer solchen Fragstellung zu erheben, so
hat, wenn man sich einmal darauf einlässt, der Pessimismus
besseres Becht, da in ihm eine thatsächlich vorhandene Krise
zum Ausdruck gelangt.
Aber es rerbinden sich dann freilich mit ihm mannigfache
Bichtungen, die ihrerseits nicht zum wenigsten dazu beigeti-agen
haben, die Lage herbeizuführen, die den Pessimismus relativ be-
rechtigt. Vor allem hat sich die ganze Kleinheit des räsonniren-
den Verstandes jetzt hieher geflüchtet Während im vorigen Jahr-
hundert dieser Verstand die Welt erträglich, ja gut zu finden
geneigt war und nicht müde werden konnte, die beste der Welten
zu preisen, hat er sich jetzt zur verwerfenden Kritik gewandt,
die vornehm über das Universum abspricht. Aber sollten nicht
näher betrachtet der rationalistische Optimismus und der krittelnde
Pessimismus ziemlich genau auf derselben Stufe stehen? — Oder
auch es gesellten sich zum Pessimismus sentimental -romantische
Stimmungen, die ebenfalls im vergangenen Jahrhundert ihre
Anknüpfung finden. Hier schwelgt man in dem Dunkeln und
Unfassbaren weichlicher Grefühle und macht, zwischen sublimer
Mystik und derbem Naturalismus schwebend, den Schmerz zu
einem Gegenstande des Genusses. Neben solchen Strömimgen, die
immer doch eine gewisse Verbindung mit dem geschichtlichen
Gesammtleben bewahren, macht sich dann noch die Bechthaberei
der Parteien, die SelbsigefäUigkeit und Paradoxie der Einzelnen
geltend, welchem allen gegenüber einfach das Wort Seneca^s in
Erinnerung zu bringen ist: Non potest fieri, ut omnes querantur
nisi querendum est de omnibus.
Aber über den Irrungen Einzelner darf die Bedeutung der
Gesammtströmung nicht verkannt werden, und so sehr jede einzelne
Form des Pessimismus, ja überhaupt der professionelle Pessimis-
mus den Widerspruch herausfordert, so ist damit über die tiefem
Probleme, welche die Bewegung anzeigt, nichts entschieden. Als
letzte Wahrheit mag der Pessimismus zurückzuweisen sein, als
Mahnung darf er nicht verkannt werden.
Schlusswort.
Es mag verstattet sein, einen zurückschauenden Blick auf
das zu werfen, was wir hinsichtlich der Gleschiehte wie der
gegenwärtigen Lage der Begriffe glaubten aufstellen zu müssen.
Zunächst sahen wir, wie das, was an Begriffen heute verwandt
wird, sich als Ergebniss langer geschichtlicher Bewegung heraus-
stellt, und wie selbst an den Ausdrücken die Arbeit mancher
Jahrhunderte betheiligt ist Von diesen verdanken wir dem Alter-
thum unmittelbar fast weniger als dem Mittelalter, dessen Scholastik
für die Begründung der wissenschaftlichen Schulsprache eine
hervorragende Bedeutung hat Aber ziemlich alles, was von dort
äusserlich entlehnt ward, ist innerlich umgewandelt, in erster
Linie durch die bahnbrechenden Geister des 17. Jahrhunderts,
dann aber durch Kant Was wir an selbstständigen deutschen
Ausdrücken besitzen, hat sich erst seit dem 16. Jahrhundert be-
festigt.
. Anders liegt die Sache bei den Begriffen. Hier wirkt das
Mittelalter fast nur durch den Gegensatz, der freilich noch immer
ein nicht geringes Eraftmoment bildet, dagegen führen Bchr oft
die Fäden auf das Alterthum zurück. So wenig wir hier die
Bedeutung, welche die sokratische Schule für uns hat, herab-
mindern möchten, so darf doch darüber nicht verkannt werden,
dass wir den Stoikern und Neuplatonikem , überhaupt aber dem
ausgehenden Alterthum, weit mehr schulden, als gewöhnlich ange-
nommen wird: jene bieten für die Begriffe der Gegenwart mehr
SchluBBwort. 257
Anknüpfangspunkte als irgend ein linderes System der Vergangen-
heit, die Neuplatoniker aber haben, wenn auch weniger zahl,
reiche, so doch äusserst tiefgehende Spuren in der Geschichte
der Begriffe hinterlassen. An dieses spätere Alterthum haben
die bahnbrechenden Denker der Neuzeit, über das Mittelalter
zurückgreifend, wieder angeknüpft
Innerhalb der Neuzeit steht aber unbedingt das 17. Jahr-
hundert voran, und wenn hier in der Gesammtbewegung sich
zwei entgegenstehende Eiohtungen scheiden, so werden wir keine
derselben entbehren können, um die begriffliche Arbeit der Gegen-
wart zu verstehen. Die speculativen Systematiker haben ohne
Frage mehr positives geschaffen, aber die Besonnenheit und Kritik
der empirisch-inductiven Denker war für den Fortgang des Ganzen
nicht weniger wichtig. — Unter den leitenden Geistern dürften
von hier aus betrachtet Descartes, Leibnitz und Kant die erste
Stelle einnehmen. Descartes, weil er die Gesammtrichtung des
neuem Denkens mit ursprünglicher Kraft festgestellt und an den
wichtigsten Punkten das entscheidende Wort gesprochen hat ;
Leibnitz, weil er die neuen Ideen zu einem allumfassenden System
ausbaute und alle scheinbaren und wirklichen Gegensätze durch
die einigende Kraft seines Geistes zu überwinden suchte; Kant,
weil er im Dringen auf die Positivität der Dinge und im mikros-
kopischen Zerlegen des Zusammengesetzten überall Eigenthüm-
lichkeit und Voraussetzungen der Begriffe in's hellste Licht stellte
und damit alle Probleme schärfte und vertiefte. Sollten wir aber
unter ihnen den herausheben, der am meisten die Begriffe der
Gegenwart positiv und unmittelbar bestimmt, so würden wir nicht
Kant, sondern Leibnitz nennen.*) Daneben tritt der Einfluss der
*) Damit ist freilich nichts über die letzte Werthschätzung der Denker
ausgemacht, wie überhaupt die Art ihres Fortwirkens in den Begriffen der
Gegenwart ihre Eigenthümlichkeit und Bedeutung keineswegs genügend zum
Ausdruck bringt. Es gilt das namentlich von Spinoza, dessen Einflnss auf
die Gegenwart wir für einen vorwiegend ungünstigen halten müssen, ohne
deswegen seine einzigartige Grösse zu verkennen. Aber für dieselbe sind
andere Momente entscheidend als die hier in Betracht kommenden.
Encken, Geschichte und Kritik. |7
258 Schlosswort.
nachkantischen Denker, auch der construetireii PhiloBophen, recht
zurück, obschon diese direct und indirect doch erheblicher fort-
wirken., als man gewöhnlich annimmt. Aber jedenfalls ist weit
mächtiger eine Strönnmg, die von der Opposition gegen die c<m-
structive und systematische Philosophie ausgehend in den Natur-
wissenschaften eine Stütze findet und von hier in positivem Ausbau
wie eine eigne Weltansicht, so auch ein gewisses Begriffssystem
gestaltet. Ihr Inhalt stellt sich der eingehendem Betrachtung als
eine specifische Durchführung der Grrundstrebungen der Neuzeit
heraus, und ihre Stärke liegt 2um guten Theil darin begründet,
dass sie mit besonderer Entschiedenheit für etwas einzutreten
scheint, das innerhalb der Neuzeit als ein selbstverständliches auf
allgemeine Anerkennung rechnet
Zusammenfassend möchten wir sagen, dass unsere Begriffe
einzeln angesehen sich auf drei Hauptstämme, nämlich die Antike,
das 17. Jahrhundert und die kantische Philosophie zurückführen
lassen; beachten wir aber die Gombinationen und Gesammtten-
denzen, so würden wir aus der Geschichte zunächst die Neuzeit
seit dem 15. Jahrhundert, aus dieser aber wieder die Gegen-
wart in dem wiederholt angegebenen Sinne aussondern. Das
Spätere setzt hier das Frühere auch innerlich voraus, so dass wir
die Strebungen der Gegenwart nicht verstehen können, ohne den
Blick auf das Ganze zu richten. Bei einer solchen Mannigfaltig-
keit der Elemente ist das Vorhandensein von Verschiedenartigem,
ja Widersprechendem im Begriffssystem der Gegenwart von vom
herein zu vermuthen. Sehen wir von dem Verhältniss des aus
frühem Zeiten Aufgenommenen zum Neuen ab, so bringt schon
innerhalb dieses der Unterschied der inductiven und specu-
lativen Richtung überallhin einen Zwiespalt, und äussert ferner
für die wissenschaftliche Fassung der Begriffe der principielle
Unterschied der Behandlung bei Leibnitz und bei Kant noch fort-
während seine Wirkungen. Bei Leibnitz das Streben, alles in
eine Reihe zu bringen und das Mannigfache als Stufe einer ein-
zigen Kraft aufzuweisen, in Folge dessen ein Abstreifen des Speci-
fischen, ein Umwandeln in ein Kosmisches, eine grossartige
Schhuswort 259
Synthese des Einzelnen zn einem allnmfassenden Weltbau; bei
KsLnt dagegen ein Geltendmaehen des Specifisehen und damit ein
Hervorkehren der Gegensätee, ein Auflösen des bis dahin einfach
Seheinenden in noeh einfachere Elemente, eine Zerl^ung der
Welt in letzte Factoren, deren Verbindung allerdings unbegriffen
bleibt. Während dort das Verschiedene einander über- und unter-
geordnet wird, beharrt es hier vorwiegend als ein nebengeordnetes.
Von allem dem hat unser Begriffssystem aufgenommen, sollte es
dabei die innere Einheit vollständig bewahrt haben?
Femer entspringen Schwierigkeiten aus dem Verhältniss von
Ausdruck und B^riff. Die Neuzeit fand eine vollständig aus-
gebildete Terminologie vor, liess davon freilich manches fallen,
aber behielt doch wichtiges und wesentliches bei, um so mehr
da man sich des Neuen zu Anfang nicht klar bewusst war und
das EigenthOmliche aus manchen Gründen sehr langsam zur Aus-
prägung brachte. So ward das Neue in das Alte hineingedeutet
und damit mannigfacher Verwirrung der Zugang geöffiiet. Femer
machten innerhalb des Granzen verschiedene Bichtungen auf den-
selben Platz Anspruch, so dass sich sehr abweichendes ineinander
und durcheinander schob. Daher kommt es, dass sich Begriff
und Ausdruck recht häufig nicht decken, sowie dass die Aus-
drücke fbr die thatsächlich vorhandenen Begriffe weitaus nicht
genügen. In einem Ausdruck trifft oft eine ganze Anzahl von
Begriffen zusammen, und wir haben überhaupt weit mehr und
weit eigenthümlichere Begriffe als es nach der sprachlichen Be-
zeichnung scheinen könnte. Das alles brachte weniger Gefahr
mit sich, so lange noch die Begriffe bei aufsteigendem geistigen
Leben in ihrem Unterschiede von frühem Gebilden und in ihrer
Eigenthümlichkeit im Verhältniss zu Gegentheiligem energisch und
klar vorgestellt wurden; sobald aber darin eine Aenderung eintrat,
musste die Unangemessenheit von Inhalt und Form mannigfache
Hissstände bewirken.
Solche Missstände aber wurden gesteigert durch die Hast und
Unruhe des modernen Lebens, welche die Zeit zum Ausdenken
der Begriffe nicht mehr gestattet, die Zersplitterung der geistigen
17*
260 Schlasawort.
Thätigkeit nach verschiedenen Einzelrichtungen, welche das Streben
nach Verständigung zurückdrängt, sowie vor allem durch die
Sucht, die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung zu einer
unmittelbaren Mittheilung und Verwendung im allgemeinen Leben
zu bringen. Denn wenn dieser Zweck yorantritt, muss schliess-
lich das Denken auch innerlich herabgedrttckt werden ; die Bolle,
in welche man sich fortwährend einzuleben strebt, wird endlich
zur Natur, so dass man auf eben dem Niveau denkt, zu dem
man anfänglich hinabsteigen wollte. Dass aber bei solchem Sinken
die Begriffe besonders zu leiden haben, ist einleuchtend. Denn
nicht an ihnen, sondern an ^en Ergebnissen, an möglichst greif-
baren, sinnföUigen Ergebnissen liegt- den weitem Kreisen.
Die Folge von dem allen ist die Verwirrung in den Be-
griffen, von der wir uns durchgehend überzeugen mussten. Die
Gefahren derselben sind nicht gering. Die Grcmeinsamkeit des
geistigen Lebens wird erschüttert, und indem wir uns über die
wichtigsten und innerlichsten Probleme nicht mehr verständigen
können, droht der Einzelne sich mit dem Kern seines Wesens zu
isoliren und das Granze sich zu veräusserliehen, |ras einen raschen
Verfall des geschichtlichen Lebens zur Folge haben müsste.
Noch grössern Problemen und Gefahren begegnen wir aber,
wenn wir den Blick der Beschaffenheit der Begriffe zuwenden.
Freilich müssen wir dabei noch einmal hervorheben, dass uns
sowohl eine Kritik der wissenschaftlichen Specialarbeit hier fem
liegt, als auch ein vollständiger Querschnitt des zeitgenössischen
Lebens nicht gegeben werden kann , sondern dass unser XJrtheil
sich allein auf die vorwaltenden Biehtungen bezieht, welche am
meisten Einzelkräfte zur Gesammtwirkung verbinden und die
geistige Bewegung direct und indireet bestimmen.
Bei diesen Biehtungen lässt sich freilich eine grosse Regsam-
keit nicht verkennen, ein Streben, die leitenden Gedanken nach
allen Seiten zu verfolgen und an jedem einzelnen Punkte zur
Geltung zu bringen. Aber was die Ausführung anbelangt, so ist
in den allgemeinen Begriffen von Welt und Leben ein Mangel
an strenger Consequenz und systematisch ausbauender Kraft
' j
Schlusswort. 261
imyerkeimbar. Man tritt in eine Bewegung ein, um das naive Welt-
bild zu einem wissenschaftlichen umzuformen, gewisse Elemente
werden festgestellt, Richtungen eingeschlagen, aber nun wird nicht
zu Ende gedacht, sondern man bricht mitten in der Thätigkeit
ab und kehrt rasch zu dem Ausgangspunkte der naiven Welt-
ansicht zurtlck, die man nun aber betrachtet, als sei sie durch
die wissenschaftliche Arbeit gewonnen und rechtfertigt. Die an-
gewandten Erklärungen, die in dem Fortgange vielleicht hätten
vertieft, erweitert, ergänzt werden müssen, gelten nun in der
ersten Fassung als vollständig ausreichend; wer über sie hinaus-
gehen möchte, scheint sich der „Wirklichkeit" entgegenzustellen
und die Forschung in scholastische Künstelei zu verwandeln.
Dabei wird dann leicht etwas als endgültige Bestimmung hingestellt,
lediglich weil es den allgemeinen Empfindungen, dem Zeitbewusst-
sein als selbstverständlich erscheint; es entsteht die Grcfahr, dass
unklare Strebungen und wissenschaftliche Gestaltungen vermengt
werden, und dass eben die Gewissheit, welche fftr den wesentlichen
Inhalt der Postulate Anwendung findet, auch fllr die specifischen,
wissenschaftlich oft unreifen Ausführungen beansprucht wird.
Durchgehend sehen wir also die Selbstständigkeit vertiefen-
den und systematisch ausbauenden Denkens gegenüber der ersten
Erscheinung in Frage gestellt, was seinerseits wieder auf die
Grundtendenz hinweist, das Geistige der substantiellen Bedeutung
im Weltgeschehen zu berauben und alle Begriflfe und Ueber-
zeugungen unter möglichster Eliminirung des Geistigen zu bilden.
Dem entsprechend musste dann alle Thätigkeit, welche der Geist
an dem Empfangenen vornimmt, als willkürliche und entstellende
Zuthat gelten, die zu entfernen sei, wenn man zu einer objectiven
Wahrheit vordringen wolle. Wo aber diese Tendenz zur Herr-
schaft gelangt, muss schliesslich centrale Einheit und fundamentale
Begründung des Begriflfssystemes verloren gehen, die Vertiefung
zu den letzten Principien hin in Gefahr kommen und bei dem
Fehlen eines die Totalität umfassenden Strebens das jetzt eben
Obenanstehende sich des gesammten Gebietes gewaltsam zu be-
mächtigen suchen.
262 SchluBswort.
Punkt für Punkt bemerkten wir ein daraus hervorgehendes
Sinken der Begriffe, weniger freilich insofern sie in der con-
creten Arbeit verwandt werden, als soweit sie dem allgemeinen
Bewusstsein gegenwärtig sind. Denn es ist einmal heute die
Lage derartig, dass wir in Wahrheit viel mehr besitzen und
thätig verwenden, als wir zu haben glauben, sobald wir zu
reflectiren beginnen. Werfen wir, statt sehon gesagtes ausführlich
zu wiederholeo, nur einen Blick auf die Art, wie sich die eausale
Forschung in unserem Bewusstsein spiegelt. Als einzige Art der
Gausalität gilt von vom herein der Mechanismus; die Voraus-
setzungen und Bedingungen, an welche er gebunden ist, finden
keine Beachtung ; die vielen Frageo, wofür er keine Antwort hat^
gelten nicht etwa als ofihe, sondern als positiv im verneinenden
Sinn entschieden; der Punkt, wo er mit der Forschung aufhört,
bildet den Schluss des Ganzen, als ginge da die Welt zu Ende,
wo wir zu forschen müde werden. — Dazu wird diese Art der
Erklärung auf das geistige Gebiet mit einer Zuversicht übertragen,
als handle es sich um etwas selbstverständliches, während jene
Ausdehnung ihrer Möglichlichkeit nach eine principielle Auf-
fassung des geistigen Lebens voraussetzt, die seit Jahrtausenden
in Streit steht. Und bei aller dieser Steigerung der Ansprüche
fehlt es an einer sichern Begründung und innerlichen Recht-
fertigung der causalen Verknüpfung selber ganz und gar. Wie
das Ergebniss eines subjectiv- psychischen und von aussen be-
dingten Processes — denn mehr ist die Gausalität der gewöhn-
lichen Auffassung nicht — zu einer objectiven und universalen
Verwendung im Weltall kommen und selbst eine erdrückende
Macht gegenüber dem Geist erlangen soll, bleibt vollständig im
Dunkeln.
Aehnliche Erscheinungen finden wir bei den andern Begriffen,
und zwar fast noch mehr als auf theoretischem, auf praktischem
Gebiet: überwiegend Veräusserlichung, Verengung, Mangel an
innerer Begründung und Rechtfertigung, ohne dass deswegen in
den Ansprüchen irgend etwas nachgelassen wäre. Man könnte
daher sagen, das geistige Leben der Gegenwart habe einen Inhalt,
Schlnsswort. 263
dessen Prämissen ersehüttei-t sind, oder wenigstens im allgemeinen
Bewusstsein nicht festgehalten werden.
Im weitem aber trat ein principieller Gegensatz zwischen
den Begriffen auf theoretischem und praktischem Gebiet hervor.
Für die theoretische Auffassung der Welt war in der Neuzeit von
Anfang an massgebend die wissenschaftliche Begreifung der Aussen-
welt, der Natur ; selbst bei den Idealisten stellt sich meist die con-
creto Beschaffenheit der letzten Principien und Begriffe als durch die
Analogie der Physik bestimmt heraus, die neuere Philosophie ist
ihrem Wesen nach eine universelle Mathematik und Physik, worin
das Menschliche überhaupt und noch mehr das Individuelle einen
äusserst bescheidenen Platz einnimmt Dag^en findet auf prak-
tischem Gebiet ebenso durchgehend eine Werthschätzung des
Geisteslebens statt, welche das Geistige als das Wesentliche und
Grundhafte in der Welt voraussetzt. Auch die Philosophen, welche
in rein theoretischer Forschung empirisch-inductiv verfahren, fassen
auf praktischem Gebiet den G^ist als einen Idealbegriff, bestimmt
durch einen Vemunftinhalt und eine an sich werthvolle, allem
Aeussem überlegene Innerlichkeit. Von hier aus ist unser prak-
tisches Leben auch thatsächlich gestaltet, in Becht, Gesellschafts-
leben, Erziehung u. s, w. liegt diese Schätzung des Geistes, wenn
auch oft unbewusst, zu Grunde. So steht Wissenschaft und Leben
in einem offenbaren Zwiespalt Wir können theoretisch das nicht
rechtfertigen, von dem wir praktisch nicht lassen wollen und
können. Nach dem allen sind es nicht etwa nur um ihre Systeme
besorgte Philosophen oder Theologen, die in dem gegenwärtigen
Zustande Probleme und Widersprüche aufstöbern, sondern jeder
Mensch, der sein Leben denkend vertieft, muss sie in sich un-
mittelbar empfinden und durchkämpfen.
Wo sich aber im geistigen Gesammtlßben Veräusserlichung
in den Principien und dazu ein Widerspruch zwischen Lehre und
Leben herausstellt, da darf man wohl von einer Krise reden, und
da ist jedenfalls die Wissenschaft im Becht, wenn sie die Grund-
lage des Ganzen einer Kritik unterwirft Gerathen wir einmal
iu den Zweifel hinein, so müssen wir nothwendig auf die
264 SchlusBwort.
Principien der Neuzeit selber zurückgehen. Denn dass die gegen-
wärtige Krisis ihren Grund in der ungenügenden Ausffthrung dieser
Principien habe, wird bei der staunenswerthen geistigen Kraft,
die für die Gestaltung derselben verwandt ist, nicht wohl behauptet
werden können? Wer möchte sich unterfangen, die Aufgabe zu
lösen, welche dem Geist eines Leibnitz Trotz bot? Noch ver-
kehrter ist es, die Schuld des Ganzen auf Ausschreitungen und
Irrungen einzelner Personen oder Parteien zu werfen, denn wie
kam es, dass dieselben eine so grosse Macht erlangten und die
Wahrheit ihnen gegenüber so schwach war? Der eine mag zu
dem Ergebniss mehr durch das beitragen, was er thut, der andere
durch das, was er unterlässt, Schuld und Geschick ist beiden ge-
meinsam.
Der gegenwärtige Zustand ist freilich verschieden von dem
geistigen Höhepunkt der neuern Zeit*), aber er hat sich von ihm
aus doch in causalem Zusammenhang entwickelt und nur das
zum Ausdruck gebracht, was ursprünglich angelegt war. Wie
war die Veräusserlichung möglich, wenn das Innere fest begründet
war, wie konnte die Werthschätzung der Vernunft in Zweifel
gerathen, wenn sie ursprünglich eine sichere Stellung hatte, wie
ein Zwiespalt hervortreten und mächtig werden, wenn er nicht
von Anfang an in den Principien vorhanden war?
So sehen wir uns immer wieder auf eine unbefiangene Wür-
digung und Kritik dieser Grundprincipien selber hingewiesen.
Es ist vor allem noth wendig, die Selbstzufriedenheit innerhalb
des eignen Lebenskreises, den Glauben an die AUgenugsamkeit
der eignen Principien nicht dogmatisch zu verfestigen und die
*) Schon darin liegt ein wesentlicher Unterschied, dass damals sowohl
andere Lebensmächte, vor allem das Christenthnm , noch kräftiger neben
den neuen Principien fortwirkten, als auch dass die beiden Glieder des
Gegensatzes, dem wir durchgehend begegneten, sich noch gewachsen waren
und eich in dem Aufeinanderwirken gegenseitig steigerten und vertieften.
Der Idealismus ist nun zwar nicht widerlegt, wohl aber im allgemeinen Leben
auf ein immer engeres Gebiet eingeschränkt. Nachdem also Ergänzung
und Kampf fortgefallen, musste freilich ein Sinken eintreten.
Schlusswort. 265
Orthodoxie, als eine Ueberliebung unserer Vernunft, nicht nur bei
andern Lebensformen, sondern auch bei sich selber zu bekämpfen.
Aber wenn wir die Probleme der Gegenwart in dem historisch-
genetischen Zusammenhange erfassen, und erkennen, dass das-
jenige, was uns jetzt bewegt, aus dem Grundstreben der Neuzeit
sich gestaltet hat, und wenn wir uns femer überzeugt halten,
dass dieses Streben innerhalb der Gesammtgeschichte unvergleich-
liches geleistet und Ergebnisse hervorgebracht hat, auf die auch
der entschiedenste Gegner nicht verzichten möchte (wie z. B. die
exacte Wissenschaft, die Culturentwicklung und die Anerkennung
der Individualität), wenn wir uns dieses alles gegenwärtig halten,
so wird eine Kritik nicht möglich sein, ohne zugleich die Grösse
und Fruchtbarkeit der neuem Principien hervortreten zu lassen
und ohne über den kleinlichen Streit der Parteien zu erheben.
Ob . der eine sich als Freund, der andere als Feind jener Principien
aufwirft, ist für die Sache vollständig gleichgültig, denn es handelt
sich hier um weltgeschichtliche Mächte, welche von Willkür und
y^ Meiniyag der Individuen und Parteien unabhängig sind; nur das
kann in Frage stehen, ob jene Principien den ganzen Lebensinhalt
der Menschheit erschöpfen, und ob sie nicht der Aufnahme in
einen grössern Zusammenhang bedürfen, um in ihrer ursprüng-
lichen Reinheit, Tiefe und Kraft sich behaupten zu können.
f
VERZEICHNISS
der
behandelten Begriffe und BegriffswOrter.
Angeboren 73 ff. 75.
A priori (a posteriori) 69 ff.
Bildung 194.
Causa finalis 169.
Gausal 155.
Gausalität 155.
Christliche Philosophie 84.
Cultur 185 ff.
Oulturstaat 186.
Dualismus 96 £f.
Empirie 28.
Entwicklung 132 fif.
Erfahrang 28 ff. 30*).
Evolution 153.
Exact 125.
Explicatio 133.
Folge 155.
Fortschritt 191.
Genetisch 135 ff.
Gesetz 115 ff.
Grund 155.
Humanität 216 ff.
Ideal 226.
Idealist 226 ff.
Idee 224 ff.
Ideenassociation 225.
Immanent 79 ff.
Individuell 201.
Individuum 200 ff.
Induction 31.
Inductiv 3t.
Innatus 73, 75.
Innere Erfahrung 45.
Kosmos 82.
Kosmisch 82.
Materialist 97.
Mechanisch 156 ff.
Metaphysik 60 ff.
Mikrokosmus 202.
Monade 203.
Monismus. 96 ff.
Objectiv 1 ff.
Objective Vernunft 10.
Optimismus 236 ff.
Organisch 156 ff.
Organische Staatslehre 165.
Pessimismus 236 ft\
Primäre (secundäre) Qualitäten 7.
Princip 155.
Real 226.
Subjectiv 1 ff.
Tabula rasa 74.
Teleologie 169.
Thatsache 54.
Theodicee 239.
Transscendent 79 ff.
üeberweltlich 82.
Ursache 155.
Terification 54.
Wirklich 75.
Wirklichkeit 75.
Zweck 169 ff.
*) Nach Prantl, „lieber die zwei ältesten Gompendien der Logik in deutscher Sprache"
S. 32 kommt Erfithrung als Uebersetzung von induetio schon in den deutschen Rhetoriken
vor, die seit den letzten Jahrzehnten des 15. Jahrh. erschienen.
^
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GESCHICHTE UND KRITIK
DER
VON
RUDOLF EÜCKEN,
PROFESSOR IN JENA.
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LEIPZIG
VERLAG VON VEIT & COMP.
1878.
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